Nachdem die Grenzen abgeriegelt wurden, sammelte die Staatssicherheit Informationen über die Missstimmung in der Bevölkerung, über Versorgungsprobleme und Streiks in Betrieben und fasste sie in geheimen Berichten an die SED-Führung zusammen. Diese MfS-Berichte bündeln, was Zuträger im ganzen Land der DDR-Geheimpolizei im Umfeld des Mauerbaus am 13. August 1961 berichteten - auch aus dem Westteil Berlins. Daraus wird deutlich, dass die Stasi eine aktive Rolle beim Mauerbau spielte. Aus den Berichten geht außerdem hervor, dass die Partei- und Staatsführung durch die Staatssicherheit schonungslos über die reale Lage und alle Probleme im Land informiert wurde.

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Dokumentenkopf eines geheimen Berichtes an die Staatsführung kurz nach dem Mauerbau.

Aktion "Rose"

Die Staatssicherheit verfasste über die Aktion "Rose" – so der Deckname für den im Zusammenhang mit der Grenzschließung am 13. August 1961 stehenden Maßnahmenkomplex – und die "Reaktion auf die Maßnahmen zur Sicherung der DDR" bis zum 16. August zwölf Berichte. Davon enstanden allein fünf am 13. und vier am 14. August. Von da an wurde bis zum 3. September zu diesem Thema nur noch einmal täglich berichtet. Wichtigster externer Adressat war – neben den sowjetischen Verbindungsoffizieren – der Zentrale Einsatzstab mit seinem Leiter Erich Honecker.

Der SED-Chef Walter Ulbricht steht nur selten im Verteiler; ihm dürften die Berichte aber von Honecker oder Mielke, dem oftmals mehrere Exemplare zur Verfügung standen, zugänglich gemacht worden sein. Die Themenschwerpunkte der Berichterstattung variieren je nach Zeitphase. Noch während der ersten "Grenzsicherungsmaßnahmen" versuchte die Staatssicherheit ihre eigene Rolle ins rechte Licht zu rücken. Dabei sah sie sich gleich in der Nacht der Grenzschließung mit einer ernsten Panne konfrontiert: "Der Gesamtverlauf der Aktion", die um ein Uhr nachts ausgelöst wurde, sei "bisher zufriedenstellend, bis auf den Einsatz der Transportpolizei, die wegen falscher Einsatzzeit (X+4) ausfiel", heißt es im ersten Bericht vom frühen Morgen des 13. August. Im zweiten Bericht des Tages - wenige Stunden später - schob das MfS die Information nach: "Der Einsatz der Trapo erfolgte auf mehreren Bahnhöfen später als der Einsatz des MfS. Wodurch die Maßnahmen in den meisten Fällen vom MfS allein durchgeführt wurden."

Erich Mielke und Erich Honecker beim Mauerbau.

Stasi rückt sich ins rechte Licht

Diese Formulierung ist fast schon unterkühlt, denn die Kappung des U-Bahn-, S-Bahn- und Fernbahnverkehrs war eine der zentralen Maßnahmen zur Sperrung der Grenze. Als die Einheiten der Transportpolizei nach 5 Uhr endlich an ihren Einsatzorten eintrafen, war die Arbeit im Wesentlichen getan. Zwölf S- und U-Bahnlinien zwischen Ost- und West-Berlin wurden unterbrochen, die Bahnhöfe der "Westlinien", die durch den Ostsektor fuhren, geschlossen.

Die Staatssicherheit hob jedoch nicht nur ihre Fähigkeit hervor, Versäumnisse anderer Sicherheitsorgane zu kompensieren, sondern empfahl sich auch als übergeordnete Kontrollinstanz, die in jeder Situation den Überblick behielt und die richtigen Entscheidungen traf. So wusste sie zu berichten: "Gegen 3.00 Uhr kam es im Raum Mahlow auf Westberliner Boden zu einer Konzentration von Bürgern aus der DDR, die sich in Westberlin aufgehalten hatten und zunächst von der VP [Volkspolizei] an der Rückkehr in die DDR gehindert wurden. Lage wurde durch entsprechende Anweisungen des MfS, diese Personen sofort in die DDR einzulassen, normalisiert."
 

