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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Hallo! Willkommen zu einer neuen Ausgabe unseres Podcasts "111 Kilometer Akten". Mein Name ist Dagmar Hovestädt. Ich bin die Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und mache diesen Podcast zusammen mit:
Maximilian Schönherr: Maximilian Schönherr. Ich bin der Erfinder des Archivradios in der ARD und bin der Co-Host.
Dagmar Hovestädt: [lacht] Genau und in dieser Folge geht es um die Begegnung mit den Menschen, die hier im Archiv arbeiten. Du hast dir meinen Kollegen Dr. Jens Niederhut ausgesucht, sozusagen. Wir haben uns überlegt, dass der ein interessanter Gesprächspartner sein würde, der nämlich in der Abteilung Archiv arbeitet und dort für die Digitalisierung unseres Archivgutes zuständig ist. Mehr Details dazu gibt es natürlich im Gespräch.
Aber ihr habt euch interessanter Weise ziemlich schnell am Anfang so richtig festgebissen an einem historischen Fall, der eigentlich gar nicht so bekannt ist. Nämlich an dem Fall oder an der Person Walter Praedel. Wie bist du auf den eigentlich gekommen?
Maximilian Schönherr: Also ich kam auf Walter Praedel durch eine typische Recherche als ich bei euch im Audio-Archiv gearbeitet habe. Da stellen wir Radio-Journalisten, Wissenschaftler Anträge und ich hab mich mit frühen Gerichtsprozessen beschäftigt. Und wir stießen eher durch Zufall auf Walter Praedel, weil der Prozess eigentlich total unbekannt ist. Das ist ein toller Zufall, dass der Kollege, mit dem wir heute reden, denselben O-Ton auch so toll fand. Weil der eigentlich tief vergaben ist. Man weiß zum Beispiel nicht genau, wie Praedel geschrieben wird. mit a e d e l oder mit ä d l und so weiter. Man weiß es nicht. In den Gerichtsakten – ich hab ungefähr so zehn Zentimeter Akten kopiert aus eurem Archiv – da ist immer wieder eine andere Schreibweise. Also, ein armer Tropf würde man sagen, ist der Praedel und zufällig haben wir beide ihn gefunden. Und er heißt Walter Praedel und er wurde leider hingerichtet. Aber das erklären wir gleich noch.
Dagmar Hovestädt: Na, da geht ihr noch ein bisschen intensiver drauf ein. Aber ich glaube, ich hab da auch über meinen Kollegen Jens Niederhut ein bisschen besser gelernt, dass der sozusagen mit unserer auditiven Hinterlassenschaft sehr intensiv schon beschäftigt hat und das irgendwie ganz spannend findet, dass wir eine relativ große Sammlung an Gerichtsprozessen im Archiv haben, ne. Deswegen ist das so ein gemeinsamer Ausgangspunkt über den Mitschnitt von Gerichtsprozessen sich auszutauschen und dann auch so einen Fall, den die Stasi wahnsinnig umfänglich dokumentiert hat in den frühen 60er Jahren, nochmal ein bisschen zu reflektieren und dann auf das eigentliche Thema, nämlich die Digitalisierung unserer vielen, vielen verschiedenen Unterlagen von eben Kassetten und Tonbändern über Video-/Filmgeschichten, Fotos und Papier. Ne, darüber werdet ihr euch unterhalten.
Maximilian Schönherr: Weil Jens Niederhut Chef der Digitalisierung beim BStU ist.
Dagmar Hovestädt: Das ist richtig. Du hast ihn an einer Stelle danach gefragt, ob man eigentlich wusste, wie genau die Technik in diesen Gerichtssälen aussieht, wenn man so einen Prozess mitschneidet. Weil die Qualität oft ziemlich gut ist. Und da ist mir eingefallen, dass ich vor etlichen Jahren mal in Gera, in dem dortigen damaligen Bezirksgericht – also heute Landgericht, glaube ich – unten, da gibt es einen größeren Gerichtssaal, wie in so einem klassischen Gerichtsgebäude. Der zentrale, große Gerichtssaal. Dass wir da den mal besucht haben und dann gab es da tatsächlich so – ich würde mal sagen – eine größere Besenkammer mit einem kleinen Fenster, durch das man direkt in den Gerichtssaal schauen konnte und da lagen noch so Mikrofonhalterstangen und man konnte sich eben vorstellen, dass da genau zwei Stasi-Leute sitzen, da ein Band mitläuft und die von der kleinen Loge, diesem merkwürdigen Aussichtsplatz, auf den Angeklagten schauen, auf den Richter und von hinter der Staatsanwaltschaft glaube ich. Ich bin nicht ganz sicher, ob sie auf den Anwalt, den Verteidiger geguckt haben oder auf die Staatsanwaltschaft – und den Prozess so verfolgt haben. Da war mir dann klar, dass das bei uns fast tausendfach oder mehr als tausendfach im Archiv liegt, ne. Diese immer wiederkehrenden Prozesse und diese Stasi-Leute, die da drin saßen und quasi live sich das angehört haben, ne.
Maximilian Schönherr: Ja, wobei man wirklich festhalten muss: Es war kein Geheimmitschnitt. Die Stasi hat ja so viel geheim mitgeschnitten, also über Wanzen in Privatwohnungen und so weiter, aber bei den Gerichtsprozessen ist es ganz offiziell. Alle wussten, dass hier mitgeschnitten wird.
Dagmar Hovestädt: Das machst du woran fest?
Maximilian Schönherr: Das merkt man zum Beispiel daran, dass in fast jedem Prozess, den ich gehört habe, der Richter oder jemand im Gericht sagt: "Gehen Sie ein bisschen näher ans Mikrofon!" Das ist allein schon ein Zeichen.
Dagmar Hovestädt: Ah!
Maximilian Schönherr: Die Mikrofone standen da, die waren für alle- - auch beim Elli Barczatis und Karl Laurenz-Prozess, der ja inzwischen sehr bekannt wurde – sind die Mikrofone dauernd da und weil die Angeklagten so eingeschüchtert sind, müssen sie immer näher treten, damit man sie überhaupt verstehen kann. Aber dann kann man sie sehr gut verstehen, das heißt sie sprechen in ein Mikro und gleichzeitig zum Richter.
Dagmar Hovestädt: Richter ist übrigens das Stichwort! Weil du am Anfang einen Namen nennst: Ziegler. Und da weiß man zunächst gar nicht, wer damit gemeint ist. Wer ist denn Ziegler?
Maximilian Schönherr: Ja, Walter Ziegler war ein DDR-Richter und zwar ein sehr prominenter Richter in der Anfangszeit der DDR in den 1950er und frühen 1960er Jahren. Wen Ziegler näher interessiert, der möge doch mal den Wikipedia-Artikel befragen "Walter Ziegler (Richter)", weil es gibt noch, glaube ich, einen Sportler der auch Walter Ziegler heißt.
Dagmar Hovestädt: Ich glaube, ansonsten haben wir gar nicht so viel vorzubereiten, um dem Gespräch zu folgen. Das ist eine ziemlich bunte Reise, ne, durch diese spezifische Form von Audio-Überlieferung, wie der Archivar nun mal sagt.
Also, dann sind wir soweit. Es geht los! Das Gespräch von Maximilian Schönherr mit meinem Kollegen Dr. Jens Niederhut, der im Archiv für die Digitalisierung unseres Archivguts zuständig ist.
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Dagmar Hovestädt: Gut, ich hab jetzt hier im Büro von Jens Niederhut das Mikrofon aufgebaut, das iPad aufgebaut und hab euch beide in Verbindung gebracht. Und ich glaube, ihr seid "ready to go", um euer Gespräch zu beginnen. Und das heißt ich überlasse euch jetzt diesem Gespräch und leg das Aufnahmegerät hin und dann kannst du, lieber Maximilian, übernehmen. Also, jetzt geht's los!
Maximilian Schönherr: Es ist schade, dass wir uns nicht direkt sehen, also begegnen. Wir sehen uns sozusagen über einen Video-Link. Aber wegen Corona können wir auch Ende Juli, da wir das aufnehmen an einem Mittag, nicht zusammen sitzen. Wäre dann schon spannender, dann könnten wir auch rüber gehen in eine Kammer, wo die ganzen Geräte liegen, oder?
Dr. Jens Niederhut: Ja, das könnten wir machen. Das ist hier zwei Stockwerke drunter, das ist unsere Werkstatt.
