[Intro]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Hallo zu einer neuen Folge des Podcasts des Stasi-Unterlagen-Archivs. Ich bin Maximilian Schönherr, Journalist und Co-Host des Podcasts.
Damar Hovestädt: Und ich bin Dagmar Hovestädt, die zweite Gastgeberin hier im Podcast. Ich bin die Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Heute geht es im Podcast wieder um eine Veranstaltung aus unserem Hause, die in der Regel in der ehemaligen Stasi-Zentrale am Ort des Archivs stattfinden. Diese habe ich auch moderiert, was ich ab und zu für die Kolleginnen und Kollegen aus unserem Veranstaltungsbereich tue.
Maximilian Schönherr: Das ist ja der zweite Teil einer Veranstaltung vom Januar 2020. Den ersten Teil haben wir hier im Podcast unter dem Titel "Wo ist meine Akte?" schon veröffentlicht. Weil ich ja nicht dabei war: War es wirklich eine zweiteilige Veranstaltung? Denn wir hören heute andere Menschen am Podium als beim ersten Mal.
Dagmar Hovestädt: Absolut, es gibt so gut wie keinen Bezug oder nur einen leichten Bezug auf dem Podium zur ersten Runde. Aber es war ein besonderes Anliegen zu sagen: 15. Januar 2020, genau der Tag, an dem 30 Jahre zuvor Bürgerinnen und Bürger auf dieses Gelände vorgedrungen sind und symbolisch auch das Ende der Stasi besiegelt haben. Damit war die Macht auch symbolisch weg und mit diesem Tag begann eben der Prozess der Öffnung der Akten. Was wir an diesem Abend, also genau 30 Jahre später, wollten, ist sowohl einerseits die Zeitzeugen von damals, also die mutigen Bürgerinnen und Bürger die losgezogen sind und die Stasi am Weiterarbeiten hindern wollten, ein Stück weit in den Dialog zu bringen mit der nächsten Generation. Oder auch zu sehen, was bedeutet es eigentlich den Kindern und Enkeln heute, was ihre Eltern und Großeltern 30 Jahre zuvor getan haben.
Maximilian Schönherr: Und im ersten Teil war quasi die Generation der Stasi-Unterlagen stürmenden Personen zu hören, im zweiten Teil hören wir jetzt die Generation danach. Traten die auch in den Dialog miteinander an dem Abend? Wie lang ging der Abend überhaupt?
Dagmar Hovestädt: Es war so eine etwa zweistündige Veranstaltung, wobei ein überwiegender Teil sich mit der Historie beschäftigt und auch sehr viele im Publikum eigentlich ja aus der Zeitzeugenschaft kamen. Das war ein Stück weit, würde ich mal sagen, ein kleines Experiment zu sehen, ob diese beiden Gruppen sich miteinander in Beziehung setzen können oder das eher aufeinanderprallt. Und ich muss sagen, als Moderatorin saß ich auf der Bühne und konnte dann feststellen, als die nächste Generation anfing zu erzählen, gingen so einige von den älteren Herren, wenige Damen raus und verließen den Raum. Weil das einfach nicht mehr so ihr Ding war.
Und das war als Experiment sehr spannend zu sehen, dass der Dialog über diese Zeit eben doch sehr stark von eigenen Interessen geprägt ist. Das hat mich ein bisschen enttäuscht, weil: Natürlich kann man sich fragen und Gabriele Stötzer aus Erfurt, die zu diesen Besetzerinnen gehörte, fand das eigentlich spannend. Was ist die langfristige Wirkung dessen, was wir damals getan haben? Was machen die Generationen heute und morgen eigentlich mit der Akten-Eroberung?
Maximilian Schönherr: Ja und es ist ja auch ganz interessant gewesen, was wir jetzt hören werden. Die dritte Generation hören wir jetzt quasi sprechen. Über ihre Eltern damals und die vierte Generation hat gar kein Interesse mehr, auf solche Veranstaltungen zu kommen, das hören wir ja auch in diesem O-Ton implizit mit, oder?
Dagmar Hovestädt: Genau, das sagt einer der Teilnehmer, der selber schon wieder Kinder hat. Also diese "Dritte Generation Ost", das ist eine Initiative, die heißt wirklich so. Und die ist kurz beschrieben mit "in der DDR geboren und aufgewachsen, aber im vereinten Deutschland erwachsen geworden". Dafür steht Dr. Katrin Cholotta, die ist Jahrgang 1977.