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Stasi holt Meinungsbilder ein

Die Staatssicherheit war zeitnah über die interne Meinungsbildung sowohl bei den Westalliierten als auch in der West-Berliner und Bonner Politik informiert. In den Berichten wurden zum einen die offiziellen Verlautbarungen aus bundesdeutscher, britischer, amerikanischer oder französischer Politik sowie ein Teil der Berichterstattung aus westlichen Medien zusammengefasst. Zum anderen wurden Informationen aus "internen" oder "verlässlichen" Quellen, also von Agenten beschafftes Material, präsentiert.

Am 13. August war die Stasi hinsichtlich einer möglichen westlichen Antwort noch vorsichtig: "In der ersten offiziellen Reaktion führender politischer Kreise Bonns, Westberlins und der Westmächte wird von schärfsten Protesten gegen die Maßnahmen der DDR und von sogenannten Gegenmaßnahmen gesprochen, jedoch zugleich vor ‚Unbesonnenheit‘ gewarnt." Auch in "führenden Westberliner CDU-Kreisen" herrsche, so das MfS, "eine gewisse Unsicherheit. Man glaube einerseits nicht mehr daran, dass die ‚Berlinkrise‘ mit friedlichen Mitteln beigelegt werden kann. […] Andererseits glaube man nicht daran, dass die USA in ihrer Politik in der Westberlinfrage bis zum äußersten gehen würden." Ein "Offizier des Bundesnachrichtendienstes" wird von einer "zuverlässigen Quelle" mit der Aussage zitiert, "die Amerikaner in Westberlin müssten jetzt zeigen, was ihre Versprechen wert sind. Man müsse jetzt auf alles vorbereitet sein".

Erst im Laufe des 14. Augusts wurde die Berichterstattung entspannter. Jetzt stellte das MfS die Bereitschaft der Westmächte infrage, Forderungen der Bundesregierung und des Berliner Senats nach entschlossenen Gegenmaßnahmen und Rückgängigmachung der Grenzschließung nachzukommen. Mitarbeiter des englischen Geheimdienstes hätten die Auffassung geäußert, "dass man sich mit den gegebenen Tatsachen abfinden müsse. Einen Krieg würden die Westmächte aufgrund der Maßnahmen der DDR keinesfalls riskieren".
 

Ausschnitt aus einem Fotoalbum zum Mauerbau, das ion Erich Mielkes Büro gelegen haben soll.

Ein weiterer Bericht lieferte die Information, dass der amerikanische Stadtkommandant von Berlin, Albert Watson, bereits am 13. August bei führenden CDU-Politikern (unter anderem Ernst Lemmer und Franz Amrehn) mit einer zynischen Äußerung für Empörung gesorgt hatte: Bei der Grenzschließung – so Watson laut MfS – handle es sich "nur um eine Verkehrsbehinderung innerhalb Berlins, von der die Freiheit der Bevölkerung Westberlins nicht betroffen werde".

Das MfS vermutete, dass in diesem Zusammenhang "möglicherweise auch die verschiedenen widersprüchlichen Meldungen über den Grad der Einsatzbereitschaft der amerikanischen Streitkräfte in Westberlin zu sehen" seien. Bald verdichteten sich in den Berichten der Staatssicherheit die Hinweise, dass mit keiner für die DDR in irgendeiner Form bedrohlichen Situation zu rechnen sei. Dass das MfS "Entwarnung" geben konnte, lag nicht zuletzt an Top-Meldungen aus "führenden Westberliner SPD-Kreisen". Bereits am 15. August wusste die Staatssicherheit zu berichten, "Brandt habe sich mit den westlichen Kommandanten darüber geeinigt, dass alles unternommen werden soll, um von Westberlin aus keinerlei Anlass für weitere Komplikationen zu geben".

Aus gleicher Quelle meldete das MfS am 17. August, "dass Brandt erstmalig seit längerer Zeit zum Sitz der westlichen Militärkommandanten bestellt und ihm dabei klargemacht wurde, wer in Westberlin zu bestimmen hat. Brandt sei noch einmal darauf hingewiesen worden, dass die Westmächte ›nur ihre Rechte‹ in Westberlin verteidigen würden.