Maximilian Schönherr: Und die Werkstatt hat so einen Raum mit wirklichen Schmuckstücken, die habe ich schon mal besichtigt. Haben Sie ein Lieblingsstück dabei?
Dr. Jens Niederhut: Ich bin zu selten da und zu wenig dran an den wirklich technischen Prozessen, wo dann wirklich die Aufnahmetechnik aufgebaut wird, bereitgestellt wird, repariert wird; als dass ich da jetzt noch ein Lieblingsstück hätte.
Maximilian Schönherr: Jetzt müssten Sie gerade mal sagen, wer Sie sind und in welcher Funktion sie beim Stasi-Unterlagen-Archiv tätig sind.
Dr. Jens Niederhut: Ja, mein Name ist Jens Niederhut und ich bin seit 2014 beim Stasi-Unterlagen-Archiv tätig und ich war zunächst verantwortlich für die gesamte audiovisuelle Überlieferung. Also für Fotos, für Film, für Videos, für Ton-Überlieferung, aber auch für die maschinenlesbaren Daten der Staatssicherheit. Und leite seit 2017 den Bereich Digitalisierung. Das heißt also den Bereich, der Stasi-Unterlagen von ihrer analogen Form – Papier, Tonträger und so weiter – ins Digitale überträgt.
Maximilian Schönherr: Und wenn man das leitet, so wie Sie, dann bedeutet das: Sie haben heute Morgen Sitzungen gehabt, nehme ich mal an - jetzt mal ins Blaue spekuliert- und kommen nicht mehr zwei Etagen tiefer um zu gucken, wo der Aufnahmedraht ist, mit dem teilweise auch Mitschnitte aufgenommen wurden, Richtig?
Dr. Jens Niederhut: Das stimmt, tatsächlich zwei Sitzungen heute schon.
Maximilian Schönherr: Können Sie, ohne intimes zu verraten, sagen, worum es in den beiden Sitzungen im Prinzip ging?
Dr. Jens Niederhut: Ja, das eine war eine reguläre Sitzung, die ich mit den Sachgebietsleitern habe, und wo wir besprochen haben, was es aktuelles zu berichten gibt. Wie die Arbeitsstände in den Bereichen sind und so weiter. Und das andere war eine Sitzung, wo es – na ja, sag ich mal – um ein paar strategische Dinge ging, wie wir uns jetzt im nächsten Jahr weiterentwickeln wollen in einem sehr spezifischen Bereich – bei den maschinenlesbaren Daten.
Maximilian Schönherr: Okay! Jetzt habe ich eine Arbeit vor mir und da kommt ein Herr Praedel vor.
Dr. Jens Niederhut: Ja!
Maximilian Schönherr: Sprechen wir mal über den Praedel.
Dr. Jens Niederhut: Ja!
Maximilian Schönherr: Ich mag den Praedel total gern. Ich hab ihn wahrscheinlich parallel mit Ihnen kennengelernt. Erzählen Sie mal! Was hat er für einen Vornamen, nochmal?
Dr. Jens Niederhut: Walter.
Maximilian Schönherr: Wie Ziegler.
Dr. Jens Niederhut: Stimmt. Ja.
Maximilian Schönherr: Können Sie den Fall gerade mal erzählen, was Sie noch wissen? Ich erzähl dann das, was ich an schauerlichen o-Tönen noch im Kopf habe.
Dr. Jens Niederhut: Ja, Walter Praedel war ja ein eher einfach gestrickter Zeitgenosse, der in der DDR – ich glaub in der Landwirtschaft tätig war, wenn ich mich richtig erinnere. Und er hat zum Jahrestag der DDR 1961, also kurz nach dem Bau der Berliner Mauer im Oktober '61, eine Scheune angezündet. Das war durchaus auch gedacht als politischer Akt, als Signal gegen die Machthaber und so wurde es eben auch wahrgenommen. Er wurde relativ bald verhaftet und vor Gericht gestellt. Und wurde in einem ja durchaus aufwendigen und nicht ganz undramatischen Prozess zum Tode verurteilt für diese Brandstiftung. Und hingerichtet.
Maximilian Schönherr: Man hat in diesen Prozessen späte 50er und Anfang 60er Jahre – ich hab einige gehört, Sie haben bestimmt viel mehr gehört – so eine Stimmung, die gerne an den Nationalsozialismus mit anschließt. Und das hat bei Praedel – ich hab den O-Ton auch gehört. Es ist ein langer O-Ton, hat mehrere Stunden Prozessmitschnitt. Ich glaube, es war an einem Tag, vielleicht auch an zwei Tagen, hab ich jetzt gar nicht mehr so in Erinnerung. Man versucht dann den Leuten einen Strick daraus zu drehen, was sie im Zweiten Weltkrieg getan haben. Das war bei Praedel glaube ich auch der Fall.
Dr. Jens Niederhut: Es wird alles vermischt. Das ist so ein klassischer politischer Prozess. Wo die eigentliche Tat, diese Brandstiftung, vermischt wird mit der tatsächlichen oder vermuteten politischen Haltung des Mannes, mit seinen Besuchen in West-Berlin, mit seiner Mitgliedschaft in – ich weiß nicht mehr in welchem – in einem der Vertriebenenverbände. Und der Tat mit eben dem, was in dem Zweiten Weltkrieg war. Und er war Soldat im Zweiten Weltkrieg und hat tatsächlich ja auch an Kriegsverbrechen teilgenommen in Polen und in der Sowjetunion. Er hat im Prozess auch zugegeben, dass er also an Erschießungen von Zivilisten beteiligt war. Und das fällt dann alles zusammen, nicht wahr. Also die Kontinuität, der Kriegsverbrecher der dann sich als Revanchist betätigt in der Bundesrepublik und dann in der DDR eben die Brandstiftung unternimmt und eine Scheune anzündet.
Maximilian Schönherr: Und es kommt auch – typisches Motiv für diese Zeit in Gerichtsprozessen der DDR – vor, dass er den RIAS gehört hat. Er hat einfach West-Radio gehört und da hat er die Willy Brandt-Rede gehört. Wo Willy Brandt sinngemäß sagt: Jeder, der hier noch mitläuft, also in der DDR, ist ein Verräter. Und das hat er sich zu Herzen genommen, das war sozusagen der – jedenfalls laut dem Prozess – der ausschlaggebende Punkt für seine Tat. Wobei es auch noch einen ganze pragmatischen Ausschlagpunkt gab, denn – das habe ich in den Akten erst gelesen, das wurde im Prozess glaube ich absichtliche unterschlagen – die eine Scheune, da war Vieh drin und das Dach war Leck. Und er hat, ich glaub für seine Schwägerin oder so, dauernd beobachtet, dass die einen Antrag nach dem anderen stellt, damit das Dach endlich repariert wird und das Vieh nicht so jämmerlich zugrunde geht drunter. Es regnete immer rein und ist kalt und so weiter. Und das wurde nicht gemacht und [betont: das] war eigentlich sein Frust und da hat er diesen Feiertag abgewartet, wo niemand da war, und dann hat er die Scheune angezündet. Das ist meine Perspektive der ganzen Geschichte.
Dr. Jens Niederhut: Ja, es fällt ein persönlicher Frust zusammen. Es war eigentlich keine jetzt wirklich politische Tat, dass sehe ich genauso. Es war eine persönliche Frustration, die sich aus vielen Dingen speiste. Auch aus dem Mauerbau, sicher auch, dass er nicht mehr die Besuche in West-Berlin machen konnte und aus einer persönliche Frustration heraus steckt er dann diese Scheune an. Und das wird dann quasi aufgeblasen als ein Fanal von weltpolitischer Bedeutung – letztlich.
Maximilian Schönherr: Wobei der Praedel, Walter Praedel dann nicht in der DDR-Presse auftaucht. Also entweder gar nicht oder nur ganz kurz.
Dr. Jens Niederhut: Ganz am Rande, ja.
Maximilian Schönherr: Ganz am Rande, ich habe es jetzt nicht weiter verfolgt, aber das bemerkenswerte ist daran: Warum ist dieser Prozess mitgeschnitten worden? Und anschließende Frage: Was können wir – Sie als Mitarbeiter im Stasi-Unterlagen-Archiv und ich als Journalist - draus machen? Ist es relevant, was wir da hören, oder müssen wir uns auf die Akten, die wir lesen können, kaprizieren; gibt es vielleicht noch anderes Material, Karteikarten oder so, oder wie geht das alles zusammen? Was sagen Sie dazu?
