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Die Poesie als Magd des Staatssicherheitsdienstes

Von Jochen Hecht. Beitrag für die Internationale DDR-Forschertagung in Weimar, November 2005

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In den Monaten Oktober/November 1989 begannen die Aktenvernichtungsaktionen in den Dienststellen des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Die Genossen Tschekisten waren aufs Höchste verunsichert und auf eifrigste bemüht, die in kilometerlangen Aktenbeständen vorhandenen aktuellen Nachweise über die nunmehr als verfassungswidrig erkannten Zeugnisse der Tätigkeiten des Staatssicherheitsdienstes zu vernichten, aber darüber hinaus auch andere Unterlagen, deren Inhalte mit Ausbildung, Schulung, Information zu bezeichnen wären. Allerdings konnten die in mehreren zentralen Weisungen vorgegebenen Vernichtungsprioritäten nicht wirklich realisiert werden. Entschlossene Bürgerinnen und Bürger besetzten die Kreisdienststellen, die Bezirksverwaltungen und letztlich am 15. Januar 1990 den beängstigend großen Dienstkomplex Normannen-/Ruschestraße des Ministeriums für Staatssicherheit selbst.

So sind in den ca. 16.500 laufende Meter überliefertem Schriftgut aus den Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit auch Unterlagen aufgefunden worden, die in den hektischen Tagen und Wochen des Zusammenbrechens des Staatssicherheitsdienstes offenbar nicht im Brennpunkt der Vernichtungsaktionen standen und daher auch in keinem Befehl oder sonstigem Handlungshinweis genannt wurden. Diese Unterlagen lassen über mehrere Jahrzehnte auch Einblicke darüber zu, wie in dem besonderen inneren Kosmos des Staatssicherheitsdienstes die Intentionen der SED über die Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens aller Werktätigen in der DDR umgesetzt wurden. Die Partei war ja immer bestrebt, nicht nur die materiellen Grundlagen des Sozialismus zu schaffen, sondern den Menschen selbst zu einer Art sozialistischem Gesamtkunstwerk zu erziehen. Dabei sollte das Volk mit der Kultur und die Kultur mit dem Volk vereint werden. Unter den wachsamen ideologischen Augen der Partei war für diese Aufgabe der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund, der FDGB, vorgesehen, der durch die Gründung und Finanzierung diverser Laienzirkel in den Betrieben und Verwaltungen sich an der Erziehung der Werktätigen zu allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten versuchte.

Auch andere Massenorganisationen waren an der Vermittlung von Kunst und Literatur beteiligt, so die Freie Deutsche Jugend (FDJ) durch die Singebewegung, der Kulturbund der DDR und die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF). Diese kulturelle Massenbewegung vollzog sich nicht in einem kontinuierlichen Prozess, in ihr fanden sich in unterschiedlichen Ausdrucksformen auch die Widersprüche und Ungereimtheiten, die ganz grundsätzlich die Kulturpolitik der SED in vierzig Jahren bestimmten. So seien nur genannt der „Bitterfelder Weg“ und sein Ende, die angestrebte Sozialistische Menschengemeinschaft und die Entfaltung einer Sozialistischen Nationalkultur.

Das MfS war Schild und Schwert der Partei und so nimmt es nicht wunder, dass auch in diesem Staatsorgan im Grundsatz die gleichen Aktivitäten zur kulturellen Erziehung und Betätigung der Werktätigen – hier der Genossen Tschekisten – zu bemerken sind, wie in den anderen Organen des Staates und in den Betrieben der Volkswirtschaft.

Die überlieferten und bisher erschlossenen Stasi-Akten zum Komplex „kulturelle Massenarbeit“ geben Einblicke in diese Sphäre der tschekistischen Existenz ab dem Jahre 1960. Es ist keine geordnete Überlieferung - Vorgänge, Einzelschriftstücke, Manuskripte sind ohne inneren Zusammenhang in verschiedenen Aktenfragmenten überliefert, teilweise aber auch aus einem vage erkennbar ehemals vorhandenen Zusammenhang gerissen. Es kann nicht überraschen, dass die Mehrheit der Unterlagen aus der Überlieferung der SED-Kreisleitung stammt. So beweist diese Provenienz, dass die Partei die Grundsätze der Kulturarbeit bestimmte, eine Tatsache, die selbstverständlich war und erkennbar nie in Frage gestellt wurde.

Im MfS gab es eine Vielzahl von Zirkeln und Arbeitsgemeinschaften des Künstlerischen Volksschaffens. Genannt seien hier die Zirkel Schreibender Tschekisten, die Singegruppen, Kabarettgruppen, Zirkel Filmender Tschekisten, Numismatiker, Philatelisten, Fotographen, und Zirkel des künstlerischen Volksschaffens, worunter man Töpferei, Batiken, Holzschnitzarbeiten u. ä. zu verstehen hat. In einem Aktionsplan zum 40. Jahrestag der DDR nannte die Kreisleitung Berlin 10 des Kulturbundes – dahinter verbarg sich das MfS – in schöner Offenheit die Ziele, die mit dem kulturellen Schaffen der Genossen erreicht werden sollten und wer letztlich das Sagen auf diesem Gebiet hatte. So hieß es, dass in Verwirklichung der von der SED-Kreisleitung beschlossenen langfristigen Konzeption für die Parteiarbeit der weiteren Entwicklung des geistig-kulturellen Lebens in den Arbeitsgemeinschaften und Fachgruppen noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken ist. Und als wahrlich anspruchsvolle Aufgabe wird genannt, dass durch eine ständige Ausstellung von Exponaten des künstlerischen Schaffens die „ganze Breite der politischen, ökonomischen und kulturellen Ziele, Aufgaben und Ergebnisse der Politik unserer Partei und Regierung“ zu verdeutlichen ist. Und da man im MfS ist, muss noch ausdrücklich genannt werden, dass durch die Exponate „…die Unterstreichung der Sicherheitspolitik und die Rolle der bewaffneten Organe…“ zu erfolgen hat und letztlich gilt es „die 40jährige Entwicklung der Republik, ihre historischen, politischen und ideologischen Grundlagen, Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen sowie ihre Traditionen darzustellen.“1 Wenn man sich erinnert, dass dies alles im Jahre 1989 stattfinden sollte, kann nur vermutet werden, dass die gesellschaftliche Realität in diesen Ausstellungen offenbar nicht gefragt war.