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SED befürchtet heftige Reaktion der Bevölkerung

Die SED befürchtete unterdessen eine heftige Reaktion der DDR-Bevölkerung. Ulbricht hatte den Beginn der Aktion "Rose" nicht zufällig auf die Nacht von einem Samstag auf einen Sonntag gelegt. Als die Kunde von der Grenzschließung die Runde machte, waren die meisten "Werktätigen" zuhause. Ein von Betriebsbelegschaften ausgehender Aufruhr wie am 17. Juni 1953 war an diesem Tag zwar auszuschließen. Doch noch saß das "Juni-Trauma" beim SED-Chef tief, was auch dem BND nicht verborgen blieb: "Der ‚17. Juni-Komplex‘ ist unter den führenden Ostberliner Funktionären größer denn je", wurde am 18. August gemeldet. Dies entspricht auch den Erinnerungen des sowjetischen Diplomaten Julij A. Kwizinskij, wonach Ulbricht einige Wochen zuvor gegenüber Botschafter Michail G. Perwuchin geäußert hatte, "man müsse mit Massenaufläufen, offenen Versuchen des Ungehorsams, Schlägereien und vielleicht sogar mit Schießereien" rechnen. Es lag somit auf der Hand, dass die Staatssicherheit Stimmungen und aufkeimende Proteste in der Phase unmittelbar nach der Grenzschließung genauestens in den Blick nahm.

Am Morgen des 13. Augusts meldete das MfS zunächst: "Nach der bisherigen Übersicht ist die Lage an den Grenzübergängen als ruhig einzuschätzen. Es ist sogar auffällig, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch keine oder kaum neugierige Passanten sich von den eingeleiteten Maßnahmen überzeugten." Diese "abwartende Haltung" der Bevölkerung würde von Erkenntnissen aus abgehörten Telefonaten bestätigt. Doch schon wenige Stunden später musste die Geheimpolizei berichten: "An einer Reihe von Grenzübergängen zwischen dem demokratischen Berlin und Westberlin gab es Ansammlungen von ca. 50 bis 100 Personen, die sich teilweise negativ über die von der Regierung der DDR getroffenen Maßnahmen äußerten. Vielfach wird dabei erklärt, dass der Westen diese Schritte nicht hinnehmen werde. Deshalb würden die Maßnahmen der DDR nur kurze Zeit aufrechterhalten werden können."

Menschenansammlung an der Wilhelmstraße in Berlin am Tag des Mauerbaus, aufgenommen vom "Haus der Ministerien".

Menschentrauben bilden sich

Um 9:30 Uhr bildete sich auf dem Bahnhof Friedrichstraße eine Traube von 20 bis 30 Personen, die versuchte, auf den Bahnsteig A zu gelangen, der seit den frühen Morgenstunden für Ost-Berliner nicht mehr zugänglich war. Einen besonderen Unruheherd bildeten naturgemäß die sogenannten Grenzgänger – Ost-Berliner, die bisher in West-Berlin gearbeitet hatten und die jetzt nicht mehr zu ihren Arbeitsstellen gelangen konnten. Bereits am Morgen des 13. Augusts bildete sich vor dem Rathaus Pankow eine "Zusammenrottung von Westgängern", die, obwohl es Sonntag war, "Auskunft über neue Arbeitsverhältnisse im demokratischen Berlin forderten".

Auch Protesthandlungen, die sich bereits in den frühen Morgenstunden ereignet hatten, wurden nachträglich von der Staatssicherheit gemeldet. So hatte der Tankwart der Tankstelle Grünau im Stadtbezirk Treptow "einem Mitarbeiter der Sicherheitsorgane" den Verkauf von Benzin mit den Worten verweigert, "wenn alle streiken, streike er auch". "Die Schließung der Grenzen nach Westberlin richte sich gegen die Arbeiter."

Aus dem östlich von Berlin gelegenen Kreis Straußberg wurde das "Anschmieren von Hetzlosungen" und die Festnahme von Jugendlichen gemeldet, "die gegenüber Angehörigen der Grenzpolizei provokatorisch auftraten". Im letzten noch am 13. August verfassten Bericht stellte die Staatssicherheit fest, "die Maßnahmen der Regierung" würden "in allen Bevölkerungskreisen lebhaft diskutiert" und versuchte die Stimmung zu bilanzieren. Es sei zwar nicht möglich, das Verhältnis zwischen positiven und negativen Stimmen umfassend einzuschätzen, doch "aufgrund der bisher vorliegenden Informationen" würden "die positiven Stellungnahmen weit überwiegen". Diese rituelle Feststellung einer zustimmenden Haltung der Bevölkerungsmehrheit zur Politik der Führung ist typisch für MfS-Stimmungsberichte.