Dr. Jens Niederhut: Es ist ja manchmal schwer zu sagen, warum manche Prozesse mitgeschnitten wurden und manche nicht. Oder warum manches überliefert ist und manches nicht. Letztlich war es eine Dokumentation von Dingen, auch für die Stasi selbst. Es gab ja auch keine weiteren Absichten mit dem Tonband selbst, sondern es wurde hier dokumentiert.
Maximilian Schönherr: Es war kein Schauprozess.
Dr. Jens Niederhut: Kein Schauprozess. Es gab natürlich viel bedeutendere Prozesse gegen prominentere Oppositionelle oder tatsächlich eben die Schauprozesse. Aber letztlich – meine Idee ist dahinter ja auch immer, dass es schon so eine Art – dass man das schon auch hinterlassen wollte. Letztlich baut die ganze Ideologie ja auf dem Gedanken auf, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, nicht wahr? Und das zu dokumentieren, wie man eben diesen Kampf für den Kommunismus geführt hat, das ist glaube ich schon so ein Grundmotiv hinter der Dokumentation hier beim Ministerium für Staatssicherheit.
Was wir heute daraus machen können hängt natürlich immer von der Perspektive ab. Also mir ist es wichtig, dass man eben auch mal diese Prozesse betrachtet oder diese Tondokumente betrachtet, die nicht so im Zentrum stehen. Die nicht leicht zugänglich sind, weil sie eben auf berühmte oder bekannte Persönlichkeiten oder bekannte Fälle rekurrieren. Sondern die kleineren Fälle, die eben nicht so bekannt sind und die dann trotzdem eben aus vielerlei Perspektiven interessante Erkenntnisse versprechen. Es ist ja gerade ein Prozess: Er redet sehr ausführlich über seine Zeit im Zweiten Weltkrieg. Er redet sehr ausführlich über seine Erfahrungen in der DDR, über seine Besuche in West-Berlin. Und das sind ja alles interessante Informationen! Wenn man da mal ein Gesamtbild haben möchte, wenn man ja da auch spezifische Fragen auch mal verfolgen möchte. Natürlich gibt es auch sonst viele O-Töne von Zeitzeugen über den Zweiten Weltkrieg, aber es ist trotzdem eine spezielle, eine spezifische Perspektive, weil sie ja doch recht unverstellt, ungeschminkt dort rüber kommt.
Maximilian Schönherr: Also da ist für mich – ich hab ja viel mit diesen Prozessen auch im Rundfunk gearbeitet, also daraus Features gemacht – immer auch interessant: Was kann ich denn parallel dazu lesen in Ihrer Behörde, in dem Archiv? Und ich finde dann natürlich Unmengen an Akten, jetzt auch zu Walter Praedel. Aber nicht das, was er gesagt hat! Es ist das Urteil natürlich drin. Ich weiß gar nicht, ob das erhalten ist als Audio. Das ist oft ja weggeschnitten! Aber man liest andere Dinge, als man eigentlich hört. Das heißt man müsste eigentlich – und jetzt sind wir bei dem, was Ihre Kernaufgabe zu sein scheint, bei der Digitalisierung - man müsste eigentlich vertexten, was man da hört. Oder?
Dr. Jens Niederhut: Sie meinen den Mitschnitt quasi so aufzubereiten- -
Maximilian Schönherr: Transkribieren.
Dr. Jens Niederhut: Transkribieren. Also in ganz, ganz kleinem Umfang geschieht das, nicht in meinem Bereich, aber die Öffentlichkeitsarbeit tut das. Man kann auf der Homepage verschiedene Dokumente anhören und dann den Text dazu lesen. Ansonsten sind das natürlich gigantische Aufwände, nicht wahr. Also Texte zu transkribieren, Stunden über Stunden – das ist eine sehr aufwendige Aufgabe. Das können wir jetzt allumfassend sicherlich nicht leisten. Man kann hoffen, dass die Technik sich da noch ein bisschen weiterentwickelt. Es gibt ja inzwischen entsprechende Software, die aus Sprache Text macht, aber die halt nach wie vor schon große Schwierigkeiten mit schlechten Aufnahmen, mit Dialekten, mit Akzenten, mit nicht- -
Maximilian Schönherr: Und sie setzt keine Satzzeichen, zum Beispiel, so richtig. Also Satzzeichen sind für mich das Problem dabei.
Dr. Jens Niederhut: Ja.
Maximilian Schönherr: Selbst, wenn die die- - weil, die Aufnahmen, die sind ja in einer exzellenten Qualität!
Dr. Jens Niederhut: Die Prozesse schon, das stimmt, ja.
Maximilian Schönherr: Ja und zwar je früher die Prozesse stattfanden, umso besser kommt mir die Aufnahmequalität vor. Ich weiß nicht, woran das lag?!
Bei Praedel könnten wir nochmal fragen, ich weiß es nämlich nicht: Der Prozess fand in Frankfurt an der Oder statt. Walter Ziegler war der Richter, der war quasi verbannt aus dem höchsten Gericht der DDR in Berlin, weil seine Urteile vermutlich zu hart waren in Berlin, aber er hat weiterhin hart geurteilt. Aber wie kommen die Leute dazu, da Mikrofone aufzustellen? Wer wechselt die Bänder? Darüber weiß man doch eigentlich gar nichts, oder?
Dr. Jens Niederhut: Fast nichts. Es gibt so ein paar Fotos aus den Gerichtssälen, wo man das sieht. Wo man das so ein bisschen visuell fassen kann. Wo die Mikrofone stehen oder es gibt auch eine Handvoll Aufnahmen von so einem Tonstudio im Gerichtssaal, das gibt es auch. Aber nicht viel. Und in der Tat – ich hab mich jetzt auch nicht bemüht, das mal genauer herauszufinden. Möglicherweise ist es auch keine Überlieferung, die jetzt bei uns ist!? Das warne vielleicht gar keine Leute von der Stasi, vielleicht müsste man da mal in die Gerichtsakten schauen oder in die Verwaltungsakten des Gerichtes. Aber in der Tat, da wissen wir relativ wenig drüber.
Maximilian Schönherr: Aber Ziegler sagt zum Beispiel in mehreren Prozessen: "Gehen Sie mal näher ans Mikrofon!" Also, allen ist klar hier wird aufgenommen. Vielleicht hat es der Richter selber angeregt oder angeordnet? Man weiß es einfach nicht. Es ist wirklich sehr seltsam, denn in der Bundesrepublik kann nicht so einfach der O-Ton mitgeschnitten werden. Sie nennen in diesem Aufsatz, den Sie geschrieben haben, den ersten Auschwitzprozess, zum Beispiel.
Dr. Jens Niederhut: Ja, wo die Tonaufnahmen durch einen glücklichen Zufall ausnahmsweise überliefert sind. Also es wurden in relativ vielen, auch wichtigen Prozessen, wurden Tonmitschnitte auch i der Bundesrepublik gemacht, bloß die Aufnahmen sind nicht erhalten! Weil die Aufnahmen ausdrücklich nur dem Gericht dienten. Also, dass der Richter oder die Richter Dinge noch einmal nachhören konnten; die sie vielleicht nicht mehr so genau in Erinnerung haben. Gerade bei großen Prozessen. Aber zur weiteren Verwahrung waren diese Tonaufnahmen nicht gedacht und es ist auch in den aller, aller meisten Fällen so gemacht worden. Also Auschwitz ist eine große, große Ausnahme, der Auschwitzprozess, dass der erhalten ist – großes Glück.
Und ansonsten gibt es Splitter vom Baader-Meinhof-Prozess, das sind aber wirklich nur wenige Aufnahmen. Und ansonsten ist nichts überliefert, was eigentlich ja schon bedauerlich ist.
Maximilian Schönherr: Also beim Stammheim-Prozess war es offenbar so, dass irgendein Gerichtsdiener oder –mitarbeiter angewiesen wurde: Bitte, für den Richter – nimm es doch auf, denn es ist ein solches Chaos, alle reden durcheinander! Also der spätere Innenminister Schily, zum Beispiel, der damals Anwalt für die Rote Armee Fraktion war, schreit ja oft so rum und geht dazwischen. Dann hört man drei oder vier Stimmen parallel und so weiter. Und da mussten die Gerichtsschreiber irgendwie ein Protokoll haben und haben das dann abgeschrieben. Das hat2 man immer wieder überspielt, diese Bänder, und das, was übrig blieb aber hatte immer noch einen ziemlich erstaunlichen Stimmungseindruck geliefert. Und das ist das tolle an diesen Audiogeschichten. Deswegen machen wir diesen Podcast.