Im mehreren Aktenfragmenten sind zahlreiche Nachweise des poetischen Wirkens von hauptamtlichen Mitarbeitern des MfS ab dem Jahre 1960 überliefert. Zur Erinnerung, die Erste Bitterfelder Kulturkonferenz fand 1959 statt, der „Bitterfelder Weg“ war geboren und nicht nur die Kumpel griffen zur Feder, sondern auch einige vorwiegend jüngere Tschekisten. Diese Überlieferung ermöglicht Einblicke in das Denken und Fühlen eines dichtenden Individuums und es ist einen Versuch wert herauszufinden, ob sich vielleicht das poetische Ich im MfS gegen die ideologische Indoktrination wehren konnte und sich damit einfügte in ähnliche misstrauisch beobachtete Entwicklungen bei den anderen Dichtern und Literaten des Landes. Durch die Unterlagen erhält man aber auch Einblicke wie im MfS die poetischen Werke zugänglich gemacht wurden, bei welchen Gelegenheiten das poetische Talent vorsprechen und Festveranstaltungen bereichern durfte.

In einigen schlagwortartig bezeichneten Komplexen soll der Versuch einer Analyse unternommen werden. Ausdrücklich ausgenommen ist aber eine Wertung des dichterischen Wertes einzelner Hervorbringungen. Wenn man schon etwas dazu sagen will, die Gedichte sind epigonenhaft und unterscheiden sich damit sicherlich nicht von poetischen Hervorbringungen anderer Zirkel Schreibender Arbeiter. Es fällt auf, dass oft freie Rhythmen verwendet werden, die ja bei erstem Anschein einfacher zu bewerkstelligen sind als gebundene Versformen. Eine Namensnennung der Autoren erfolgt nicht, die Vor- und Zunamen werden mit den jeweils ersten Buchstaben bezeichnet. Die überlieferte Grammatik und Gliederung der Gedichte wurde beibehalten.

Lyrik-Abend des MfS 1961

Eine erste nachweisbare Auswirkung der Bitterfelder Beschlüsse findet sich in Unterlagen aus dem Jahre 1961. Aus der Bezirksverwaltung Berlin des MfS beteiligten sich eine Genossin und zwei Genossen am 2. Lyrikabend des MfS. In kurzen Vermerken erfährt man einiges über diese dichtenden Mitarbeiter. Die Genossin R. H. ist 30 Jahre alt, seit 1951 im „Organ“, also dem MfS, und hat sich offenbar ab 1960 auf den Bitterfelder Weg begeben, d. h., sie hat mit dem Dichten begonnen. Sie arbeitet im Kabarett des Volkskunstensembles mit und will künftig verstärkt dichten, rezitieren und Szenen für das Kabarett schreiben. Da die Genossin H. immerhin eine Kontur bekommen hat, soll sie poetisch zu Worte kommen. Mit der Überschrift „Darum“ beginnt ihr Werk:

"Am Fenster steh’ ich und schau auf
die große Stadt,
die nun am Abend vieltausend helle Lichter hat,
die Nacht schickt den lärmenden Tag zur Ruh’
die Kinder träumen, und irgendwo
ein helles Gelächter –
eine Tür schlägt zu.
Ein Tag und ein Abend, wie viele im Jahr…."

(nachdem in weiteren Versen die friedliche Arbeit, der Plan, das Kindersingen, die Träume der Alten, der Parteiauftrag zur Sicherung von Ruhe und Frieden besungen wurde, verrät uns G. H. am Schluss, warum ihr Gedicht „Darum“ heißt)

"Der Schutzwall ist stark und die Macht haben wir
Wir wissen – der Feind ist gefährlich – doch sind wir
bereit das Leben zu wagen
zu wagen gegen das Böse, gegen das Morden und Kriegen!
Es wird zur Gewissheit
Vaterland – Frieden – Sozialismus
Wir siegen!"
2

Über die beiden anderen dichtenden Genossen aus Berlin erfährt man folgendes:

"K. R. ist 29 Jahre alt, seit 1955 im Organ und schreibt seit etwa zwei Jahren. Pläne für die Zukunft bestehen im Augenblick nicht. Es fehlt die Zeit, Pläne zu machen (!) oder zu schreiben."

"Genosse H. K., 35 Jahre alt, seit 1954 im Organ. Schreibt bereits seit einigen Jahren Gedichte und Szenen. Für die Zukunft sind weitere Gedichte, Szenen für Kabarett evtl. Texte für Songs vorgesehen. Die Vollendung hängt dabei von der Zeit ab…"3

Die zwei Gedichte, die in dieser Akte vorliegen, stammen zwar von diesen beiden Genossen, sind aber nicht einem konkret zu zuordnen. Das eine heißt „Unsere Front“ und klärt über den imperialistischen Gegner auf:

"Listig
und skrupellos
sind sie –
und gegen uns,
sie,
die über Millionen verfügen,
gestohlen
den Millionen."

Am Schluss heißt es dann prophetisch (allerdings hatte am Ende der DDR dann mehr die eigene Bevölkerung Schwierigkeiten mit dem Atmen):

"Front gemacht
gegen die Räuber!
Schwach
wollen sie uns sehen.
Machen wir stark uns!
Wenn unsere Schlote rauchen,
haben sie
schlecht zu atmen.“
4

Das andere Gedicht nennt sich Kundschafterlied und hebt an:

"Dies Lied sing ich ganz gewöhnlichen Leuten,
die Leben zur Zeit im Abendland.
Wir nennen sie Kundschafter des Friedens,
die sind weder mir noch denen bekannt."

Dies ist nun weder inhaltlich noch dichterisch bemerkenswert. Aber eine Spur von Zensur ist schon bei dieser braven Lobpreisung des tapferen Kundschafters spürbar. Nachdem die erfolgreiche Rückkehr des Kundschafters gefeiert und Brüderschaft getrunken wird, wurden die nachfolgenden Verse gestrichen, es war wohl des Alkohols zuviel:

„Wir stoßen an mit sowjetischem Wodka….“5

Diese (bisher) ersten überlieferten Gedichte sind plakativ und versifizieren im Grunde die Leitartikel des Neuen Deutschlands, des Zentralorgans der SED, aus dieser Zeit. Ein Überlieferungsstrang ist aber schon erkennbar, die Heroisierung der Kundschaftertätigkeit im westlichen Ausland, die natürlich stärker die dichterische Phantasie anregte als die tägliche Arbeit an den Menschen in der DDR selbst. Dazu finden sich bisher kaum poetische Verklärungen, geschweige denn kritische Auseinandersetzungen.