Dann ist noch Johannes Nichelmann da, der hat ein Buch geschrieben. "Nachwendekinder". Das hat mit seinem Geburtsjahr zu tun, nämlich tatsächlich das Jahr 1989 in dem er geboren ist.
Und der dritte im Bunde war Karsten Huhn. Jahrgang '77, auch ein Journalist, der sich aber auch mit den Akten schon beschäftigt hat.
Maximilian Schönherr: Also mir kommt es so vor, dass diese Generation mit einer Last kämpft, die derselben Generation in Westdeutschland völlig fremd ist. Dafür gab es in Westdeutschland eins, zwei Generationen früher eben eine Sprachlosigkeit wegen des Nationalsozialismus – lässt sich mit der DDR nicht vergleichen, aber war eine ähnliche Sprachlosigkeit.
Aber heute haben die Wessis in der Generation, der dritten Generation die wir jetzt in dem Podcast hören aus dem Osten, nichts äquivalentes. Die haben sozusagen dieses Trauma nicht weg. Das heißt, es ist eigentlich schon eine Ost-West-Trennung. Deswegen sagt auch zum Beispiel Anne Pfautsch aus Halle, die wir hier im Podcast auch hatten: Selbst wenn sie in London ist oder gerade wenn sie in London ist, merkt sie, dass sie eigentlich aus dem Osten kommt. Weil sie diese Sprachlosigkeiten in der Familie, wo man nie genau wusste und so weiter, weil sie das kennt.
Die Westgeneration hat die Sprachlosigkeit in den 60er Jahren gehabt, aber danach eigentlich nicht mehr.
Dagmar Hovestädt: Na ja, man könnte auch sagen, man hat eine doppelte Sprachlosigkeit, bis zu einem gewissen Grad sowohl im Osten wie im Westen. Und dann hat der Westen eine relativ eigene Entwicklung in der auch sehr brutalen und gewaltgetriebenen Aufarbeitung der NS-Zeit begangen. Und im Osten ist einfach weiter relativ viel geschwiegen worden über die Verantwortlichkeit der Väter, über die NS-Diktatur.
Und dann kam die Vereinigung und natürlich können Menschen, die im Jahrgang '77 in der Bundesrepublik geboren sind, mit der DDR gar nicht so umgehen wie jemand, der dort das noch quasi als Kind sozialisiert erlebt hat und dann im vereinten Deutschland versucht hat, eine ganze eigene Identität zu finden.
Maximilian Schönherr: Wir haben den Mitschnitt dieses zweiten Teils der Veranstaltung vom 15. Januar 2020 minimal gekürzt. Sie können den ganzen Abend auf dem YouTube-Kanal des Stasi-Unterlagen-Archivs nachverfolgen. Den Link dazu finden Sie auf www.bstu.de/podcast unter dieser Folge. Wir enden wie immer mit einem kurzen, beeindruckenden O-Ton aus dem Audio-Archiv des BStU. Hier schon mal eine siebensekündige Kostprobe.
[Archiv-Ton]
[MfS-Mitarbeiter 3:] So Hansi, wie sieht'nn das aus? Hast du uns erstma'?
[männliche Stimme per Funk:] [unverständlich]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Wat sagter?
Maximilian Schönherr: Aber jetzt geht's erst mal los mit dir, Dagmar. Womit fängst du an?
Dagmar Hovestädt: Wir haben die Runde gleich mit Johannes Nichelmann und seinem Buch über die "Nachwendekinder" angefangen. Und, ja, dann hat sich eigentlich ein ganz spannendes Gespräch ergeben.
[Schnitt in die Veranstaltung vom 15. Januar 2020]
Dagmar Hovestädt: Johannes Nichelmann hat ein Buch geschrieben, das heißt "Nachwendekinder". Es ist ausgelöst worden durch den Tod seines Großvaters, infolgedessen er nachgedacht hat, ob er vielleicht in diese Stasi-Akten schauen soll, um etwas über den Großvater zu erfahren. Und das war gar nicht so einfach, diese Schwierigkeit, in die Akten zu schauen mit dem Gefühl: Diese Akten könnten mir jetzt etwas zu ihm erzählen.
Aber Sie waren natürlich auch skeptisch, ob diese Akten Ihnen wirklich etwas erzählen können.