Dr. Jens Niederhut: Ja.
Maximilian Schönherr: Deswegen habe ich das Archivradio in die Gänge gesetzt und deswegen sind Sie Leiter der Digitalisierung von multimedialen Inhalten wahrscheinlich, ne?
Dr. Jens Niederhut: Also gerade die Tonüberlieferung ist gerade hier auch faszinierend und sie liefert eben auch Eindrücke über die Akten hinaus. Und eben nicht nur Eindrücke, sie liefert auch Erkenntnisse über die Akten hinaus. Das ist ja nicht nur, sag ich mal, ein Zusatz zu den Akten, der nochmal was emotionalisiertes liefert sondern es liefert wirklich auch historische Erkenntnisse, die über die schriftliche Überlieferung hinausgehen.
Maximilian Schönherr: Und da ist Audio – das ist jetzt eine Frage – wirklich was Besonderes im Verhältnis zu Video? Sie haben ja auch Mitschnitte – Sie haben Filme auch.
Dr. Jens Niederhut: Ja, na die Filmüberlieferung jetzt bei uns ist in ihrer Bedeutung sicherlich nicht ganz gleichzusetzen gegenüber der Tonüberlieferung. Sie ist wesentlich kleiner, und sie besteht nur zu einem geringen Teil aus Filmen oder Videos, die Auskunft geben über das MfS und das Wirken des MfS. Das was wir haben ist auch durchaus bedeutend, also Lehrfilme beispielsweise, wo man viel erfährt über die Arbeitsweise des MfS, aber auch über Einzelfälle. Das sind schon wirklich wichtige und bedeutende historische Quellen. Aber es ist eben quantitativ deutlich geringer als die Tonüberlieferung.
Maximilian Schönherr: Also nicht nur "Der schwarze Kanal"-Mitschnitte.
Dr. Jens Niederhut: Nein, aber das macht eben auch einen nicht unerheblichen Teil der Überlieferung aus, Mitschnitte aus dem West-Fernsehen, auch aus dem Ost-Fernsehen. Hat natürlich auch seinen Reiz, sich damit zu beschäftigen: Was hat die Stasi interessiert? Aber hat jetzt nicht die gleiche historische Bedeutung wie beispielsweise eben Prozessmitschnitte, Überwachungen, et cetera.
Maximilian Schönherr: Wie viele Tondokumente – konnten Sie sie überhaupt schon quantifizieren? Ne, ich mein, Sie hatten jetzt 30 Jahre Zeit – also nicht Sie persönlich, aber eben seit dieses Archiv geöffnet wurde, seit die Stasi gestürmt wurde.
Wie viele Bänder gab es? In welchen Hüllen, in welchem Zustand waren die? Und was gibt es heute noch, nachdem ja vieles durchgehört wurde und auf vielen Bändern gar nix war.
Dr. Jens Niederhut: Ja das, also 1990 waren es etwa – oder '91, '92, wann auch immer man da die erste Revision gemacht hat – waren es etwa 170.000 Tonträger. Ein Tonträger ist, rein von der Materialität her, ein Tonband oder eine Kassette oder ein Tondraht oder eine Schallplatte. 170.000 etwa und das ist inzwischen reduziert auf etwa 24.000 Tonträger. Das heißt, der überwiegende Teil der aufgefundenen Tonträger war leer! Und jetzt ist inzwischen weitestgehend reduziert auf den Bestand, der eben entsprechende Informationen enthält.
Maximilian Schönherr: Ich kam irgendwann mal aus der Mittagspause, als ich bei Ihren Kolleginnen im Audio-Archiv gearbeitet habe, zurück und da saß Frau Steinbach, die da eben eine Kollegin von Ihnen ist, in ihrem Zimmer und ich klopfte an und hab gefragt: Was hören Sie? Weil es lief eine Kassette und wir hörten eben nichts. Da sagte sie: Das ist das meiste, das ist der größte Teil meines Jobs, dass ich Kassetten abhören muss, ob vielleicht doch noch etwas drauf ist. Aber auf der ist nichts drauf.
Dr. Jens Niederhut: Ja, das ist leider so. Es wurde natürlich auch inhaltlich priorisiert, nicht wahr. Die Sachen lagen ja nicht alle in gleicher Art und Weise vor sondern man wusste ja: Das hier ist die archivierte Ablage, da hat die Stasi bestimmte Tonbänder archiviert oder das hier sind Tonbänder von einer Abteilung, die eine hohe Bedeutung hatte. Und diese Sachen hat man sich natürlich zuerst herausgezogen und hat sie in den 90er Jahren dann eben inhaltlich beschrieben. Die meisten von diesen Sachen haben wir dann inzwischen auch digitalisiert. Und was jetzt noch übrig ist, ist natürlich so ein bisschen der Rest. Wir sind jetzt in den letzten Zügen der Erschließung der Tonträger und da ist das übrig, wo man von vorn herein eigentlich gesagt hat: Da wird nicht viel Interessantes drauf sein. Und das ist dann in der Realität auch tatsächlich so.
Und wir hören jetzt die letzten Tonbänder oder Kassetten durch, auf denen aber meistens nichts mehr drauf ist.
Maximilian Schönherr: Wenn wir uns das Archiv mal vorstellen – das gab ja viele Stasi-Stellen, wo die IMs zum Beispiel ihre Protokolle aufgesprochen haben. Das sind mit die spannendsten Sachen. Die Prozesse, die Prozessmitschnitte, die haben ja sowas ganz offizielles, waren auch sehr professionell gemacht, aber die unzähligen Kassetten! Sie haben ja wirklich Unmengen davon, wo ein IM eben sagt: Na ja, da war ich an der Ecke und da ist er wieder weggegangen. Und solche also völlig unbedeutende Geschichten – die aber natürlich sehr bedeutend sind im ganzen Kontext!
Wo fanden die sich? Also, Sie waren noch nicht da bei dem Archiv, aber wissen Sie, wo jetzt das meiste ist zum Beispiel? Sind viele Bänder, die meisten, unbeschriftet? Würden Sie uns da einfach mal visuell erzählen? Das weiß ich auch selber nicht, weil ich durfte nie in diese Keller – oder vielleicht sind sie gar nicht in einem Keller? Ich durfte da gar nicht hin.
Dr. Jens Niederhut: Also man kann es jetzt kaum verallgemeinern, es ist sehr unterschiedlich. Es liegen Kassetten im Vorgang, also bei der Akte dabei. Es liegen Kassetten in Ablagen und sind entsprechend beschriftet, sodass man sie einem Vorgang zuordnen kann. Und es gab Kassetten, die lagen dann in Ablagen, wo man sie nicht einem spezifischen Vorgang zuordnen kann, waren dann eventuell auch nicht beschriftet. Möglicherweise gab es aber trotzdem eine Ordnung, sodass der MfS-Mitarbeiter wusste, was er da hatte. Aber diese Ordnung haben wir eben verloren oder sie wurde zerstört '89-'90. Sodass es eben einen sehr großen Teil von Unterlagen gab, die nicht zuzuordnen waren und die dann möglicherweise teilweise wieder zugeordnet werden konnten, wenn man aus der Kassette, aus der Tonaufnahme eben darauf schließen konnte, wer das jetzt gerade ist, der spricht. Und ja, so dass da eben kaum eine Verallgemeinerung möglich ist.
Aber vieles wichtige war natürlich auch sorgfältig abgelegt. Also wir unterscheiden ja eben zwischen den Dokumenten, die die Stasi selber schon archiviert hat, wo die Stasi selber gesagt hat: Das muss bewahrt werden; und dem, was quasi aus dem laufenden Geschäft 1989/90 eben übrig geblieben ist.
Maximilian Schönherr: Mhmh.
Dr. Jens Niederhut: Es gibt auch eine ganze Reihe von Unterlagen, die dann eben nicht mehr zuordbar sind. Und dann hat man eben Tonaufnahmen, Überwachungsaufnahmen auch häufig, wo zwar etwas zu hören ist, aber wir wissen nicht Wo ist es aufgenommen worden, Wer spricht da und das wird sich ja auch in den meisten Fällen nicht mehr zuordnen lassen.
Maximilian Schönherr: Wenn ich jetzt bei Ihnen wäre, in Berlin-Lichtenberg – Sie sind ja in dem Gebäudekomplex, wo das Ministerium für Staatssicherheit seinen Dienst tat – würde wir die Bänder alle dort finden? Die sind aus den Außenstellen alle hier gelandet?