Werkstatttage singender und schreibender Tschekisten

Aber nicht nur den dichtenden Tschekisten galt die Aufmerksamkeit des MfS, sondern auch ihren singenden Schwestern und Brüdern. So fanden dann gemeinsame Werkstatttage statt, so die „Werkstatt 74“, deren Programm eine ideologische Handreichung enthält, und ein Interview mit dem Leiter oder Gründer des Singeklubs. Man erfährt daraus, dass der Arbeitskreis "Singegruppen" auf Beschluss des Sekretariats Kreisleitung MfS der FDJ am 10. November 1972 gegründet wurde.6

Der Interviewte erklärt den Fragenden das Anliegen des Arbeitskreises: "Kurz gesagt geht es um die ständige Erhöhung der politisch-ideologischen, propagandistischen und künstlerischen Wirksamkeit unserer Singegruppen, um die lebendige Propagierung unserer Weltanschauung, um die Förderung der ästhetischen Bildung und kulturellen Selbstbetätigung unserer FDJ-Mitglieder."7 Der Arbeitskreis sei – oder sollte es werden – ein echtes „Konsultierungs- und Anleitungszentrum“. Allerdings nehmen nur einige Singegruppen des MfS diese Möglichkeit wahr. Ob sich hinter dieser gleichgültigen Haltung zur Anleitung (und natürlich auch Kontrolle) ein Widerstreben gegen zuviel Bevormundung verbirgt, sei dahingestellt.

In fünf Thesen zur "Werkstatt 74", unter dem Motto "Das Lied im Klassenkampf", werden ideologische Forderungen genannt – "nicht als Dogma, nicht als fertige Sache, sondern um eigene Überlegungen in Gang zu setzen"8. Die Ziele waren aber so formuliert, dass einem klassenbewussten Sänger und Dichter des MfS keine Diskussion möglich war, ohne in den Geruch ideologischer Abweichungen zu geraten. So wird dekretiert:

"1. Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen (Karl Marx). Anders ausgedrückt: Alles, was wir tun, hat mit Klassenkampf zu tun. Also ist es notwendig, Funktion und die Position unserer Lieder im Klassenkampf zu bestimmen.

2. Wenn alles das, was wir tun, Klassenkampf ist, so ist das jedes Lied, das alte Volkslied ebenso wie ein neuzeitliches Chanson über die Liebe. Dabei stehen Lieder, die mit Klassenkampf zu tun haben, Machtverhältnisse widerspiegeln, im Mittelpunkt unserer Bemühungen.

3. Die FDJ-Singebewegung ist bemüht, die Revolution unserer Tage widerzuspiegeln und mit zu betreiben. Maßstab für den Erfolg der Singebewegung ist, wie das gemeinsame Singen zum natürlichen Bedürfnis immer mehr Jugendlicher wird……."9

Ein diesem Programm beigefügtes Gedicht des Genossen G. M. verkörpert offenbar den Zusammenklang zwischen Klassenkampf, der Revolution unserer Tage und künstlerischem Ausdruck. Es nennt sich „Marusja“ und ist zu allem Überfluss auch noch ein Loblied auf die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion:

"Und der Lenin-Komsomolzkongress der tagte grad im Mai
und es war ne Delegation unserer FDJ dabei

Komsomolbrigaden haben in drei Jahren schon vollbracht
was ein Hirn aus Elektronen sich für fünfe ausgedacht

In Sibirien haun Brigaden schon die nächste Schneise ein
bei der Jungfernfahrt mein Lieber wirst Du sicher Fahrgast sein

Bei der Übung im Gelände treff ich Mischa den Sergeant
der im Mai  als Delegierter selbst am Rednerpulte stand

Und er zeigt mir stolz ein Foto das man niemals mehr vergisst
und seitdem sind wir im Bilde wer Marusja wirklich ist."
10

Aus dem Jahre 1983 sind Unterlagen der 13. Werkstatttage überliefert, die einen Einblick in die ideologischen Forderungen und Erwartungen der Partei vermitteln, aber auch über bestimmte Sonderentwicklungen im Bereich des Dichtens und Singens. Das übergeordnete Motto der Veranstaltung „ Unser Singen muss ein Kämpfen sein“ erinnert unwillkürlich an Losungen, die in den Liederbüchern der Hitler-Jugend zu vermuten wären und wenn dann schon vor der Veranstaltung festgelegt wird, dass von den Werkstatttagen erneut der Ruf „Im Namen der Menschheit, die weiterleben muss, weg mit dem Nato-Doppelbeschluss“ zu ertönen hat, dann ist vorstellbar, wie eine solche Veranstaltung unter der Fuchtel der Partei und ihrer ideologischen Beckmesser stand.11

Der Leiter einer Singegruppe aus der Hauptabteilung Personenschutz erklärt dann in einem „Foyergespräch“, welche Schlussfolgerungen die dichtenden und singenden Genossen aus den Beschlüssen einer damals stattgefundenen FDJ-Kulturkonferenz gezogen haben, nämlich „Wir wollen noch parteilichere, aufgabenbezogenere und überzeugendere Programme gestalten…. Mit unserem Programm wollen wir stärker an der Entwicklung der tschekistischen Persönlichkeitseigenschaften der FDJ-Mitglieder mitwirken und zu einer Atmosphäre beitragen, die das Schöpfertum und den Optimismus der Genossen zur Aufgabenlösung und zur Gestaltung der Freiheit fördert.“

Erfreulicherweise ist diesen Programm auch noch der Text eines Liedes beifügt, in dem alle Forderungen an Wachsamkeit und Parteilichkeit auf das trefflichste erfüllt werden. Der Text lautet:

"Wache – stehen, kontrollieren, grüssen und auch salutieren,
im Gelände tarnen, üben, schießen und entaktivieren,
gleiten, kriechen, vorwärtsspringen, dann beim Heimweg
Lieder singen und am Abend trinken wir auch einmal ein
kühles………

Diversanten, Dissidenten, Nazis, "BND"-Agenten, Menschen-
Händler, Saboteure, Lügenmärchenkonstrukteure und noch
manchem and’ren Schuft machen wir hier dicke Luft. Ist
der Frieden sicher hier, ja dann sind zufrieden wir.

Refrain:
Keiner hört uns, baba, keiner sieht uns, baba
keiner merkt uns, baba, mancher stört uns, baba, und was
der Klassenfeind sich ausgedacht, dass machen wir kaputt
über Nacht…"
13

Etwas frustrierend waren offenbar die Erfahrungen einer Folkloregruppe "Liederhort" Anfangs der 80er Jahre. Die Mitglieder dichteten offenbar nicht selbst, sondern verwendeten das Liedgut der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung, das nationale progressive Liedgutes „"unseres Volkes" und machten Anleihen bei der russischen und englischen Folklore. Allerdings fanden sie nicht das richtige Echo, sie wurden fast ausschließlich eingesetzt bei Vergnügungen und ähnlichen Veranstaltungen und mussten sich vorkommen wie Veteranen der Schlager- und Volksmusik, die am Ende ihres Wirkens Betriebsfeste und -jubiläen kulturell verschönen.

