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Der Diebstahl der Splitterminen

Mitte der 70er Jahre waren auf DDR-Gebiet ausgerichtete Selbstschussanlagen des Typs SM-70 ein fester Bestandteil der DDR-Sicherheitsarchitektur an der deutsch-deutschen Grenze. Anfang April 1976 vermeldete die Stasi, dass im Bezirk Schwerin eine solche SM-70 von Seiten der Bundesrepublik aus vom Grenzzaun abmontiert worden war.

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Mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 wurde auch der verstärkte Ausbau der deutsch-deutschen Grenze seitens der DDR vorangetrieben. Offiziell geschah dies zum Schutz vor dem "Gegner" und vor "feindlichen Angriffen" – zeit Bestehens des sozialistischen deutschen Staates blieb der eigentliche Zweck der Grenzsicherung jedoch vor allem einer: Verhinderung der Flucht eigener Bürgerinnen und Bürger in den Westen.

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre begannen Forschungsarbeiten für eine an den Grenzzäunen fest zu installierende "richtungsgebundene Splittermine". Im Jahr 1970 wurden die ersten SM-70 in einem Erprobungsabschnitt an der Grenze bei Salzwedel montiert und nach der Testphase ab 1971 dann regulär in den "pioniertechnischen Ausbau" der Grenzanlagen integriert und in Betrieb genommen.

 Die Streurichtung der Selbstschussanlagen zielte parallel zum Grenzzaun auf DDR-Gebiet und damit "freundwärts". Alleinhersteller von „Spreng- und Sperrmitteln für die Sicherung der Staatsgrenze West“ (und damit der SM-70) war der VEB Chemiewerk Kapen in der Nähe von Dessau.

 

Ein "Vorfall" nahe Wendisch Lieps

Zu einem besonderen Vorkommnis kam es am 30. März 1976 an einer Grenzanlage nahe Wendisch Lieps im heutigen Landkreis Ludwigslust-Parchim und früheren Bezirk Schwerin. Dem in der BRD lebenden Handwerker und ehemaligen DDR-Häftling Michael Gartenschläger gelang es, eine solche SM-70 an der deutsch-deutschen Grenze zu demontieren. Gartenschläger war 1971 nach zehn Jahren Haft von der Bundesrepublik freigekauft worden (Mehr über Gartenschlägers Haftzeit: "Der Grenzverletzer Michael Gartenschläger", in "Honeckers Zuchthaus. Brandenburg-Görden und der politische Strafvollzug der DDR 1949-1989" von Tobias Wunschik). Mit dem Abbau der Mine wollte er deren Existenz, die seitens der DDR geleugnet wurde, belegen. Insbesondere sollten jedoch die Konstruktion und Wirkung  der Splittermine aufgedeckt werden, weil hierüber im Westen bis dato kaum Wissen vorhanden war.

Zur Vorbereitung der Demontage hatten Gartenschläger und seine Helfer an gleicher Stelle bereits in der Nacht vom 27. auf den 28. März eine SM-70 aus sicherer Entfernung gezielt zur Detonation gebracht. Als Hilfsmittel  verwendeten sie  einen in den Auslösedraht eingehängten Haken aus Schweißdraht und eine Angelschur als Verlängerung. Die Aktion diente als Test: Um bei der eigentlichen Demontage die Selbstgefährdung sowohl durch die Minen, als auch durch die Reaktion der Grenztruppen abzuwägen, sollten vorab die Funktionslogik der Anlage und die Aktivitäten der Grenzer zur Sicherung derselben geprüft werden.

Dieser Testlauf blieb zunächst in Ost und West unerkannt. Erst einige Tage später erfuhr die Stasi davon, nämlich als sie darüber informiert wurde, dass  in unmittelbarer Nähe eine Splittermine abhandengekommen war. Michael Gartenschläger und seine Begleiter hatten ihr eigentliches Vorhaben am 30. März 1976 in die Tat umgesetzt.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Die abmontierte SM-70 übergab Gartenschläger an den "Spiegel", der über ihn und die Splittermine berichtete. Der 32-jährige Handwerker wurde so zum Staatsfeind in der DDR.

Der Tod Gartenschlägers

Gemeinsam mit seinen Helfern unternahm Gartenschläger noch zwei weitere Demontageversuche, wovon einer glückte (am 23. April), der insgesamt dritte am 30. April 1976 jedoch mit seinem Tod endete: Die Einsatzkompanie der MfS-Hauptabteilung I erwartete die Gruppe bereits an der Grenze. Gartenschläger wurde durch Schüsse der Stasi-Kräfte tödlich getroffen. Seinen Tod hatte die Geheimpolizei zuvor billigend in Kauf genommen: Die "Liquidierung" respektive "Vernichtung" der "Täter" wurde in den Maßnahmeplänen seitens der Stasi einkalkuliert. Die Rekonstruktion des tatsächlichen Ablaufs der Todesnacht von Michael Gartenschläger gestaltet sich heute aufgrund unterschiedlicher, teils gegensätzlicher Aussagen der Beteiligten als schwierig.