Dr. Jens Niederhut: Genau, es ist alles hier im Gebäude. Es ist so, dass Tonbänder und Kassetten kühl gelagert werden müssen. Es gibt also spezielle Räume dafür, die entsprechend gekühlt sind. In den Außenstellen haben wir keine entsprechenden Speziallager, insofern ist das alles hier.
Maximilian Schönherr: Das heißt wir könnten jetzt, wenn wir zusammen bei Ihnen wären, da hingehen und könnten zum Beispiel mal zwei unbeschriftete Ton- - nee, jetzt gehe ich mal nicht von Tonkassetten aus sondern Tonbändern. Also Kartons aus dem Regal holen und wir könnten ziemlich sicher sein, die sind schon digitalisiert und erschlossen, soweit es eben geht. Oder?
Dr. Jens Niederhut: Also erschlossen zu einem sehr großen Teil, über 90 %.
Maximilian Schönherr: Sieht man das dem Bandkarton an, dass er erschlossen ist?
Dr. Jens Niederhut: Ja, dann hat er eine Signatur. Also ein archivisches Merkmal, um ihn eben eindeutig identifizieren zu können. Und mit dem Digitalisieren sind wir jetzt nicht ganz so weit, aber mehr als die Hälfte der Bänder ist auch schon digitalisiert, ja.
Maximilian Schönherr: Aber wenn man sie erschließt, digitalisiert man sie doch "on the fly" sozusagen, oder?
Dr. Jens Niederhut: Na ja, wir haben da ja, sag ich mal, eine zeitliche Verzögerung drinne. Also erschlossen wird seit 1992, digitalisiert wird seit 2009. Insofern sind das keine parallelen Prozesse gewesen.
Maximilian Schönherr: Hat sich die Digitalisierung seit 2009 geändert? Dass man sagt: "Wir brauchen heute eine andere sampling Frequenz, mal ganz technisch gesprochen. Wir müssen Metadaten in einem speziellen Programm in einer speziellen Art hinterlegen, damit es auch andere Archive nutzen können" – gibt es so einen Konsens in Audio-Archiven?
Dr. Jens Niederhut: Ja, also es gibt standardisierte Regeln, die sind aber im Audio-Bereich relativ konstant, sodass es für den Digitalisierungsprozess selber eigentlich keine wesentlichen Änderungen gegeben hat.
Was geändert wurde ist eher, sage ich mal, der etwas nachgelagerte Prozess. Also der Prozess von der Fertigstellung des Digitalisats bis hin zum Import in einer Art von digitalem Endarchiv. Das hat sich geändert und dass wird sich auch noch weiter ändern. Da sind zusätzliche Standards hinzugekommen. Aber die sind weniger technisch als vielmehr organisatorisch. Also, als man 2009 angefangen hat zu digitalisieren da war ganz klar: Wir digitalisieren und damit retten wir die Sachen. Und da war das erst mal der Punkt, an dem man aufgehört hat, weiterzudenken. Und da ist man heute sicherlich deutlich weiter, gerade im Audiobereich ist das ja so: Die Sachen, die verschwinden, die Originale, nicht wahr. Also die Magnetbänder, die sind dann irgendwann nicht mehr zu hören. Da ist nichts mehr drauf, das kann auch nicht mehr rekonstruiert werden zu irgendeinem Zeitpunkt. Und das ist auch kein ferner Zeitpunkt in der Zukunft, sondern das ist sehr aktuell, dass uns Bänder verloren gehen, die dann im Original einfach nicht mehr da sind. Dann haben wir nur noch das Digitalisat!
Und jetzt möchten Sie, wenn Sie dann zu uns kommen als Nutzer, möchten Sie ja schon eine gewisse Gewähr haben, dass dieses jetzt ein ordentlich erstelltes Digitalisat ist; was niemand verfälscht hat, was niemand manipuliert hat. Und da haben wir entsprechende Prozesse eingebaut und entwickelt, dass wir plausibel machen können, dass das wirklich das Digitalisat ist, was von diesem Band erstellt wurde und zwar vollständig authentisch – und ohne dass jemand die Möglichkeit hatte, das im Nachhinein zu manipulieren.
Maximilian Schönherr: Und so authentisch, dass Sie auch keine – bei schwer verständlichen Aufnahmen – Rauschunterdrückung, also so eine Entrauschung einführen? Also irgendwelche Equalizer setzen und so weiter? Das bleibt wie es ist?
Dr. Jens Niederhut: Es bleibt, wie es ist. Es soll möglichst alle Toninformationen, die auf dem Band sind, sollen in die digitale Welt übertragen werden. Und auch, wenn das Rauschen ist oder Hintergrundgeräusche. Und dann kann man ja für die Nutzungskopie, die man dem Nutzer zur Verfügung stellt, kann man nachbearbeiten und es leichter für den Nutzer machen, die Sachen hören zu können. Aber erst einmal soll es eine möglichst weitgehende Übertragung aller Toninformationen in die digitale Welt sein.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: 111 Kilometer Akten –
Sprecher: …den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.
Maximilian Schönherr: Ich mache jetzt einen kurzen Schlenker zu Freisler, dem schreienden Richter der Nationalsozialisten – also einiges vor der DDR-Zeit. Sie ziehen in Ihrem Aufsatz parallelen, weil der O-Ton so wichtig ist. Wenn man Freisler aufschreiben würde, dann würde der natürlich anders – in Anführungszeichen – "klingen", als wir ihn gehört haben. Warum ist Ihnen das wichtig gewesen, diese Parallele zu ziehen?
Dr. Jens Niederhut: Ich fand es ganz spannend, wenn man Freisler im Kontrast hört. Also im Kontrast zu Beispiel zu Hilde Benjamin, die ja obwohl sie gar nicht so viele politische Prozesse als Richterin ja geführt hat, trotzdem ja die bekannteste Richterin der DDR ist, die man am ehesten damit verbindet.
Eigentlich ist es eine sehr unterschiedliche Art von Prozessführung und das fand ich spannend. Also Freisler eben, der brüllt und schreit und beleidigt und lässt die Leute nicht zu Wort kommen und schüchtert sie ein, macht sie klein. Und Frau Benjamin ist anders. Benjamin ist ironisch und- -
Maximilian Schönherr: Ziemlich ruhig!
Dr. Jens Niederhut: Ruhig, komplett ruhig. Also sie liest Todesurteile mit einer Stimme ab, ohne dass die auch nur schwankt! Aber auch in der Verhörführung, der Vernehmung, ist sie sehr, sehr ruhig aber eben ironisch, sarkastisch, führt die Leute auch vor! Also es ist jetzt keine faire Prozessführung, sondern sie setzt ihre sicherlich nicht unerheblichen rhetorischen Fähigkeiten und ihre nicht unerhebliche Intelligenz dazu ein, die Angeklagten vorzuführen. Es ist trotzdem aber einen gewissen Kontrast, den ich interessant fand. Man kann eben Parallelen ziehen von der Art und Weise wie sich nationalsozialistische Ideologie und sozialistisch-kommunistische Ideologie eben auch unterscheiden in ihrem öffentlichen Auftreten. Auf der einen Seite eben das sehr schreiende und laute und militaristische des Nationalsozialismus. Und ja, der Kommunismus hat anders funktioniert, nicht wahr. Wenn man zum Beispiel einen kommunistischen Parteitag sich anhört, wo unendlich lange Statements verlesen werden mit tonloser Stimme, dann erinnert das sehr an die Prozessführung, auch von Hilde Benjamin. Das fand ich ganz spannende Parallelen und die wollte ich in dem Aufsatz einfach mal so ein bisschen aufzeigen.
Maximilian Schönherr: Und Sie machen dann ja die Parallele auf, dass Walter Ziegler, der Richter von dem wir vorhin sprachen, ein bisschen sich diesen Tin abgeschaut hat. Er sit ja ganz ähnlich scharf und präzise und wird nie zu laut.
Dr. Jens Niederhut: Das denke ich schon, dass die Hilde Benjamin da auch stilbildend wirkte. Auch wenn sie selber nur wenige Prozesse geführt hat war sie ja doch dann eine bedeutende Person im Justiz-System der DDR und ja, das denke ich schon, dass sich da Ziegler oder sicherlich auch andere davon beeinflusst wurden.