„Auf die Dauer befriedigt uns das nicht“, klagte das Kollektiv und erwartete sich offenbar Auftrittsmöglichkeiten bei größeren Festlichkeiten parteilicher und amtlicher Art.14

Im Jahre 1987 dann fanden im Mai die 17. Werkstatttage der MfS-Singegruppen statt. Veranstalter war wiederum die FDJ-Kreisleitung des MfS. In einer Konzeption vom Oktober 1986 wird überaus deutlich, mit welch völlig zerschlissenen, formelhaften und realitätsfernen ideologischen Forderungen solche Veranstaltungen belastet wurden. Schon die Sprache verrät den Erstarrungsprozess, der besonders in diesen Jahren - es war die Zeit von Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion, die internationale Lage hatte sich weitgehend entspannt – die Propaganda der SED bestimmte und zu ihrer Wirkungslosigkeit beitrug. Absurd und jede Kreativität tötend sind die Ziele, die mit dem Auftreten der singenden und dichtenden Genossen angestrebt wurden: Es geht darum, so wird u. a. aufgelistet:

"1. die Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass die Erhaltung des Friedens und die Beseitigung der Kriegsgefahr die wichtigste Aufgabe der Gegenwart ist. Mit den Liedern und Programmen erfolgt ein erneuter Aufruf, einen noch wirksameren Beitrag jedes einzelnen herauszufordern, dabei ist der Imperialismus als menschen- und friedensfeindliches System zu entlarven."15

Weiterhin sollen die Lieder und Gedichte nicht nur die Treue zur Arbeiterklasse und ihrer marxistischen-leninistischen Partei und die besonderen tschekistischen Traditionen dokumentieren, nein, auch die Erfordernisse der neuen Etappe der ökonomischen Strategie zur Verwirklichung der volkswirtschaftlichen Aufgaben und zur Erfüllung der Hauptaufgaben in ihrer Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sind durch Gesang und Rezitation zu verdeutlichen. Der Forderungskatalog schließt mit der Aufforderung, „stärker den Optimismus, die Siegeszuversicht und Lebensfreude zur Ausdruck zu bringen und dabei die geistigen Fragen unserer Zeit auf weltanschaulichem, politisch-ideologischem, ökonomischem, wissenschaftlichem, militärischem und kulturellem Gebiet in den Mittelpunkt der kulturpolitischen Programme und Lieder zu rücken, um noch wirksamer als bisher Aufgaben unseres tschekistischen Kampfes sowie das Leben der FDJ-Kollektive inhaltsreicher in den Mittelpunkt zu stellen.“

Zu fragen ist, ob dieser Forderungskatalog wirklich ernst gemeint war? Ein wirkliches poetisches Talent musste darob verstummen und sich Sujets außerhalb dieser Sphäre suchen.

Weiterhin fällt auf, dass die ganze Veranstaltung stärker durch „Beratergruppen“ kontrolliert wurde. Vorsitzender der zentralen Beratergruppe war der Sekretär für Agitation und Propaganda der FDJ-Kreisleitung, die Leitungen der FDJ-Grundorganisationen hatten Einfluss auf den Inhalt der Programme zu nehmen und diese mit den Leitungen der Partei-Grundorganisationen abzustimmen. Die schon einmal erwähnte „Kreisarbeitsgemeinschaft Singegruppen“ stellte für jede Gruppe einen Mentor zur Verfügung, der für die politisch-ideologische und politisch-künstlerische Einflussnahme, natürlich im Sinne der SED, zuständig war.

Aus diesem Programm erfährt man auch etwas über die Kosten einer solchen Veranstaltung, es waren knapp über 100.000 Mark der DDR eingeplant.

Anthologien

Die Jahrestage der DDR, immer Anlass zu Veranstaltungen größerer Art unter Beteiligung aller Künste, boten auch den dichtenden Genossen Gelegenheit, ihr Schaffen vorzustellen und innerhalb des MfS bekannt zu machen. Aus dem Jahre 1979 ist im Entwurf eine Zusammenstellung von 30 Gedichten und Zeichnungen eines Genossen G. Sch. überliefert, die dem 30. Jahrestag der DDR gewidmet war.16

Im Vorwort äußert sich der Autor über seine poetischen Absichten und kommt dabei zu erstaunlichen Erkenntnissen, zumindest für einen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes:

"Für den Leser sei noch bemerkt, dass ein Gedicht, gleich welcher Länge, immer nur einen äußerst kleinen Ausschnitt der dargestellten Wirklichkeit wiedergeben kann. … Es kann niemals Aufgabe eines Gedichtes sein, den aufgeworfenen Sachverhalt bzw. die Thematik, wie zum Beispiel geschichtliche und gegenwärtige Ereignisse, weltanschauliche Probleme, Erscheinungen des täglichen Lebens, Verhaltensweisen u. a. m., zu deren Darstellung umfangreiche Bücher notwendig wären, in ihrer Gesamtheit zu erfassen."

Gerade das wurde aber von den dichtenden Genossen gefordert, wie in der überbordenden Phraseologie der Veranstaltungskonzeptionen festgehalten ist.

G. Sch. hatte seine Gedichtssammlung in Gruppen gegliedert, die jeweils mit einem poetischen Satz eingeleitet wurden. So beginnt der erste Abschnitt mit den Worten:

"Gleichen wir in vielem
nicht dem Lande,
das uns immer uns’ re Heimat war?"

Die Titel der dann folgenden Gedichte lauten: Geboren 8. Mai '45, Brot vom Jahrgang '45, Buchenwald, Ehrenmal in Treptow, Jahrgang 49, Jahrestagsfeier, Oktoberpoem.

Es folgt dann u. a. der Abschnitt

"Denn das bringt
für alles Weit’ re
eine bess ’re
Dimension"

Besungen wird darunter ein Kraftwerk, eine Sauna, der Alexanderplatz in Berlin, der Regen, ein Herbstmorgen, der Besuch einer Baustelle.

Ein weiteres Sammelwerk nennt sich "Mensch, Soldat, Kommunist", Lyrik und Prosa schreibender Tschekisten und liegt ebenfalls im Entwurfsstadium vor. Eine Gliederung nennt Politisches, Antifaschismus, UdSSR, Arbeiterklasse, Liebe und Kinder, Soldatenalltag, Tschekisten, Ausblick.17

In dem Gedicht des K. N., ein sehr fruchtbarer Poet, wenn man die Anzahl der mit seinem Namen gezeichneten Verse zugrunde legt, schlüpft das poetische Ich in einen Jugendlichen, der zwar weiß, dass sein Vater Tschekist ist, aber nicht weiß, was das ist:

"Mein Vati ist Tschekist.
Noch werd ich nicht ganz schlau,
was er da alles ist,
doch eins weiß ich genau:

Er macht es sich im Dienst
zu keiner Stunde leicht
und freut sich jeden Tag
wenn er recht viel erreicht…

Er redet nicht drumrum
Sagt jedem ins Gesicht:
Wir ändern es vereint
und lamentieren nicht!