Johannes Nichelmann: Es ist ja schon eine interessante Frage. Also, ich hab versäumt mit ihm zu seinen Lebzeiten darüber zu sprechen. Es war jetzt auch nicht so der zugänglichste Mensch, würde ich sagen. Und sich jetzt darüber ihm zu nähern, mit eben illegal beschafften Informationen womöglich, die von irgendwelchen Leuten zusammengetragen worden sind, gegen seinen Willen eventuell – das ist natürlich schon eine moralische Frage. Ob das ein okayer Weg ist, sich als Nachwendegeneration, die ja ganz anders aufgewachsen ist, da ranzuwagen und gleichzeitig das eben auch lesen zu können, was da drin steht. Das kann man sich ja nicht wie so einen Roman durchlesen und dann weiß ich Bescheid, sondern es ist ja noch mit vielen Unwägbarkeiten verbunden.
Dagmar Hovestädt: Aber es war Ihnen schon auch klar, dass diese Akten kompromittiert sind in dem Sinne, wie Sie das beschreiben?
Johannes Nichelmann: Also mein Großvater war Leiter einer Fakultät der Humboldt-Universität, war engagiert in der SED, hat sich selbst – glaube ich – als Kommunist bezeichnet, würde ich jetzt mal so aus den Erzählungen herauslesen; hat für das System auf jeden Fall eingestanden und war Reisekader. Also er durfte ins "nichtsozialistische Ausland" reisen. Demnach bin ich schon davon ausgegangen, dass da auf jeden Fall eine etwas dickere Akte vorhanden sein würde.
Dann kam der Brief von Ihren Kolleginnen, die da für mich nachgeschaut haben. Und da war so ein kleiner Umschlag, der sehr dezent in so einem Briefkasten liegt, mit so einem ganz klitzekleinen Schriftgröße eins BStU-Zeichen, damit da keiner nervös wird [lacht] beim Einschmeißen wahrscheinlich. [leichtes Gelächter aus dem Publikum] Und dann dachte ich: Das ist wahrscheinlich die Einladung, mir diesen riesigen Aktenberg hier bei Ihnen anzuschauen! Aber – es gibt gar keinen Aktenberg, das war dann die Information. Also es gibt diese Akten nicht mehr, weil die eben zerstört worden sind. Das ist ein großes Vorhängeschloss, jetzt quasi vor der Biografie. Also ich kann quasi gar nichts daraus schließen über meinen Großvater.
Dagmar Hovestädt: Sie haben dann aber mit dem Brief, den wir verschicken, mit der Sachbearbeiterin, die für Sie zuständig war, die Einladung eines Telefonats angenommen, haben angerufen und trotzdem ein kleines Bisschen herausgefunden über Ihren Großvater.
Johannes Nichelmann: Ja, es kam dann relativ zufällig raus, dass es einen Aktenvermerk gab, dass seine Akte zu den Beständen der HV A, also des Auslandsaufklärungsdienstes, gehörte. Und das ist, das haben wir eben auch gelernt, eben bis zum Sommer 1990 auf Beschluss von allen beteiligten Parteien eben zerstört worden. Das heißt, das hat dann noch viel größere Fragezeichen natürlich ausgelöst. Warum er jetzt bei der HV A seine Akte hatte; was wahrscheinlich zu erklären ist durch die Tätigkeiten, die er eben im Ausland hatte – das ist jetzt meine Vermutung. Also das macht es eben ein bisschen obskurer.
Gleichzeitig kann ich nicht sagen, der war jetzt Täter oder er war Opfer. Das lässt sich einfach überhaupt gar nicht feststellen in diesem Augenblick.
Dagmar Hovestädt: Es ließ sich auch nicht mehr über ihn in Erfahrung bringen, als Person. Was ja die eigentliche Hoffnung war, dass vielleicht sogar die Stasi etwas über ihn aufgeschrieben hat, was ihn erklärbarer macht.
Johannes Nichtelmann: Richtig, also da bleibt diese Biographie verschlossen. Was eben schade ist, weil wir das zu Lebzeiten nicht haben klären können. Und das natürlich auch sehr viel über die Familie erzählt, über mich erzählt und auch über die Gesellschaft aus der ich da mit raus gepurzelt bin.
Dagmar Hovestädt: Ja. Karsten Huhn, auch Jahrgang 1977 - etwas älter in dem Sinne - Journalist heutzutage. Aber auch über eine doch relativ komplizierte und nicht ganz einfache Familiengeschichte auf diese Akten gestoßen. Sie haben vor kurzem noch mal ein Antrag gestellt, aber auch schon viel früher, 2003. Vielleicht erklären Sie einfach mal ein bisschen den Kontext. Sie waren auf der Suche auch nach ihrem Vater, nicht Großvater, und nach dessen Schicksal.