Maximilian Schönherr: Und man hatte ein riesiger Problem, am Anfang der DDR-Gründung 1949, Richter zu finden, Juristen, Anwälte und so weiter. Und was in den Prozessen, auch bei Praedel, praktisch überhaupt nicht auftaucht sind Verteidiger. Also die hört man im Praedel-Prozess schon, aber die sagen quasi: "Wir plädieren für ein mildes Urteil." Das ist das, was sie sagen. Mehr sagen sie eigentlich nicht, ne?
Dr. Jens Niederhut: Genau, die spielen eigentlich keine Rolle und das zieht sich ja durch bis – wenigstens bis in die 70er Jahre hinein. Also vielleicht so langsam. Dann zum Beispiel in dem Prozess gegen Rudolf Bahro oder so. Wo dann jemand wie Gregor Gysi auftritt zum Beispiel.
Maximilian Schönherr: Ah, den Prozess kenne ich nicht im O-Ton. Also Gysi sagt dann wirklich was fundamentales, oder?
Dr. Jens Niederhut: Ja, er spielt eine Rolle, sagen wir es mal so. Er spielt eine Rolle im Prozess, die deutlich ist. Also er plädiert wirklich, ne. Man kann seine Rolle da sicherlich unterschiedlich bewerten, aber er nimmt eine Rolle ein, wo er wirklich ein wichtiger Prozessbeteiligter ist.
Maximilian Schönherr: Mhmh. Wichtiger Prozessbeteiligter in diesen alten Prozessen in der DDR sind immer die Staatsanwälte. Das sind die eigentlichen Schreihälse, hab ich den Eindruck. Da ist der Richter immer ganz – na ja, ganz brav im Verhältnis dazu.
Aber wir müssen nicht mehr über diese akustischen Befindlichkeiten jetzt reden, aber das ist eben das, was an den Bändern fasziniert. Das liest man in den Manuskripten nicht. Abgesehen davon – das muss ich wirklich feststellen! – man liest die meisten Dinge, die wir hier hören, eben nicht. Die sind nicht auf Papier gebracht.
Dr. Jens Niederhut: Das sehe ich auch so, ja.
Maximilian Schönherr: Haben Sie denn einen Lieblings-O-Ton oder einen O-Ton, der Sie gerade beschäftigt?
Dr. Jens Niederhut: Also ich hab jetzt natürlich einen von Praedel herausgesucht, nicht wahr. Der schließt wohl ganz gut an das an, was wir besprochen haben, gerade am Anfang. Wenn Ziegler ihn vernimmt und diese ganzen Sachen vermengt. Also das Kriegsverbrechen in der Sowjetunion, die Scheune, die Besuche in West-Berlin, die Verbundenheit zur alten Heimat als Vertriebener. Wo das alles in eins fließt und quasi daraus dann ja das Bild eines Revanchisten und Staatsfeindes entsteht.
Maximilian Schönherr: Wir hören also jetzt einen O-Ton von 1961.
Dr. Jens Niederhut: Ja.
[Archivton]
[Richter Ziegler:] Neunfacher Mord! Ja?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Sind Sie also zu Recht bestraft worden!? Müssen S'sich erst heute überlegen! Wegen neunfachem Mords! Brandstiftung! Zu Recht bestraft? [Sprechpause] Bis heute keine leeren [vermutlich: Mitwirkungen]- -
[Praedel:] [anfangs parallel] Ich bin – ich bin richtig bestraft worden dadurch.
[Richter Ziegler:] Sind richtig bestraft worden? Und dann heute noch Hass! Da kam doch der Friedensvertragsentwurf!? Ja? Den ha'm [haben] sie [vermutlich: wohl] gelesen? Den die Sowjetunion vorgeschlagen hat?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Was ham Sie'nn dazu so gedacht? Waren Sie damit einverstanden? [Sprechpause] Waren Sie damit einverstanden? Mit'm Friedensvertrag!? Den die Sowjetunion vorschlägt? Ohne Grenzforderungen, ohne Annexionen? Ohne Revanchismus?
[Praedel:] Mh - me-nein.
[Richter Ziegler:] Warum denn nich'? Weil's keine Gebietsforderungen gab?
[Pradel:] Nein.
[Richter Ziegler:] Deswegen oder weshalb waren Sie damit nich' einverstanden? [Sprechpause] Muss doch 'n Grund gehabt haben, warum Sie damit nich' einverstanden waren.
[Praedel:] Wollte meine Heimat wiedersehen. Mal.
[Richter Ziegler:] Sie wollten Gebietsforderungen drin haben!?!
[Praedel:] [dazwischen, leiser] Ja.
[Richter Ziegler:] Ja?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Revanchismus! Landsmannschaftstreffen! Ja?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Am 13. August - setzt sich ja denn fort. Da war'n Sie auch nich' einverstanden?
[Praedel:] Nein.
[Richter Ziegler:] Warum nich'? War das 'ne Beschränkung Ihrer Freiheit?
[Praedel:] Weil ich nich' mehr kann fahr'n nach Berlin hin.
[Richter Ziegler:] Also Ihre Freiheit is' beschränkt?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Ja?! Sie könn'n nich' mehr zum Landsmannschaftstreffen fahr'n!
[Praedel:] Zu meiner Schwägerin ooch [auch] fahr'n.
[Richter Ziegler:] Zur Schwägerin fahr'n? Sie in West-Berlin informier'n? Ja?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Die Freiheit, sich revanchistisch zu betätigen ist beschränkt! Ja?
[Praedel:] Ja.
[Richter Ziegler:] Das is' auch der Sinn des Antifaschistischen Schutzwalles.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Sie müssen sich auch um die Digitalisierung von Schriften kümmern. Das ist ja relativ einfach, aber das ist viel, viel mehr, oder? Ich denke an die Schnipsel.
Dr. Jens Niederhut: Die Schnipsel- -
Maximilian Schönherr: Nein, müssen Sie nix dazu sagen. Das ist ein ganz anderes Thema. [Jens Niederhut lacht] Die Säcke, die da noch rumstehen.
Dr. Jens Niederhut: Genau, die Säcke sind nicht mein Thema. Aber mein Thema ist das, wie auch der Podcast hier heißt, nicht wahr – 111 Kilometer Akten. Die auch zumindest zu einem gewissen Teil digitalisiert werden sollen und auch digitalisiert werden schon. Aber da stellt sich die Mengenproblematik natürlich ganz anders. Es ist immer so eine Zahl, 111 Kilometer, aber wenn man das dann mal vor sich sieht oder in Seiten betrachtet, dann sind das unendliche Mengen von Papier, die digitalisiert werden müssen. Und es ist eben auch nicht so, dass es ein einfacher Prozess ist. Es ist nicht so wie wenn man einen modernen Scanner für modernes Schriftgut hat. Aktuelles Papier, wo man große Stapel in den Einzug rein tut und dann kommen die Digitalisate raus. So einfach ist das nicht, denn das Papier ist von schlechter Qualität. Es ist altes Papier, es ist hoch saures Papier – Papier ist säurehaltig und die Säure zersetzt das Papier. Das heißt es ist bröselig, es reißt und man hat große Aufwände dabei, das zu digitalisieren.
Na ja, die Anspruchshaltung ist heute natürlich eine andere. Der Nutzer möchte seine Sachen als Digitalisat haben, nicht als Kopie. Ja, die Erwartungshaltung ist, dass man diese Dinge relativ schnell digitalisieren kann und das ist einfach nicht so angesichts der großen Menge an Papier.
Maximilian Schönherr: Gibt es da einen Prozentsatz, der schon geschafft ist?
Dr. Jens Niederhut: Der ist sehr klein. Ich könnte es jetzt gar nicht sagen. Aber sicherlich im niedrigen einstelligen Bereich. Das ist in anderen Archiven auch nicht anders. Weil diese Mengen einfach so groß sind und weil erst langsam die Prozesse aufgebaut werden, um wirklich große Mengen an Papier zu digitalisieren.
Maximilian Schönherr: Digitalisiert man tendenziell dann das, wo ein Nutzer des Archivs einen Antrage gestellt hat – möchte was über seinen Großvater in der DDR erfahren – und dann kommt eine Akte zum Vorschein und die wird dann digitalisiert? Ist das so der typische Vorgang?
Dr. Jens Niederhut: Ja. Also wir digitalisieren im Regelfalle im Rahmen von Nutzung. Das heißt, das was angefragt wird- -
Maximilian Schönherr: "On demand".
Dr. Jens Niederhut: "On demand" wird digitalisiert und dann werden die Digitalisate aber eben dauerhaft verwahrt, um das Original zu schonen und um dann eben weiteren Nutzern gleich die Digitalisate zur Verfügung stellen zu können.