Kommt Vati abends spät
vom Dienst, schleicht er noch sacht
zu mir ins Zimmer und
wünscht mir  ne gute Nacht.

Das Telefon, das ruft
ihn manchmal ganz früh raus.
Danach kanns sein, er kommt
Gleich Tage nicht nach Haus.

Da muss ich dann ganz lieb
zu meiner Mutti sein.
Sie ist genau wie ich
nun mal nicht gern allein."
18

Soweit die dichterische Verarbeitung der Alltagsschwierigkeiten einer tschekistischen Familie.

In die Vorbereitung einer dem 40. Jahrestag der DDR gewidmeten Anthologie der Kreisarbeitsgemeinschaft „Schreibender Tschekisten“ platzten die Ereignisse des Herbstes 1989 in der DDR.

Sie hinterließen Spuren im Manuskript. Die Erstfassung "Schreibende Tschekisten" wurde gestrichen und ersetzt durch "Lyrikzirkel im Amt für Nationale Sicherheit", ein beinah rührendes Vertrauenszeugnis in das Weiterleben des Staatssicherheitsdienstes unter anderen Namen. Das Vorwort lautete ursprünglich: "Die Sammlung ist dem 40. Jahrestag der Gründung der DDR und der Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit gewidmet…" Dieser Satz ist gestrichen und jetzt soll die Sammlung nur noch Zeugnis ablegen "…von den Gedanken und Gefühlen, Motivationen und Haltungen unserer Zeit und unserem Kampf, von der Liebe zu unserer sozialistischen Heimat und der Verbundenheit mit den Werktätigen unseres Landes…"19

Aber auf dieses Zeugnis legte niemand mehr Wert und die Anthologie blieb ungedruckt und ungelesen.

Das Gedicht eines G. K., das der Sammlung den Namen "Mittendrin" gab, ist aber kein Ausdruck eines platten Optimismus, sondern vermittelt schon Nachdenklichkeit und Unsicherheit:

"Mittendrin in all den Kämpfen
"Fern auch im Colorgerät,
"Wo sie ihre Stimme dämpfen
"Tickt die Uhr von früh bis spät.

Mittendrin in deinen Freuden,
schlummert unsichtbar Gefahr,
Grinst, wenn wir die Zeit vergeuden,
Sammelt sich, wird plötzlich wahr.

Mittendrin in diesem Leben
Stehn wir grade, wie wir sind,
Schaffen, lachen, nehmen, geben,
Vieles sehend, manchmal blind."
20

Christliches

Erstaunlicherweise finden sich in den poetischen Überlieferungen auch Beispiele für die Nutzung christlicher Themen: Der schon genannte K. N. besang den Nikolaustag, wenn man auch zugeben muss, dass der christliche Hintergrund dieses Tages im Alltag der DDR kaum bekannt war.

In munteren Versen heißt es:

"Lieber, guter Nikolaus!
Alle Schuhe stell ich raus,
schön blankpoliert und reinlich.
Nun also sei nicht kleinlich.

Zwar bin ich sonst bescheiden.
Doch müsst ich drunter leiden,
wären nur für mich allein
wieder die Geschenke klein.

Will dir das nicht gefallen
und Du bringst diesmal allen
Kindern nur ne Kleinigkeit
Freut sich die Bescheidenheit".
21

Thematisch anspruchsvoller ist dagegen ein Gedicht von R. J., das unter dem Titel „Willkommen Marie“ die Gottesmutter und den Kreuzestod Jesu in Zusammenhang mit dem so genannten antiimperialistischen Kampf verklärte und dafür in Anspruch nahm.

"Für wie viele Tode
Musstest Du sterben
Grub sich der Gram der Söhne
In Dein Gesicht

Wie viele Male
Haben Sie deinen Sohn
Mit Dornen gekrönt
Ans Kreuz geschlagen

Wie oft Marie
Sahst Du sie auferstehn
All deine Söhne
Aus den Gräbern von Managua
Santiago Beirut

Wie oft Marie
Sahst Du im Brunnen
Das Blut Deines Sohns
Den Mut in seinem
Zerschlagenem Gesicht
Als riefe er seinen Schlächtern
Noch einmal
Sie wissen nicht was sie tun

Aber verzeihen Marie
Kannst du nicht mehr
Willkommen Marie
Salute"
22

Selbstverständnis

Die Jahrestage des MfS boten den poetischen Köpfen immer wieder Gelegenheit, in Versen ihr Tun zu verherrlichen und dessen Notwendigkeit lyrisch zu bekräftigen. Typisch für diese Art der Gedichte sind ihr Pathos, ihre ideologische Treue und schlichte Argumentation.

So heißt ein Gedicht eines A. B. aus dem Jahre 1983 auch direkt „Schild und Schwert“ und erinnert in einigen Formulierungen über Treue, Schwert und Schild unwillkürlich an die Hervorbringungen nationalsozialistischer Barden im 3. Reich.

"Tief aus der Erde holt der Mensch das Erz –
er bricht es aus der steingewordnen Sternenglut.
Mit seiner Kraft hebt er empor es sonnenwärts,
er zeichnet es mit seinem Schweiß und seines Herzens Blut….

So schmiedet er nebst Pflug auch Schild und Schwert,
die wehrhaft, fest und scharf und unbezwinglich sind,
die sicher wachen über Felder, Werk und Herd
und dass nie über der zerschossnen Mutter weint ein Kind.

Treu nehm ich auf das Schwert, den Schild aus Erz,
und aus der Väter Tat wächst dafür mir die Kraft.
Hin reich ich Dir, mein Land, mein volles rotes Herz –
auch Menschen, die ihr lernt und liebt und hasst, gemeinsam schafft."
23

Dichterisch weniger anspruchsvoll kommen Verse daher, die vom einem Genossen H. P. aus der Hauptabteilung XXII (Spionageabwehr) einem Jahrestag des MfS gewidmet waren.

In etwas klappernden Versen und schlichter Diktion heißt es:

"Um des Volkes Staate Sicherheit zu geben,
schuf man unser Kampforgan.
Und es ist sein höchstes Streben
zu sichern seinen Friedensplan…"

Nachdem dem Zimmermann und den Maurern, den Bauern und Wissenschaftlern und der jungen Generation in der Wiege der Schutz des MfS versprochen wurde, heißt es abschließend:

"Diesem edlen Ziele dienend
Kämpfen weiter wir, Genossen.
Jeder gleich, wo er auch sei,
Immer einig und geschlossen,
denkt daran: wir haben das Vertrauen
der Partei."24

An einigen überlieferten Gedichten werden interessanterweise auch die wechselnden Nuancen der Deutschlandpolitik der SED erkennbar. In den 50er und 60er Jahren gab ja immer noch – jedenfalls in den öffentlichen Verlautbarungen – Bestrebungen, die Einheit Deutschlands nicht aufzugeben, sondern auf sozialistische Weise und im gemeinsamen Kampf gegen die Imperialisten letztlich wieder zu gewinnen. In einem „Lied der Staatssicherheit“ wird dies deutlich, der Verfasser ist nicht genannt.