Karsten Huhn: Ja, meine Akteneinsicht ist noch ganz frisch. Im Dezember, also vor vier Wochen ungefähr, habe ich die Akte meines Vater, der als IM gearbeitet hat, einsehen können. Es gab auch ein paar Querelen - war nicht ganz so einfach. Zunächst hat mir die Unterlagenbehörde die Einsicht verweigert, weil das so unter dem Ruch stand, ein Privatvergnügen zu sein. Im zweiten Gang aber hat es dann doch noch geklappt - Dank an Roland Jahn.
Warum wollte ich seine Akte lesen? Das ist ganz schlicht: Für mich ist die Akte ein riesiger Glücksfall geworden. Das war einer der schönsten Tage meines Lebens vor vier Wochen. Ich wusste schlicht nicht wer mein Vater ist. Er ist 1982 gestorben. Er hat sich das Leben genommen. Er war Volkspolizist, Abschnittsbevollmächtigter hier in Lichtenberg. Ich bin hier aufgewachsen, das ist hier mein Dorf. Und danach war von ihm nie mehr die Rede. Meine Mutter hat alle Bilder aus den Fotoalben getilgt. Sie hat nie über ihn gesprochen. Wir Kinder, meine Schwester die zwei Jahre jünger ist als ich und ich, wir haben nie nach ihm gefragt. Es wurde nie über ihn gesprochen und ich wusste nichts. Und 20 Jahre später erfuhr ich zufällig durch einen Cousin, der davon ausging, dass wir Bescheid wüssten, dass mein Vater sich das Leben genommen hat und meine Schwester und ich wir fielen - das war ein Familiengeburtstag - aus allen Wolken. Und danach habe ich das Thema eigentlich ziemlich konsequent wieder zur Seite gelegt. Ich konnte damit nicht viel anfangen, konnte damit nicht umgehen.
Und in den letzten ein, zwei Jahren ist der Drang, wissen zu wollen was mit ihm los war, so groß geworden, dass ich die ganze Akte unbedingt haben wollte. Als ich sie eingesehen habe hieß es bei der Übergabe: Na ja, viel ist es ja nicht. Gemessen an den "Superoppositionellen", die da mit tausenden Seiten aufwarten, sind die 650 Seiten recht überschaubar. Aber für mich war das gigantisch, weil alles was da drin steht wusste ich schlicht vorher nicht. Und mir hat sich ein Bild erschlossen und in dem Fall sind die Stasi-Ermittlungen doch zu etwas gut gewesen.
Dagmar Hovestädt: Und die Skepsis vor der Qualität, was auf dem Papier steht, vor denjenigen die das aufgeschrieben hatten, hat Sie die begleitet? Weil Sie sagen, Sie haben jetzt alles erfahren, oder liest sich so eine Stasi-Akte tatsächlich wie ein Tagebuch oder eine Begleitung eines normalen Lebens aus einer normalen Perspektive?
Karsten Huhn: Es sind Quellen. Und so wie da Rechtschreibfehler drin sind oder Grammatikfehler - oder dieses typisch sozialistische Politsprech - und natürlich darf man da nicht alles zum Nennwert nehmen, aber es hat sich sehr gut gedeckt.
Ich habe jetzt ja auch versucht mit meiner Mutter ins Gespräch zu kommen, was sehr schwierig ist, weil die Ehe sehr gewaltbelastet war und alkoholbelastet war und das alles sehr unglücklich lief. Und das war für sie wahrscheinlich ein Hauptgrund, darüber nie wieder reden zu wollen. Und das was sie nur angedeutet hat, steht dann in der Akte mit großer Klarheit einfach drin. Das Alkohol schon sehr früh eine Rolle in seinem Leben spielt. Er zieht einem Arbeitskollegen den Aschenbecher über den Kopf und es gibt also Schlägereien. Einmal gehen zwei Polizisten, also mein Vater und ein Kollege, aufeinander los, während sie ihre Dienstwaffen eben dabei haben und er wird abgemahnt. Und das was meine Mutter nie so richtig klar ausgesprochen hat, ist durch die Akte eigentlich ja vollumfänglich bestätigt worden.
Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass die Akte ein bisschen freundlicher ist. Es gab eigentlich nur zwei Stellen an dem man sich so ein bisschen wärmen kann. Die eine war, dass er finanziell für seine Mutter sorgt und die andere ist, dass er für Vietnam gespendet hat. Und dann gibt es auch nochmal Lob dafür, dass er sich doch als tauglicher IM erwiesen hat und seine Berichte brauchbar sind. Ich weiß nicht ob man ihm das auch noch zugutehalten kann.
Ansonsten ist es natürlich ein Bild was mir einerseits geholfen hat, aber andererseits natürlich auch ernüchternd ist.
Dagmar Hovestädt: Das heißt der Kampf oder das Bemühen, diese Akten zu erobern und zur Verfügung zu stellen, ist etwas, von dem Sie ganz persönlich auf eine sehr intime und familiäre Art und Weise heute sozusagen profitieren. Hat das für Sie auch eine Rolle gespielt?
Wie ist eigentlich die Wahrnehmung? Ich stelle diese Frage einfach auch mal an Dr. Katrin Cholotta, die mit den Unterlagen direkt ja nichts zu tun hat, aber trotzdem die Wahrnehmung hat seit 30 Jahren, was erzählt diese Gesellschaft anhand der Stasi-Unterlagen über die DDR?
Dr. Katrin Cholotta: Ja, vielleicht fange ich mal damit an, ein paar kurze Worte zur "Dritte Generation Ost" zu verlieren, wie wir uns ja bezeichnen. Also sprich diejenigen grob zwischen 1975 und 1985 Geborenen - also doch noch in ihrer Kindheit einen deutlichen Teil der DDR mitbekommen haben. Und ganz am Anfang haben wir uns natürlich auch zur Maßgabe gesetzt, uns vor allem mit unseren Eltern zu unterhalten und sie zu fragen: Wie war es?
Und dabei ist eins festgestellt worden: Vieles lässt sich nicht so einfach in eine totale, krasse Täter-Kategorie, aber auch häufig nicht in eine sehr eindeutige Opfer-Kategorie einsortieren. Und da war ein Punkt, dass uns ein bisschen die Differenzierung in dieser Debatte fehlte und das frage ich mich heute noch ein bisschen. Also wenn man eine Diktatur - das kam ja vorhin - auflöst, überwindet, ist es ja nicht nur damit getan, Diktatoren zu stürzen und die Opfer auch zu entschädigen und die Anerkennung auch dieses unglaublichen Mutes und der Leistung dieses historischen Momentes zu würdigen. Sondern darauf zu gucken, wie schafft eigentlich eine ganze Gesellschaft dann auch eine Transformation. Also sprich die Zeit 1990 und danach.
Es ist dieser Gesellschaft eine unglaubliche Mobilität abgerungen worden. Auch eine Überforderung, die wir in unserer Kindheit ja häufig auch zu spüren bekommen haben. Also sprich wenn die Eltern arbeitslos wurden, wo viel neu angefangen werden muss, wo viele auch den Fuß nicht mehr so richtig auf den Boden bekommen haben. Und da ist uns als "Dritte Generation Ost" vor allem dieser Blick nach vorne wichtig. Wie schaffen wir das eigentlich, zum einen diese Grautöne mehr zu erzählen, mehr sichtbar zu machen, sodass da auch eine Identifikationschance da ist. Und zum anderen aber auch das zu verknüpfen, mit dem was ist eigentlich danach passiert. Den Blick nach vorne zu bringen.
Weil so wichtig es ja ist - und das haben wir jetzt gerade auch bei dem Thema Vernichtung von Akten und so weiter besprochen - so wichtig es ist in den ersten Stunden zum Beispiel Leute auszutauschen, dass man sicherstellt, das nicht die alten Kader die Linien fortführen und weiter die Stricke in der Hand behalten; hat glaube ich keiner damit gerechnet, dass jetzt 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, was jetzt das Thema Führungsposition und Karrierechancen anbelangen, sich im Grunde genommen so wenig für Ostdeutsche die Chancen da eröffnet haben. Also es gibt sicherlich sehr viele Studien dazu mit unterschiedlichen Zahlen, aber in einem sind sie sich doch einig, dass im Grunde genommen die Repräsentanz von Ostdeutschen in Führungspositionen in der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Elite im Grunde genommen verschwindend gering ist. Also da setzt sich etwas fort, da frage ich mich, ist das sozusagen ein Teil in der Ursache, dass wir uns so sehr auf Stasi und auf die Kategorie Täter und Opfer konzentriert haben und dabei die vielen Grautöne vergessen haben? Und vielleicht auch etwas versäumt haben, die Jahre danach zu betrachten?