Das ist jetzt vielleicht bei der persönlichen Akteneinsicht weniger häufig der Fall, dass die Akte dann nochmal angefragt wird, aber bei Forschung und Medien ist das natürlich sehr, sehr häufig so.
Maximilian Schönherr: Und Sie haben vorhin gesagt: Die Bänder zerfallen, weil die Magnetschicht einfach abfällt, abbröselt. Die Disketten zerfallen auch. Ist das auch ihr Bereich?
Dr. Jens Niederhut: [räuspert] Die Disketten zerfallen. Das ist auch mein Bereich. Da ist die Überlieferung natürlich wesentlich kleiner. Das hat zwei Gründe im Prinzip. Zum einen war natürlich die Datentechnik dann auch wieder nicht so weit fortgeschritten 1989/90 – obwohl das MfS relativ viel bereits mit elektronischer Datenverarbeitung gearbeitet hat. Aber es ist davon sehr, sehr wenig nur auf uns gekommen. Also fast alle Originale von der Stasi benutzten Datenbanken und Daten sind nicht mehr vorhanden.
Maximilian Schönherr: Warum?
Dr. Jens Niederhut: Weil teilweise die Stasi die Sachen gelöscht hat und zum größeren Teil der "Runde Tisch" damals 1989/90 entschieden hat, dass die Sachen zu löschen sind. Man hatte da große Befürchtungen hinsichtlich des Datenschutzes. Wenn diese Daten digital vorliegen, was passiert dann damit? Was machen andere Geheimdienste, andere Polizeidienststellen, wenn die in die falschen Hände fallen?
Das ist im Kontext zu sehen. Auch in der Bundesrepublik, auch in der alten Bundesrepublik gab es in den 80er Jahren ja auch eine ganz, ganz breite Diskussion um Datenschutz. Welche Daten dürfen überhaupt gespeichert werden? Und es sind natürlich illegal, menschenrechtswidrig erhobene Daten, die die Stasi da erhoben hat.
Darum hat sich der "Runde Tisch" dann entschieden, da tatsächlich sehr viel zu vernichten. Das ist schade, natürlich aus heutiger Sicht und Sicht des Historikers und Forschers. Aber eine Entscheidung, mit der wir jetzt eben Leben müssen.
Maximilian Schönherr: Aber bei der Stasi: Was würden Sie auf so einer Diskette heute noch finden, so Sie eine Diskette finden? MS Dos?
Dr. Jens Niederhut: In der Regel nicht. Sondern Großrechen. Das sind Daten, die mit einem Großrechner zu lesen waren, nicht wahr.
Maximilian Schönherr: Ah. Unix?
Dr. Jens Niederhut: Na ja, die entsprechenden Systeme, die dann eben in der DDR im Betrieb waren. Das sind letztlich Kopien von Siemens-Programmen damals. Aber- -
Maximilian Schönherr: Raubkopien von Siemens-Programmen?
Dr. Jens Niederhut: Nachprogrammierungen von Siemens-Programmen, würde ich fast sagen. [beide lachen]
Maximilian Schönherr: Okay. Und mit den Datenbanken zum Beispiel. Also Siemens-Software, die modifiziert war und da war eine Datenbankdrin, die Sie heute noch lesen können.
Dr. Jens Niederhut: Genau. Da gibt es einige Datenbanken, die haben wir auch tatsächlich noch. Und der Rest – wenn man so eine Diskette findet, dann sind das in der Regel Datenreste, nicht wahr. Oder vielleicht auch mal Textdateien, Textfiles die man dann irgendwie zuordnen muss - einem Programm und einem Kontext.
Maximilian Schönherr: Was hat man denn auf dem Rechner gespeichert, zum Beispiel an IM-Informationen?
Dr. Jens Niederhut: Na es sind übergreifende Informationen, nicht wahr. Es ist eine Art von Informationssystem dann. Beispielsweise ist dann natürlich der IM mit seinen Daten gespeichert und dann ist möglicherweise eine Liste von Dokumenten gespeichert, die er vielleicht beschafft hat im Rahmen seiner Aufträge.
Maximilian Schönherr: Die man auf Papier irgendwo findet? Querverweis?
Dr. Jens Niederhut: Die man dann auf Papier findet, wenn man sie noch hat.
Maximilian Schönherr: Mhmh.
Dr. Jens Niederhut: Also im Prinzip ein Find- und Informationssystem.
Maximilian Schönherr: Jetzt komme ich zur letzten Frage. Wir haben am Anfang mal den Tondraht erwähnt. Um so einen Tondraht, wenn Sie den finden – das ist wirklich ein Draht, ich weiß wie die Dinger so aussehen, so Silberdrähte, Drähtchen- wie kommen Sie ans Abspielgerät um den Draht zu hören? Und wie kommen Sie an den Computer, der die Diskette heute noch liest?
Dr. Jens Niederhut: Na wir haben im Laufe der Zeit einen gewissen Bestand an Technik hier angesammelt. Dazu gehören auch verschiedene Tondraht-Abspielgeräte.
Maximilian Schönherr: Woher haben Sie die gekriegt?
Dr. Jens Niederhut: Die haben wir teileweise – ich meine, heute findet man ja alles oder vieles im Internet, also Second Hand dann natürlich. Die sind teilweise natürlich auch aus den Beständen hier, aus den Originalbeständen immer noch vorhanden.
Maximilian Schönherr: Also quasi hier kommt ein Tondraht an, jemand wie Frau Steinbach weißt: Da ist Ton drauf, obwohl es aussieht wie ein Draht. Und sie sagt: Wir brauchen jetzt was zum Abspielen und sie ruft dann im BStU Dresden an? Oder Cottbus? Oder habt Ihr so was zum Abspielen?
Dr. Jens Niederhut: Nein, eher umgekehrt, dass die Außenstellen dann bei uns anrufen und fragen, ob wir hiermit noch was anfangen können. Also wir haben eben eine Werkstatt und wir haben eine Handvoll von Geräten, jetzt gerade bei Tondrähten. Ich meine, es sind zwei oder drei Geräte, die wir da haben. Und das reicht auch nicht, weil es ist ja dann nicht der Tondraht sondern es gibt dann ja unterschiedliche Tondrähte, natürlich. [Maximilian Schönherr lacht] Und wir haben dann auch möglicherweise nicht für jedes Exemplar ein entsprechendes Abspielgerät, aber wir haben eben das eine oder andere. Es lässt sich da heute die Sammlung auch nicht mehr groß vergrößern, nicht wahr.
Maximilian Schönherr: So viele Drähte sind es nicht.
Dr. Jens Niederhut: So viele Drähte sind es nicht.
Maximilian Schönherr: Und die sind alle digitalisiert.
Dr. Jens Niederhut: Und es gibt auch, gerade im EDV-Bereich, eine gewisse Kooperation von verschiedenen Einrichtungen. Da wird dann eine Liste geführt und dann weiß man: Hier, das Museum oder das Archiv, das verfügt noch über ein Abspielgerät für Magnetbänder diesen Formates, ne. Und dann hilft man sich da auch gegenseitig aus.
Aber wir haben auch tatsächlich ab und an eben mal das Problem, dass wir etwas finden, was wir eben nicht lesen können. Weil die entsprechende Technik fehlt.
Maximilian Schönherr: Stasi-Unterlagen-Archiv ist ja ein Archiv und keine Bibliothek. Aber wenn Sie jemanden, der oder die diesen Podcast jetzt gehört hat, wünscht: Ich möchte von diesem armen Typen Walter Praedel noch mehr hören. Wie würde er oder sie das anstellen?
Dr. Jens Niederhut: Na, es ist bei uns nicht so ganz einfach, nicht wahr. Also man muss einen Antrag stellen, an die Abteilung Auskunft des BStU. Und muss begründen, warum man da ein Interesse hat.
Maximilian Schönherr: "Podcast gehört"!?
Dr. Jens Niederhut: Na ja, also das Stasi-Unterlagen-Gesetz sieht leider etwas engere Grenzen vor. Aber eine wissenschaftliche Arbeit zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, aber auch der nationalsozialistischen Vergangenheit ist hinreichend, um sich das anhören zu können. Ja.
Maximilian Schönherr: Deswegen hab ich den O-Ton ja bekommen. Also, es ist nicht ganz leicht, aber es würde doch nichts dagegen sprechen, wenn Sie jetzt den O-Ton auf der Webseite des BStU online stellen.