"Räder und Turbinen stampfen immer schneller,
mehr Kohle, mehr Stahl und Brot!
Die Kunst und die Wissenschaft blühen immer
Heller, sozialistisches Morgenrot…

Brüder, hört im Westen: Wollen uns vereinen,
im Handel, im Tanz und Lied:
Einheit gibt uns die Kraft, Kriege zu verneinen,
dass in Deutschland Glück und Frieden blüht.

Und drohen die Herren mit Revanche und mit
Bruderkrieg. Wir werden sie bezwingen:
Auf, Brüder, gemeinsam zum Sieg…"
25

Kundschafter

Eine große Faszination müssen bei den Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes diejenigen Genossen verursacht haben, die als „Kundschafter des Friedens“ im Operationsgebiet, also weitgehend im westlichen Ausland tätig waren. Dazu trug auch die Heroisierung dieser Personen – als historisches Vorbild wurde immer Richard Sorge genannt – im MfS selbst bei. So entstand ein Mythos um diese Kundschafter, der mit der realen Existenz und der Persönlichkeit dieser Kundschafter wenig oder nichts zu tun hatte. Besonders die Qualen der Einsamkeit im Feindesland scheinen die Poeten des MfS zu ihren lyrischen Verklärungen angeregt zu haben.

Knapp und rührend wird dies in dem Gedicht "Kundschafter" von U. G. zum Ausdruck gebracht:

"Hinterm Gitter der Verschwiegenheit
hungert Sehnsucht,
weinen Gefühle,
untergeordnet der Notwendigkeit.
Wissen,
nicht aus dem Gebetbuch gelesen,
macht das Zerren der Nerven überwindbar."
26

Der Genosse R. J. bedichtete auf diese Weise auch eine Person der Zeitgeschichte, nämlich Christel, die Gattin des Kanzleramtsspions Guilliaume, dessen Verhaftung Anlass zum Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler wurde. So heißt es:

"Wieviel Silberfäden wuchsen dir
In den schlaflosen Nächten
Als Du ruhelos
Alle Fenster aufgerissen hast
Den Atem spürtest
der fremden Stadt
Das unruhige Klopfen
des winzigen Herzens
Das Antennenpuckern
in der engen Brust
Viel vertrugst Du nicht mehr
Hast manchmal den Teller
Beiseitegeschoben
Fordertest heimlich
Kommt hervor
Zeigt euch doch
Und hattest Angst
Dass Du sie sehen könntest
Die Dir schweigend
in den Weg treten würden
ihre Marken zeigten
ihren Wagen
ihre eisgrauen Augen
Ihre Angst
Vor Dir
Schwache
Mutige Frau"
27

Ein dichtender IM des Staatssicherheitsdienstes

Im Januar 1971 musste sich der Leiter der Bezirksverwaltung Erfurt mit dem dichterischen Werk eines IM "Wassermann" beschäftigen, der im "Zirkel schreibender Arbeiter" des VEB Büromaschinenwerkes Sömmerda mitwirkte und dichtete. Ausgerechnet dieser IM schrieb nun eine Huldigung an einen aus dem feindlichen Ausland zurückgekehrten Kundschafter und dieses Werk sollte nun auch noch vom FDGB-Bezirksvorstand als Beitrag zu einer Lyriksammlung veröffentlicht werden. Der poetische IM hatte vor allem die berührende Szene der Heimkehr zur treulich wartenden Gattin beschrieben, die nicht ungelesen bleiben soll:

"…

Und Monde sind Tage.
Nur langsam
Entwölkt sich der Frau
Der Alptraum der Jahre
des Zweifelns
an der Treue
des Mannes,
mit dem sie
bis damals
so glücklich gelebt.

Sie streicht ihm
Über das braune
Gelichtete Haar.
Da lachen verschmitzt
seine blauen Augen:
Das ist geblieben
Trotz Monde und Jahre!
Er ist zurück
und meldet
noch einmal:
Auftrag erfüllt!"
28

Der Leiter der Bezirksverwaltung untersagte die Veröffentlichung. Wahrscheinlich sah er die Wirksamkeit des IM gefährdet, eine öffentliche Lobpreisung eines Stasi-Mitarbeiters durch einen "normalen" Werktätigen musste einfach Misstrauen gegenüber diesem verdeckt für den Staatssicherheitsdienst arbeitenden Kollegen hervorrufen.

Kritisches

In den 1980er Jahren ist in den Dichterkreisen des MfS eine interessante Entwicklung festzustellen, die sich in einzelnen Gedichten und Liedern manifestierte. Es zeigte sich, dass das MfS kein ideologischer Monolith war, sondern dass die Wirklichkeit der DDR sich gegen die ideologischen, politisch-kulturellen Phraseologien durchsetzte und unterschiedlichen Ausdruck fand.

So wird in einem Gedicht von M. Sch. "Irene" das Alltagsleben einer Schichtarbeiterin, in einem Braunkohlenrevier arbeitend, beschrieben, das an Bilder aus den Dresdner Kunstausstellungen der 1970er und 1980er Jahre erinnert. Dort wurden Brigadebilder oder Einzelbilder von Arbeiterinnen und Arbeitern ausgestellt, die das Ausgelaugtsein, die Erschöpfung der täglichen schweren Arbeit und eine gewisse Hoffnungslosigkeit vermittelten. In folgendem Auszug aus diesem Gedicht wird das deutlich, es sollte immerhin in die Anthologie zum 40. Jahrestag aufgenommen werden:

"Irene, es ist gut,
die Schicht ist aus,
das Band dreht sich jetzt Stunden ohne dich.
Gehst ganz zerschlagen
zu Dir nach Haus
und isst noch schnell und schläfst,
und dann ist Schicht.

Zu Hause von dem Alleinsein in die Grube,
du unterhältst dich schon mit deinem Band,
und wenn mal einer kommt, erzählst du,
soviel und schnell du eben gerade kannst.

Erzählst von dem und jenem und von Scheidung,
von Selbstmord, Unfall und weiß ich noch was.
Die Leute hörn nicht zu, das merkst du,
es kränkt dich kaum noch, macht dich nicht mehr blass…"
29

Optimistisch ist das nicht und es ist sicher unvorstellbar, dass ein solches Gedicht in den Jahren 1960 bis 1970 im MfS veröffentlich worden wäre. Noch wahrscheinlicher ist, dass kein Genosse in diesen Zeiten so gedichtet hätte, zumindest hätte er dies im MfS nicht zur Diskussion gestellt.