Dagmar Hovestädt: Das ist sicherlich eine Analyse und die andere Überlegung ist, wie viel von dem was die DDR und die Mechanismen einer Diktatur mit Menschen anstellen, auch über Generationen hinweg anstellen, verhindert heute auch noch die Möglichkeit in der Gesellschaft, der neuen Gesellschaft, mitzumachen.
Dr. Katrin Cholotta: Auf alle Fälle berührt es uns ja noch. Also wir als Kinder der DDR oder auch sogar Nachwendegeneration. Und gerade beim Stichwort Nachwendegeneration muss es uns doch heutzutage doch zu denken geben, dass wir wieder zu so einer neuen Ost-West-Debatte aufgebrochen sind, dass wir uns wieder alte Klischees um die Ohren hauen und das selbst diejenigen, die gar nicht mehr sage ich mal im Staat der DDR noch geboren wurden, immer noch Unterschiede in den Chancen subjektiv wahrgenommen und natürlich auch zum Teil in harten Zahlen nachweisbar erleben.
Also das kann uns, glaube ich, als Gesellschaft nicht kalt lassen. Und ich frage mich schon, was können wir besser machen? Also zum einen aus einer Aufarbeitungsperspektive: Wie schaffen wir das eigentlich, den Blick zu erweitern und wie schaffen wir es, diesen Mut - den habe ich so vermisst in manchen Jahren! Den habe ich auch in unseren Diskursen, wie sprechen wir eigentlich über DDR-Vergangenheit, diesen Mut, diese Kraft, dieser Aufbruch und auch dieses Vermögen, stolz zu sein, so ein ganzes System zu stürzen und eine Riesentransformation danach zu bewältigen. Wo ist der eigentlich hin? Und warum erzählen wir nicht mehr darüber?
Dagmar Hovestädt: Warum, ist ja Teil auch des Buches, erzählen die Eltern nicht mehr darüber was es bedeutet hat in der DDR zu leben? Was es bedeutet hat in einem System zu leben, dass auch mit Stasi funktioniert und mit SED, und mit Druck, und mit Repressionen.
Johannes Nichelmann: Ja, also ich glaube, dass es ganz verschiedene Gründe in den Familien gibt. Also die eine Familie, eine Mutter hat mir gesagt, sie hatte einfach nicht die Kraft dazu. Sie wollte nicht zurückblicken sondern nach vorne schauen und schauen, dass ihre Kinder ein anderes Leben führen und hatte einfach nicht dran gedacht. Tatsächlich bis ich mit diesem Interview kam, mit ihrer Tochter gemeinsam am Küchentisch bei ihr saß, nie darüber nachgedacht. Dann ist ihr alles erst so in den in den Sinn zurückgekommen und das war eine ziemlich krasse Erfahrung für sie, glaube ich. Andere trauen sich schlichtweg nicht, sie sagen: Ich war in der SED und wenn ich das jetzt sagen würde, dann bin ich sofort automatisch mit der Sasi gewesen, für viele Menschen. Und sie haben nicht das Gefühl, dass in unserer Gesellschaft frei heraus sagen können, warum sie zum Beispiel mit wehenden Fahnen mit 18 Jahren in die SED eingetreten sind. Das hat ja auch viele, viele verschiedene Gründe.
Und das diese Schattierungen zwischen dem Schwarzen und Weißen fehlen in der Debatte. Ich habe gestern Abend - um 20.15 Uhr im ZDF, da kam eine Dokumentation "Der Osten ruft" über Menschen, die aus dem Westen zurückziehen. Und der erste Satz war: Endlos weite, menschenleere Landschaften - der Osten Deutschlands. Und ich vermute das im Osten Deutschlands die Quote nach genau vier Sekunden richtig runter gekracht ist, weil viele das nicht mehr hören wollen und diese Verallgemeinerung, diese Undifferenziertheit. Und deswegen sprechen heute Leute auch in den Familien nicht darüber, weil sie ja auch in uns Nachwendekindern hin und wieder so einen "westdeutschen Alien" sehen. Tatsächlich. Das habe ich auch von vielen gehört, dass sie sagen: Du bist ja quasi der kleine Wessi der Familie, du verstehst es überhaupt nicht, ich kann dir das überhaupt nicht greifbar machen, warum ich wie was gemacht habe. Oder nicht gemacht habe.
