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Im Kugelhagel gestoppt

Mitte Mai 1963 versuchte eine achtköpfige Gruppe aus Ost-Berlin, mit einem Reisebus der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in den Westen zu gelangen. Der Fluchtversuch endete nur einen Meter vor der Grenze im Kugelhagel der Grenztruppen.

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Am Mittag des 12. Mai 1963 säumte ein Menschenauflauf das Gelände um den Grenzübergang Invalidenstraße in Berlin. Östlich der Mauer versammelten sich Grenztruppen der Nationalen Volksarmee (NVA) um einen beschädigten BVG-Bus. Auf West-Berliner Seite beobachteten Augenzeugen das Geschehen.

Komplette Fotodokumentation in der Stasi-Mediathek

Kurz zuvor hatte sich hier an der Sandkrugbrücke ein spektakulärer Fluchtversuch mit tragischem Ausgang ereignet. Gegen 13:00 Uhr durchbrach auf Ost-Berliner Seite ein mit Metallplatten gepanzerter Reisebus der BVG in der Scharnhorststraße einen Metallzaun und bog rechts in die Invalidenstraße ein. Nachdem er gegenüber dem Obersten Gericht der DDR an einen Baum geprallt war, kam er kurz zum Stehen. Er setzte seine Fahrt jedoch fort und umrundete die zwei Betonsperren am Grenzübergang. Inzwischen hatten die am Kontrollpunkt stationierten Ost-Berliner Sicherheitsorgane das Feuer eröffnet. Mehrere Kugeln trafen die drei Personen in der Fahrerkabine und verletzten sie schwer. Der Fahrer, Thomas Bischoff (Name geändert), verlor die Kontrolle über den Bus, der daraufhin gegen das letzte Hindernis, die Betonsperrmauer, fuhr. Das Fluchtfahrzeug kam nur einen Meter vor der Grenze zum Stehen.

„Insgesamt wurden 120 Schüsse aus der MPi und 18 Schüsse aus der Pistole auf den Bus abgegeben.“

MfS-Bericht über die gescheiterte Bus-Flucht
 BArch, MfS, ZAIG, Nr. 699, Bl. 26

Die Sicherheitsorgane nahmen die drei Frauen und fünf Männer im Bus fest. Die Schwerverletzten, Thomas Bischoff, Norbert Hinrichs und Klaus Ehrhardt (Namen geändert), wurden in das nahegelegene Krankenhaus der Volkspolizei eingeliefert. Die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) unterrichtete die Partei- und Staatsführung noch am selben Tag über die Ereignisse.

Die Staatssicherheit tritt auf den Plan

Wie bei Fluchtversuchen – insbesondere mit Verletzten oder Toten – üblich, leitete das MfS die Ermittlungen, sicherte Beweise und sorgte für die Geheimhaltung. Als "Untersuchungsorgan" übernahm die Linie IX die Federführung. Die im Stasi-Unterlagen-Archiv überlieferten Untersuchungsvorgänge (UV) zu dem Fall umfassen über 20 Bände. Sie geben Aufschluss über den Hergang der Ereignisse, die Ermittlungen und die Folgen für die Betroffenen.

Nach dem gescheiterten Fluchtversuch sperrten die Sicherheitsorgane das Gelände ab und fertigten eine Fotodokumentation an. Neben Aufnahmen vom beschädigten Fluchtfahrzeug finden sich in den Akten auch Fotos von West-Berliner Polizisten, alliierten Militärangehörigen und Pressevertretern. Diese filmten und fotografierten das Geschehen von der anderen Seite des Berlin-Spandauer Schifffahrtskanals aus, was die DDR-Sicherheitsorgane mit Argwohn registrierten.

Die an den Grenzübergangsstellen eingesetzte MfS-Arbeitsgruppe Passkontrolle und Fahndung verfasste noch am 12. Mai einen Bericht zu den Ereignissen. Er basierte im Wesentlichen auf den Aussagen der am Kontrollpunkt stationierten Sicherheitsorgane und der Businsassen. Neben den Namen der Festgenommenen und einer Schilderung des Vorfalls enthält das Dokument auch eine Auflistung der bereits eingeleiteten Maßnahmen. Dazu gehörten unter anderem die Absicherung des Grenzübergangs durch einen Schützenpanzerwagen der NVA und die Verständigung einer MfS-Einsatzgruppe. Letztere nahm auch die Festgenommenen in Gewahrsam.

Wie bei UV üblich, finden sich in den Akten auch zahlreiche Dokumente der Staatsanwaltschaft. Diese hatte formal die Aufsicht über die Arbeit des MfS. Aufgrund der doppelten Aktenführung der Geheimpolizei erhielten die juristischen Instanzen jedoch keine umfassende Einsicht in die Ermittlungen. Insbesondere auf nachrichtendienstlich erlangte Informationen hatten sie keinen Zugriff. Vielmehr überwachte stattdessen das MfS die Justiz. Dennoch arbeiteten Staatssicherheit und Staatsanwaltschaft bei den Ermittlungen eng zusammen.