Noch drastischer und kabarettistischer wird in einem Lied, das wohl im Umkreis des Wachregiments des MfS entstand, die fast nicht mehr vorhandene Akzeptanz der ideologischen Vorgaben erkennbar. Das immer stärkere Auseinanderklaffen zwischen SED-Propaganda und der tristen Wirklichkeit drängte auch bei den jungen Genossen des Wachregiments zum Ausdruck. In einem Liedermedley, auch unter Verwendung von Melodien aus der Bundesrepublik, wurde das tägliche Kasernenhofdasein auf die ironische Schippe genommen. Dabei ist der Versuch einer Zensur erkennbar, besonders bedenklich erscheinende Stellen sind im Original gelb unterstrichen, so bei den Versen:

"Morgens – alles klar, Bettenbau so sonderbar,
jede Minute abgezählt.
Im Gleichschritt dann zum Speisesaal,
auch wenn das Essen ist ne Qual, ist das wirklich unsere Welt?"

Diese Frage hat jemand als bedenklich befunden und markiert. Das gilt auch für die nächsten Verse:

"Ich hab damals meine Potenz verloren -
Nur die Leber trainiert – bin fast daran krepiert
Ich war süchtig…dabei so tüchtig…ich war ein Trinker

Ich bin von Uniformen total kuriert –
Als sie es merkten wurd’ ich dann sofort exmatrikuliert.
Ich bin süchtig …ich bin tüchtig….ich bin ein STI-NO
[d. h. stinknormal]

Ich hab Tag und Nacht gefroren als ich meinen Posten lief
Und heut hab ich nicht mal nen MOS’i – Facharbeiterbrief.
Ich hab kein Zeugnis….ich hab keinen Abschluss…
bin reif für’n Abschuss."
30

Im Grunde genommen ist dies eine Bankrotterklärung der sozialistischen Erziehung im MfS. Das hehre Bild des Tschekisten mit heißem Herz, kühlen Verstand wird zur Farce, die allerdings mehr von der Realität vermittelt als den leitenden Genossen lieb sein konnte.

Ein Skandal

Es ist bezeichnend für die schleichende Zersetzung der ideologischen Front im MfS, dass sich im Dezember 1988 immerhin die Parteikontrollkommission, das oberste Überwachungsorgan der SED im Staatssicherheitsdienst, mit einem Vorgang befassen musste, der exemplarisch nachwies, dass die Poesie nicht mehr mit der Rolle als Magd zufrieden war, sondern ironisch und frech die Wirklichkeit reflektierte und einen Hauch von Unbotmäßigkeit vermittelte. Beteiligt waren daran, und das nimmt ebenfalls nicht Wunder, die jüngeren Genossen aus verschiedenen Diensteinheiten, so der Hochschule des MfS und der Hauptabteilung XX, die immerhin für die Sicherung der Kultureinrichtungen und die Beobachtung und Zersetzung der Opposition in der DDR zuständig waren.

In einem ausführlichen Bericht werden die Vorgänge dargestellt und die notwendigen Maßnahmen festgehalten.31 Um die Aufregung der Parteiwächter verstehen zu können, sollen aber die beiden betreffenden Texte in Auszügen vorgestellt werden. Ein Gedicht nennt sich „Tschekisten-Marsch“, ironisiert deren Aufgaben, aber durch die Ironie schimmert doch auch das Selbstverständnis des Überwachungsorgans durch, so wenn vom "strengen Gebieter" des Volkes die Rede ist, der das Strafgesetz nicht kennt:

"Wir sind die stolzen Tschekisten
das Rückgrat der SED
von Berges Höhen bis an die Küsten
sind wir überall juchhe
Dem Feind ein Dorn im Auge

dem Freunde Beschützer in der Not
Dem Bürger strenger Gebieter
dem Vorgesetzten treu bis in den Tod.

Refrain
Wir beugen vor, wir klären auf
Wir greifen zu, wir hauen drauf
Wir dringen ein, wir schleichen an
Wir rücken ab, wir weisen an
Wir kennen weder Strafgesetz noch Angst
Den Agenten keine Chance

Wir springen des Nachts aus den Betten
wenn uns der Alarmruf erreicht
der Jungfrau die Unschuld zu retten
der Feind erzittert und erbleicht…..

Wir stehen an allen Ecken
Sobald ein Staatsbesuch uns droht
in Gullis und Brombeerhecken
da holte sich mancher den Tod
das alles macht uns nur noch härter
unsere Köpfe sind nicht nur aus Holz
Fasst fester die Handgelenktäschchen
Den Dienstausweis tragen wir mit Stolz"
32

Das andere Gedicht persifliert die Parteiwahlen, eine wirkliche Sünde wider den heiligen Geist, und stammt aus der Singegruppe "Sturmvögel" der Bezirksverwaltung Schwerin. Es heißt dort unter dem Titel "Wahl":

"Die Blicke zum Boden
den Arsch an die Wand
Du kriegst die Funktion
Ich hebe die Hand.

Der Kelch der Funktion
Ging noch mal vorbei
Ich hab meine Ruh
Du die Schererei

Wir sind alle neu
Dich kenne ich nicht
Die Wahl steht schon fest
Vorher, sicherlich

So war’s in der Schule
So war’ im Betrieb
Du stiegst auf die Kugel
Die ich ruhig schieb

Jetzt schimpf ich auf Dich
Unbefugt, wie mir schien
Du hast jetzt die Macht
So wie ich es verdien"
33

Staatstragend im Sinne der SED kann man das nicht nennen. Und das Erschreckende für die später damit befassten Genossen war, auf dem 13. Lehrgang der Singegruppenleiter des MfS vom 18. bis 20.11 1988, an dem immerhin 45 Genossinnen und Genossen teilnahmen, erregten diese dort vorgetragenen Lieder und Gedichte keinen Widerspruch, im Gegenteil, die Darbietungen erhielten starken Beifall und die Zuhörer verlangten nach Kopien. Nachdem der Lehrgangsleiter und der 1. Sekretär der Kreisleitung der FDJ die Brisanz des Vorgetragenen erkannten und erklärten, dass mit diesen Texten die Arbeit der Partei, die Politik und deren Resultate sowie die Tätigkeit des MfS in verantwortungsloser Weise verunglimpft und angegriffen werde, setzte sich der Untersuchungs- und Rechtfertigungsmechanismus in Bewegung und es kam zu zahlreichen Aussprachen mit den aktiven und passiven Beteiligten. In einer Gesamteinschätzung kommt die Parteikontrollkommission zu einer Aussage, die auch deren Wahrnehmung der schon Ende 1988 erkennbar kritischen Gesamtsituation in der DDR sichtbar macht: „…Sie hatten den zersetzenden Inhalt der vorgetragenen Texte nicht erkannt. Begünstigt durch den Einfluss einiger negativer Tendenzen in der FDJ-Singebewegung insgesamt waren sie der Auffassung, dass es heute normal sein, in dieser Weise gesellschaftliche und politische Probleme zu behandeln, sonst würde man die Menschen nicht ansprechen und dem Problem ausweichen… Es fehlt ihnen aber auch an der notwendigen innerlichen Bindung an die Partei und das MfS, um sich in diesem Fall sofort instinktmäßig auf parteiliche Positionen zu begeben…“34