Dagmar Hovestädt: Würden Sie denken, Sie könnten das verstehen? Herauszufinden warum jemand, das frage ich gleich Karsten Huhn auch nochmal, inoffizieller Mitarbeiter geworden ist? Und wie kann man heute damit so umgehen, dass das nicht dazu führt, dass man es ausschließlich in Schwarz-Weiß Kategorien sieht?
Johannes Nichelmann: Also wenn bei inoffiziellen Mitarbeitern Leute unter Druck gesetzt worden sind. Also ich muss mir die Geschichte schon genau anschauen und genau anhören. Und aus meiner Perspektive des Nachwendekindes, fällt es mir ein bisschen schwerer, das sofort zu verurteilen. Natürlich verurteile ich das insgesamt schon sehr, aber das bedarf eben einer großen Differenzierung. Und die haben wir in den letzten 30 Jahren, glaube ich, nicht so gut hinbekommen irgendwie zu vermitteln.
Dr. Katrin Cholotta: Darf ich da vielleicht doch nochmal einen persönlichen Einschub machen, um daran anzuknüpfen? Im Grunde genommen war das der Grund, warum ich die Akten meiner Eltern – also wir haben auch eine sehr bewegte Familiengeschichte: katholisch, meine Mutter hatte nie die DDR-Staatsbürgerschaft, wir hatten sehr regen Westverwandtschaftskontakt. Und gleichzeitig war ich auf einer der Russisch-Schulen am Rande von Berlin, wo auch die Diplomatenkinder der DDR quasi zur Schule gingen. Diese Skepsis, wer interpretiert mir das eigentlich, was ich da eventuell zu lesen bekomme. Und ich habe 10 Jahre mit mir gerungen, ob ich Akteneinsicht nehme oder nicht.
Aber im Grunde genommen, weil die Debatte immer so schwarz-weiß verlief, hatte ich Angst, dass ich keine Interpretationshilfe bekomme und hab dann für mich den Deckel zugemacht. Weil ich hätte sozusagen niemanden mehr fragen können. Also klar, die Verwandtschaft schon, aber quasi die betroffenen Person selber nicht mehr. Und eine Lehre, oder ein Wunsch, ist halt - mein ganz persönlicher - dieses Dazwischen, was es vielfach gab, mehr in unseren Aufarbeitungsdiskurs zu nehmen. Auch um - ich meine, ich kann es nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, aber ich denke eine Intention der Aufarbeiter oder auch dieser ganzen Aktionen damals war ja, vor allem eine Gesellschaft von einer Diktatur in eine freiheitliche, demokratische, selbstbestimmte und individuelle Gesellschaft zu überführen.
Und wenn ich jetzt den Schwenk zum Heute mache, was wir sehen in vielen ostdeutschen Bundesländern, kann ich nur konstatieren: Es ist offensichtlich nur zum Teil gelungen. Und helfen würde meines Erachtens, wenn wir das größer einbetten, die Grautöne, die Zwischentöne zulassen und vor allem auch die Verknüpfung in die 90'er schaffen.
Dagmar Hovestädt: Gabriele Stötzer hat es ja eben gesagt: Es war eigentlich die Rückkehr zum Individuum. Das "sich befreien" aus der Bevormundung, sich das zurückholen was einem selber zusteht, die gestohlenen Informationen, das gestohlene Leben. Und dadurch sozusagen kraftvoller werden, auch um eine neue Gesellschaft zu gestalten.
[Intro]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten",
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.
Dagmar Hovestädt: Wir haben in den 90er Jahren durchaus eine sehr sensationsbehaftete Art gehabt damit umzugehen, aber wir haben - es gibt keine Richtlinie, man kann das nicht festlegen. Man darf sich so und so dazu verhalten. Deswegen hatte ich am Anfang zum Beispiel auch gefragt, ob das okay ist, ob Sie damit ohne Probleme umgehen können zu sagen: Mein Vater war ein IM.
Karsten Huhn: Vor ein, zwei Jahren hätte ich das nicht sagen können. Da hätte ich gestottert und gestammelt, oder mich weggedreht. Das ist jetzt etwas Neues.
Ich will auf die Frage antworten: Wo sind die ostdeutschen Eliten geblieben? Na ja, die Menschen, die in der DDR-Zeit Führungsverantwortung hatten und da kann ich von meiner Familie reden, auch von der Familie meiner Frau. Meine Eltern und Schwiegereltern haben im Landwirtschaftsministerium gearbeitet, im Tourismusministerium, im Finanzministerium. Mein Onkel war Oberstleutnant bei der Stasi. Zwei waren als IM im "kapitalistischen Ausland" in der Bundesrepublik unterwegs. Mehr weiß ich da leider auch nicht.