Die Stasi sammelte in den Tagen nach der Tat Reaktionen der westlichen Presse auf Gartenschlägers Tod. Laut MfS berichtete die Deutsche Presseagentur am 1. Mai 1976 erstmals, dass Gartenschläger von „Grenzsicherungskräften der DDR erschossen worden sei, als er offensichtlich erneut einen Selbstschussapparat aus den Grenzanlagen der DDR abmontieren wollte“. Der Fall sorgte auch international für ein Medienecho. So berichtete am 3. Mai 1976 beispielsweise die britische Daily Mail über Gartenschläger. Die vollständige Pressesammlung aus den Stasi-Akten ist in unserer Online-Datenbank "Die DDR im Blick der Stasi" abrufbar.

„Gartenschläger habe sich 'ein paar Meter auf ostdeutschem Gebiet' befunden, als 'plötzlich Scheinwerfer die Szene erhellten und Soldaten aus dem Hinterhalt mit ihren automatischen Waffen das Feuer' eröffnet hätten. Nach Schätzungen des BGS seien zwischen '120 und 140 Kugeln abgefeuert' worden. Danach hätten 'Grenzsoldaten den Zaun geöffnet und den Mann weggeschleppt'.“

Zitat aus der Daily Mail vom 3. Mai 1976, verzeichnet vom MfS (BArch, MfS, ZAIG, Nr. 4102, Bl. 1-8 )

Die Folgen für die DDR-Grenzanlagen

Mit den erfolgten Demontagen durch Gartenschläger, tat sich für das System der Grenzanlagen, für die DDR-Führung und letztendlich für die Stasi ein ganz neues Problem auf. Die Frage der "Zugriffssicherheit" der "aktiven Sperrmittel" an der Grenze rückte fortan in den Fokus. "Angriffe" auf die DDR-Grenzanlagen sowie Beschädigungen derselben waren kein neues Phänomen. Die Entwendung einer Splittermine stellte aus DDR-Sicht jedoch vor allem aus zwei Gründen ein Problem neuer Qualität dar: Auf der ideellen Ebene war eine weitere Schädigung des internationalen Ansehens zu befürchten. Auf der praktischen Ebene war mit einem Nachahmer-Effekt zu rechnen.

Tatsächlich spielte in der Folge der Diebstahl von Splitterminen eine eher abnehmende Rolle. Denn als erste Reaktion wurden diese nach Gartenschlägers Aktionen zunächst mit einem Plastikgehäuse umhüllt. Damit sollte die SM-70 gegen den Zugriff auf die Kabel am Zünder abgesichert und somit vor Diebstahl geschützt werden.

Die größere Rolle spielte hingegen die gezielte Beschädigung von bundesrepublikanischer Seite aus. Spätestens die Enthüllungen Gartenschlägers hatten die Funktionsweise der in der Bundesrepublik sogenannten "Todesautomaten" offengelegt und durch die hierzu am 11. April 1976 erschienene Exklusiv-Story im Spiegel einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die Logik hinter solchen Versuchen, die SM-70 zur Detonation zu bringen, folgte dabei in der Regel dem Gedanken, die Auslösedrähte der Minen mit entsprechender Kraft zu belasten. Mit einfachsten Mitteln, zum Beispiel durch Bewerfen der Drähte mit Erdklumpen, konnten die Minen außer Gefecht gesetzt werden. In mehreren Grenzbezirken der DDR kam es dabei zu ähnlichen "Vorkommnissen".

Erdklumpen am Grenzzaun neben einer Splittermine SM-70.

Am 5. Oktober 1983 kündigte Erich Honecker in einem Interview mit österreichischen Journalisten "den vollständigen Abbau der Selbstschussanlagen an der Grenze zur BRD" an. Ende 1984 schließlich wurden die letzten Splitterminen von der deutsch-deutschen Grenze entfernt. 14 Flüchtlinge und ein Grenzsoldat wurden nach Angaben des Forschungsverbundes SED-Staat durch die Splittermine SM-70 getötet. Damit seine Beerdigung kein großes Aufsehen erregte, war Michael Gartenschläger am 10. Mai 1976 als "unbekannte Wasserleiche" anonym auf einem Friedhof begraben worden.