Dr. Jens Niederhut: Ja, also zu Praedel ist ein bisschen online, ein Teil ist online. Und in der Tat, wir haben natürlich vor. Also es sind O-Töne online auf unserer Website und das ist natürlich eigentlich das große Thema der nächsten Jahre, dass man das Thema ausbaut. Dass wir die Dinge, die wir online stellen können, weil Datenschutzgründe dem nicht entgegen stehen, die auch online bereitstellen. Das wird das Thema der nächsten Jahre sein, ganz klar.
Maximilian Schönherr: Und zwar in Ausschnitten oder komplett? Das ist ja der Unterschied. Das Archiv ist ja so ein Komplettding und wir Rundfunkleute müssen ja immer alles auf 5:30 bringen. Das heißt, wir können vom Praedel drei signifikante ausschnitte bringen. Sie müssten es eigentlich in der ganzen Länge bringen, oder?
Dr. Jens Niederhut: Also als Archivar würde ich immer sagen: Alles bereitstellen und dem Nutzer überlassen, was er für wesentlich hält und was er braucht für seine Arbeit. Man kann nicht alle Forschungsfragen antizipieren, das muss der Wissenschaftler oder der interessierte Bürger dann letztlich selber wissen, was ihn interessiert. Zugänge schaffen, aber eigentlich komplettbereitstellen ist das Ideal.
Aber wir reden über Mengen. Man muss das technisch bewältigen, man muss das bereitstellen können und man muss auch Zugänge schaffen. Es ist ja auch niemandem gedient, wenn man unkommentiert gigantische Datenmengen im Internet bereitstellt, sondern es muss ja auch auffindbar, es muss systematisierbar sein und man muss einen Zugang dazu finden.
Maximilian Schönherr: Haben Sie dafür genug Personal?
Dr. Jens Niederhut: Nun, wir haben natürlich Personal, die sich genau mit diesen Themen beschäftigen. Genug? Na ja, man könnte so viel mehr machen, wenn man so viel mehr Leute hätte. Aber es passiert ja schon einiges in dem Bereich. Es ist ja nicht so, dass wir da nichts tun würden. Ja, natürlich würden wir gerne mehr machen und mehr digitalisieren und mehr bereitstellen, das ist ganz klar.
Dagmar Hovestädt: Das war das Gespräch mit Dr. Jens Niederhut, meinem Kollegen und dem Referatsleiter Digitalisierung. Der also bei uns im Archiv dafür zuständig ist, dass die Informationen, die gespeichert ist auf den vielen verschiedenen Medien, Audio, Video, Film, Foto und Papier auch langfristig gesichert ist und das alles digitalisiert wird.
Maximilian Schönherr: Ich danke Ihnen für das Gespräch. Wir gehen jetzt zu einer Kollegin von Ihnen – Sie wissen welche?
Dr. Jens Niederhut: Frau Steinbach. Ja.
Maximilian Schönherr: Genau. Ich weiß aber noch nicht, was Sie für uns jetzt aufbereitet hat, jedenfalls nicht Walter Praedel. Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Jens Niederhut: Dankeschön!
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach. Ich kümmere mich mit meinen Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS und wir hören heute einen Ton aus Cottbus. Es handelt sich um die Aufnahme einer internen Feier in der Kreisdienststelle Hoyerswerda anlässlich der bevorstehenden Auflösung des MfS. Der Ton ist insgesamt acht Minuten lang und unser Ausschnitt ungefähr drei Minuten.
Ein Mitarbeiter versucht sich schon mal als Reporter vor seinen Kollegen und vermutlich ist der Ton im November/Dezember 1989 entstanden.
[Archivton]
["Reporter":] Wir rüsten ab. [Ton-Dopplung im Hintergrund: Wir rüsten] Die letzte Reportage aus dem Ministerium für Staatssicherheit Kreisdienststelle Hoyerswerda. [unverständliches Gespräch im Hintergrund, überlagernd] Wir sind hier versammelt zu fünft, halten noch lange durch und vernichten grad das Archiv des Todes!
Rings herum sitzen um mich zwei rauchende Gestalten. Ich selber werde auch gleich Ziga-Zigarette greifen vor Aufregung. Erste Meinung: Christian! Deine Reisen, was machen die?
[Christian:] Die Mauer kommt weg. [lachen im Hintergrund]
["Reporter:"] Die Mauer kommt weg. Das ist ein ganz kurzer Satz, aber – und befriedigt uns nich'!
Edelweiss. Bereichsleiter zwo [zwei] seines Zeichens. In einem karierten Hemd sitzt er da, verzweifelt die Tasse Kaffee haltend und hier irgendwo Zucker suchend, aber ich hab eine Frage! [Edelweiss kommentiert im Hintergrund, wird aber überlagert] Beim Bereich zwei: Hast du jemals erfasst richtig?
[Edelweiss:] Nein. [Hintergrundlachen]
["Reporter":] Bloß gut! Ach, [vermutlich: Ochkurz], Bereichsleiter drei. [weibliche Stimme im Hintergrund: Sachbereichsleiter drei!] Sachgebietsleiter drei. Sinnlos in der Kiste rumwühlend, einen Veränderungsdienst realisierend, dabei denken, das war die größte Aufgabe der Welt. [männlicher Stimme: Ich veränder' auch d'e Welt!] Was denken Sie?
[weibliche Stimme:] [leise] Das war meine Uffjabe [Aufgabe].
[männliche Stimme:] Lauter!
[weibliche Stimme:] Zu nüchtern? Nein? [lacht]
["Reporter":] Daneben der Funker. [männliche Stimme im Hintergrund unverständlich] Männlich, jung, stark – aber hässlich. Was hältst du vom Funkdienst?
[Funker:] Bitte weitergeh'n! Ich bin im Dienst. Immer noch im Dienst! Bitte weitergeh'n!
["Reporter":] Ergänzung: Christian hat immer noch nischt [nichts] so richtig begriffen. [Hintergrundkommentar unverständlich] Er hofft ganz verzweifelt immer noch 10 Minuten, dass es doch mit seinen scheiß Reisen weitergeht. Polenreisen! Nach Lettland. Nach Lettland! Nachdem ich in der "Jungen Welt" gelesen hab, dass in Lettland sogenannte "Sex – äh – Video Softpornos" veröffentlicht wurden, ja? Werden dort abgespielt? [Antwort im Hintergrund unverständlich]
Christian hofft noch uff [auf] 'ne Meldung vom Radio, ob das wiederholt wird! Mich zerrupt's [zerreißt es]! Mich zerruuhuuppt's!
[Christian:] Is do' mir egal!
["Reporter":] Das Beste wird's sein: Die Berliner Mauer reißen wir ab und bauen's um Hoyerswerda, damit der Christian seine Reisen zu Ende führ'n kann. Täglich!
Feige is' noch im Dienst. Der Name stimmt manchmal!
[männliche Stimme2:] Als ick [ich] hier mit'm Panzer durch Berlin jefahren [gefahren] bin- -
["Reporter":] Auch Edelweiss wird zur Feige. [lacht, allgemeines Gelächter]
[männliche Stimme 2:] ni' mit uffnehm'n [aufnehmen]!
[männliche Stimme 3:] Keener. Dort vorne- -
["Reporter":] Im Augenblick is' ein schweres Unglück passiert. Der Genosse Feige – ein Tritt, von hinten vom Stuhl gefallen und der Dicke erzählt immer noch von Reisen, so wie es aussieht!
Christian will sich vernichten.
Hier äußert wieder einer den Traum der Tankstelle.
[männliche Stimme 2:] Eisdiele! Eisdiele ha'm sich- -
[weibliche Stimme:] [parallel] Eis-diele!
["Reporter":] Eisdiele auch nich', 38 Mann beworben!
[weibliche Stimme:] 38?!
["Reporter":] Und was willst du da machen?
[männliche Stimme 2:] Eisdielen-[unverständlich]
["Reporter":] Ey! Was willst du jetzt machen?
[männliche Stimme 2:] Oh ja!
["Reporter":] Oh ja! [lachend]
[vermutlich männliche Stimme 2:] [sich die Nase zuhaltend] [vermutlich: Neiber] is' jetz' [vermutlich: Ministerium]
["Reporter":] [übertrieben näselnd nachahmend] [vermutlich: Er bleibt in diesem Ministerium.]
Ich sitz hier völlig deprimiert unterm Schreibtisch. Von Feinden umgeben! Pf – ach hört doch uff! Ihr alten Schweine, eh! Schluss!
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: 111 Kilometer Akten –
Sprecher: …den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.