Die UV-Akten zur gescheiterten Busflucht enthalten unter anderem einen Vermerk des Staatsanwalts zu einem Gespräch mit den Eltern Klaus Ehrhardts. Daraus geht hervor, dass sämtliche Informationen zu den Ereignissen am 12. Mai streng geheim zu halten waren. Ehrhardts Eltern erhielten keine Auskunft über ihren Sohn und durften nicht über den Vorfall sprechen. Der Staatsanwalt setzte das MfS über das Gespräch in Kenntnis.

Nicht der erste Fluchtversuch

Im Zuge seiner Ermittlungen zur Busflucht führte das MfS zahlreiche Vernehmungen durch und holte sich Informationen zu den Beteiligten ein. Wie sich herausstellte, war die Aktion nicht der erste Versuch Hinrichs und der beiden BVG-Mitarbeiter Bischoff und Ehrhardt, die Grenzanlagen zu überwinden. Bereits einen Monat zuvor hatten die drei gemeinsam mit Bekannten einen Fluchtplan entwickelt: Sie wollten sich vom Dach eines Schuppens auf dem BVG-Omnibushof in Treptow in den Flutgraben abseilen und Richtung Westen schwimmen. Die dafür notwendigen Werkzeuge – eine Leiter und ein Seil mit Kletterhaken – fertigten sie selbst an. Neben Bischoff, Ehrhardt und Hinrichs waren noch zwei weitere in diesen Fluchtplan involvierte Personen auch am 12. Mai dabei.

Unterstützung suchte die Gruppe bei einem West-Berliner Bekannten aus Tempelhof, der 1954 selbst aus der DDR geflüchtet war. Dieser kundschaftete die für die Flucht ausgewählte Stelle auf West-Berliner Seite aus. Außerdem erhielt er den Auftrag, die Polizei unmittelbar vor der Aktion darüber zu informieren. Im Notfall sollte sie Unterstützung leisten.

Die Aktion war äußerst riskant, schließlich handelte es sich bei dem Omnibushof um einen streng bewachten Grenzbetrieb. Die Gruppe entschloss sich dennoch dazu, ihren Plan umzusetzen. Doch als bereits alle Personen auf das Betriebsgelände geschmuggelt worden waren, musste die Aktion im letzten Moment doch noch abgebrochen werden: Aufgrund ausgefallener Hof- und Grenzsicherungslampen befanden sich am Fluchttag ungewöhnlich viele Grenztruppen auf dem Gelände. Das Risiko, bei der Flucht entdeckt und erschossen zu werden, war zu hoch.

Von den genauen Umständen dieses Fluchtversuchs und dem West-Berliner Helfer erfuhr die Stasi erst im Rahmen ihrer Vernehmungen zum 12. Mai. Auch weitere Pläne für eine Flucht, etwa über das Charité-Gelände oder den Grenzübergang Friedrich-/Zimmerstraße, verwarf die Gruppe als zu gefährlich. Auf den Vorschlag Hinrichs' hin fiel die Wahl schließlich auf den Grenzübergang Invalidenstraße an der Sandkrugbrücke. Als Stelle für den Durchbruch in die Sperranlagen entschied sich die Gruppe für die Scharnhorststraße. Diese war – verglichen mit der Invalidenstraße – weniger stark befestigt.

Fluchtvorbereitungen

Am Mittag des 12. Mai 1963 starteten die acht Fluchtwilligen ihre Aktion von Bischoffs Wohnung in Weißensee aus. Das Fluchtfahrzeug hatten die fünf Männer der Gruppe kurz zuvor präpariert: Metallplatten im Passagierraum und in der Fahrerkabine sollten als Schutzschilde gegen den Beschuss durch die Grenztruppen dienen. Vorhänge an den Busfenstern verbargen den Innenraum vor neugierigen Blicken.

Der Tempelhofer Fluchthelfer vom 12. April war auch dieses Mal involviert. Er sollte die West-Berliner Polizei am Kontrollpunkt kontaktieren und die Straße Richtung Osten sperren lassen, um störenden Gegenverkehr zu verhindern. Wie aus den Vernehmungsprotokollen der Stasi hervorgeht, kam es dazu jedoch nicht: Der Helfer befürchtete, von Ost-Berlin aus beobachtet zu werden und ein Einreiseverbot in die DDR zu erhalten, wo seine Eltern lebten. Er wandte sich stattdessen an einen Zollangehörigen, der sich in der Nähe des Grenzübergangs aufhielt. Am 13. Mai nahmen die Sicherheitsorgane den West-Berliner im Zuge einer Fahndung am Grenzübergang Friedrichstraße fest.

Folgen für die Betroffenen

Nach dem gescheiterten Fluchtversuch sicherten Pioniere der NVA und Einsatzkräfte der Feuerwehr das Gelände des Grenzübergangs mit Betonplatten ab. Die Urteile gegen die achtköpfige Gruppe und ihren Unterstützer aus Tempelhof fielen hart aus: Gegen die fünf Frauen und Männer im Passagierraum des Busses verhängte der Strafsenat 1b des Stadtgerichts von Groß-Berlin im November/Dezember 1963 Haftstrafen zwischen drei und siebeneinhalb Jahren. Bischoff, Hinrichs und Ehrhardt wurden als Initiatoren der Fluchtaktion zu Zuchthausstrafen in Höhe von zehn bzw. neun Jahren verurteilt. Der Helfer aus West-Berlin erhielt sechseinhalb Jahre Haft.