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Positive Stimmen zuerst

Ebenso typisch für diese Textgattung ist, dass zuerst die "positiven Stimmen" wiedergegeben werden. Es werde begrüßt, dass der "Republikflucht ein Riegel vorgeschoben" und den "Grenzgängern und Schiebern das Handwerk gelegt" worden sei. Die Maßnahmen seien "ein Schlag gegen die Agententätigkeit und gegen die von Westberlin ausgehende Unterminierung der DDR". Hier wurden offensichtlich die Äußerungen von Funktionären und SED-Mitgliedern wiedergegeben, die auf Geheiß der Ost-Berliner Parteileitungen den ganzen Tag zu "Agitationseinsätzen" ausgeschwärmt waren, um an den Hauptbrennpunkten die Stimmung zu beeinflussen. Wie so oft dienten dem Regime die eigenen Inszenierungen als Beleg für einen Konsens, den es in Wirklichkeit nicht gab.

Doch ungeachtet dieses obligatorischen, diktaturimmanenten Selbstbetrugs nehmen die "negativen" Äußerungen in der MfS-Berichterstattung einen deutlich breiteren Raum ein. An erster Stelle stehen "Vergleiche mit der Situation am 17. Juni 1953", die in Berlin unter anderem in "Ansammlungen" an S- und U-Bahnhöfen und an "mehreren Grenzübergängen" angestellt würden. Dort fiel auch der Begriff „KZ“. Das scheint kein Einzelfall gewesen zu sein, denn in einem Bericht des Folgetages heißt es, "Provokateure" würden "in einer Reihe von Fällen die Maßnahmen der DDR mit faschistischen Maßnahmen vergleichen". Vielfach wurde geäußert, durch diesen Schritt werde die "Spaltung vertieft".

Auch der Ruf nach freien Wahlen wurde immer wieder laut. Vereinzelt kam es zu "Aufforderungen an Arbeiter, am Montag den Betrieben fernzubleiben". Wie stark die Befürchtungen waren, dass es zu Streiks kommen könnte, zeigt die Berichterstattung des 14. Augusts, bei der vor allem die Ost-Berliner Großbetriebe unter verstärkter Beobachtung standen.
 

Flugblatt aus Stralsund vom 20. August 1961 mit Markierungen der Staatssicherheit zum Schriftenvergleich.

Teil der Belegschaft fehlt

Die Staatssicherheit stellte umgehend fest, "dass Beschäftigte volkseigener Betriebe zu Beginn der Arbeitsaufnahme unentschuldigt fehlten". Beim VEB Bergmann-Borsig waren zum Beispiel nur 60 Prozent der Belegschaft erschienen. Zwar konnte das MfS Entwarnung geben. Es ermittelte, dass "die fehlenden Arbeitskräfte aus den Randgebieten Berlins, vorwiegend aus dem Kreis Oranienburg", stammten und wegen Schwierigkeiten im S-Bahnverkehr und verschärften Kontrollen (als Begleiterscheinungen der Grenzschließung) nicht pünktlich zur Arbeit kommen konnten.

Gleichwohl blieb es in den Betrieben nicht durchgängig ruhig: Im Betonwerk Berlin-Grünau versuchten Arbeiter gleich zu Schichtbeginn "eine Resolution gegen den Regierungsbeschluss zu verfassen". Im Ost-Berliner VEB Kühlautomat wurde der Parteisekretär nach einer Diskussion niedergeschlagen, "bei der er positiv aufklärend auftrat". Im Oranienburger VEB Holzbau streikten Arbeiter gar mit der Forderung "Rückgängigmachung der Maßnahmen um Berlin".

Das MfS kam schon am Tag nach der Grenzsperrung nicht umhin zu bilanzieren: "Allgemein ist festzustellen, dass bei negativen Erscheinungen in der DDR und im demokratischen Berlin die Jugendlichen eine besondere Rolle spielen." Viele ostdeutsche Jugendliche orientierten sich an der westlichen Freizeitkultur und konnten, zumindest wenn sie in Ost-Berlin und im Berliner Umland wohnten, bei ihren Besuchen in West-Berlin daran noch direkt teilhaben. Als dieser Weg versperrt war, reagierten sie vielfach wütend. Aus dem nördlich von West-Berlin liegenden Hennigsdorf berichtete die Staatssicherheit am 14. August etwa, Jugendliche hätten gedroht, "sie würden einen Grenzdurchbruch unternehmen, wenn sie nicht mehr nach Westberlin gelassen werden".

Mehr geheime Berichte der Staatssicherheit an die SED-Führung aus dem Jahr des Mauerbaus finden Sie in der Online-Datenbank Die DDR im Blick der Stasi

  1. I. Die Abriegelung der Grenze
  2. III. Mielkes Album vom Mauerbau