Der Ausgang des Verfahrens erfolgte nach den üblichen Regularien – man übte Selbstkritik, mahnte eine verstärkte ideologische Schulung und Einflussnahme an, aber es gab keine weiteren Sanktionen. Die Parteileitung erhob mahnend die Hand, schlug aber nicht mehr zu. Die Vorboten kommender Veränderungen hatten in poetischer Form das MfS erreicht, blieben in ihrer ganzen Konsequenz aber unerkannt.

In den üblichen Floskeln gab dann die FDJ-Kreisleitung im Februar 1989 die politische Zielstellung für dichtende und singende Tschekisten vor und forcierte eine verstärkte Berichterstattung und Problemdiskussionen, um solch unliebsame Überraschungen schon im Vorfeld zu verhindern. In den ewig gleichen, sinnentleerten Formeln wird gefordert: „Politische Verantwortung unserer Singegruppen und Einzeltalente ist es, mit der Reflektion des politischen Geschehens, der sachkundigen Verdeutlichung von Anforderungen an unsere tschekistische Arbeit und dem Aufzeigen sowie der kritischen und parteilichen Auseinandersetzung mit negativen Erscheinungen sowie Verhaltensweisen zu tieferem Durchdenken der Politik unserer Partei anzuregen…“35

Es blieb also bei den alten Rezepten – am Ende der DDR wurde der Staatssicherheitsdienst ohne größere Widerstände aufgelöst. Die poetische Hinterlassenschaft des MfS zeigt aber auch, die immer drängender werdenden Existenzprobleme der DDR haben dort ihre Spuren hinterlassen – ein Zeichen wenn man so will, dass kritische Reflexionen selbst in den Zwingburgen diktatorischer Machtausübung eine Heimstatt haben, auch wenn es hier die Nische dichtender Tschekisten ist.

Menschliches (Allzumenschliches?)

Unter den vielen Seiten überlieferter Gedichte fallen ab und an auch Verse auf, die man ohne weiteres als Liebeslyrik bezeichnen kann. Kein Wunder, es waren vorwiegend jüngere Genossinnen und Genossen, die sich poetisch offenbarten und wem das Herz in der Jugend voll ist, dem fließt die Feder leicht über. In den Gedichten zeigen sich Zärtlichkeit, Behutsamkeit und Sensibilität. Und doch waren diese Verfasser auch Teilhaber an der Inhumanität des Repressionssystems Staatssicherheitsdienst – natürlich in unterschiedlichen Graden der Zuständigkeit und Verantwortung. Manche sind sicher auch heute noch der Überzeugung, dass sie das Beste wollten und niemandem geschadet haben. So ist schwer zu entscheiden, ist es tröstlich, dass auch im MfS die poetischen Blumen der Liebe blühten oder ist es mehr erschreckend, dass Menschen, die den Doktrinen des Klassenhasses anhingen, Zersetzungsmaßnahmen planten und durchführten, auch ihre poetisch-zärtlichen Momente hatten? Fragen, die auch schon zu einer anderen, schlimmeren Diktatur gestellt wurden. Aber die Antwort kann nie eindeutig sein und so geben wir am Schluss einer Poesie das Wort, der nicht anzumerken ist, in welchem Umkreis sie entstanden ist:

"Tropfenlied [der Verfasser ist ein J. K.]

Drei Tropfen auf deiner Haut
So weich, so, vertraut
Machen wach meinen Sinn.

Ein Gedanke kommt auf,
warum du mich liebst,
was ich dir bin.

Drei Tropfen schillern im Licht.
Trug der Regen sie her
oder sollten sie vom Gesicht?

Drei Tropfen sagen so viel,
sie flüstern ganz leis,
was ich doch längst schon weiß."
36

Jochen Hecht

02. Oktober 2006

Anmerkungen

1 BStU, MfS, SED-Kreisleitung (KL), Nr. 4867, S. 1 ff.

2 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 4874, ohne Seitenzählung

3 Ebenda

4 Ebenda

5 Ebenda

6 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 3638, S. 27

7 Ebenda

8 Ebenda, S. 28

9 Ebenda

10 Ebenda, S. 26

11 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 4702, S. 18

12 Ebenda, S. 19

13 Ebenda, S. 23

14 Ebenda, S. 16-17

15 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 3247, S. 24 ff.

16 Entwurf "Jahrgang 49", 30 Gedichte und Zeichnungen, gewidmet dem 30. Jahrestag der DDR. Zu: BStU, MfS, SED-KL Nr. 4873, ohne Seitenzählung. Die nachfolgenden Ausführungen stammen aus dieser Akte.

17 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5036, ohne Seitenzählung

18 Ebenda

19 Entwurf "Mittendrin", Anthologie der Kreisarbeitsgemeinschaft schreibender Tschekisten, S. 3-4

20 Ebenda, S. 5

21 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5033, S. 87

22 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5036, ohne Seitenzählung

23 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5205, S. 9

24 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5033, S. 90

25 BStU, MfS, HA KuSch, Nr. 23715, ohne Seitenzählung

26 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5205, S. 27

27 Ebenda, S. 19

28 BStU, MfS, ZAIG, Nr. 26126, S. 14-15

29 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 4871, S. 153

30 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 4340, ohne Seitenzählung

31 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 3247, S. 46

32 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 3247, S. 46

33 Ebenda, S. 45

34 Bericht zum unparteilichen Verhalten von Parteimitgliedern im Rahmen ihrer Tätigkeit in der Singebewegung um im dritten Offizierschülerlehrgang der Hochschule des MfS. Zu: BStU, MfS, SED-KL, Nr. 3247, S. 40 ff.

35 Grundsatz und Aufgabenstellungen vom 15. Februar 1989 zur weiteren Entwicklung der Singebewegung in der FDJ-Kreisorganisation im MfS, überarbeiteter Entwurf. Zu: BStU, MfS, SED-KL, Nr. 3247, S. 50

36 BStU, MfS, SED-KL, Nr. 5205, S. 33