Die waren alle in Führungspositionen, die waren in Verantwortung. Das deren Qualitäten nach '89 nicht mehr so gebraucht wurden aufgrund der engen Bindung an die DDR und auch der Überzeugung die dahinter steht, das ist ja naheliegend. Das heißt, meine Onkels haben sich selbstständig gemacht, die waren dann raus. Die Leute die in den DDR-Ministerien waren, die haben nicht wieder eine Führungsposition gehabt. Und gleichzeitig ist bei den Leuten, die wirklich hundertprozentig überzeugt waren, und das waren unsere Familien - kein Westfernsehen, Marx, Engels, Lenin wirklich mit Begeisterung gelesen - die wären natürlich auch nicht bereit gewesen! Welche Stelle hätten die denn annehmen sollen?
Bevor ich hierher aufgebrochen bin, hat mich meine Schwiegermutter, die behütet unsere jüngste Tochter, gefragt: Wo gehst du denn hin? Da sagte ich: 30 Jahre Sicherung der Stasi-Unterlagen. Da sagte sie zu mir: Also, wenn du mich fragst, das war damals der Mob. Also schöne Grüße an Sie, alle die damals dabei waren. [lachend, Gelächter im Publikum] Die Überzeugung, die ist noch fest. Ich könnte jetzt auch noch erzählen was sie zum Mauerbau und zum Schießbefehl sagt, aber das lass ich lieber.
Dagmar Hovestädt: Könnte bekannt sein.
Karsten Huhn: Das macht natürlich auch die Diskussion - also, eine ganz liebe Oma und sonst bestes Verhältnis - aber lieber, und jetzt kommt der kritische Punkt, lieber nicht über politische Fragen sprechen. Denn dass wir uns da nicht einig werden, das habe ich nun in den letzten Jahren begriffen. Also, vermintes Gebiet. Ausklammern. Und dummerweise klammern wir eine ganze Menge Themen am Frühstückstisch oder an der Geburtstagstafel aus. Sobald es um Politik geht, geht da nicht viel.
Dagmar Hovestädt: Aber die Frage ist schon auch ganz interessant, ob diese nächste Generation, die aus der DDR als Kinder kommt oder nach der Wende geboren wird, ob diese nächste Generation eben mit dem Erbe ihrer Eltern leben muss und wie man das eigentlich auflöst. Wie löst man es auf, in einem vereinten Deutschland? Wie löst man das auf mit Menschen im Westen, die das nur aus der Ferne betrachtet haben, die ja auch nicht ganz komplett entfernt waren von der DDR und von dem was da war, sich trotzdem ein Bild darüber machen.
Aber man spricht nicht miteinander und man spricht übereinander nur in Klischees. Und irgendwie sind wir nach 30 Jahren an so einem Punkt, wo wir eigentlich alles zur Verfügung hätten, einen großen Dialog mit vielen, vielen Fassetten zu führen und sind trotzdem ein bisschen mehr immer gefangen in diesen Klischees.
Johannes Nichelmann: Also, ich glaube Soziologen wie Daniel Kubiak von der Humboldt-Universität zum Beispiel sagen ja, dass solche Prozesse wirklich 30 bis 50 Jahre dauern. So gesehen sind wir jetzt am Beginn des Auflösens des Prozesses, haben noch 20 Jahre vor uns. Und ich glaube, dass in den ostdeutschen Familien selbst das tatsächlich weitergetragen werden muss. Also in den Familien muss gesprochen werden.
Wenn ich Lesungen mache, vor allem in Ostdeutschland, dann ist das oft wie eine große Nachwendekinder-Selbsthilfegruppe. Da sitze ich vor einer Wand aus 90 Nachwendekindern und zehn Boomern und älteren Herrschaften, die sitzen meistens so da. Und die Nachwendekinder fangen an sich gegenseitig zu erzählen: was zu Hause nicht erzählt werden konnte, warum sie sich nicht trauen nachzufragen, wie die Reaktionen sind, wenn sie irgendwie so leicht nur an der Oberfläche kratzen. Und wie sollen wir das denn eines Tages verwalten, dieses Erbe, diese Geschichte weitererzählen, dafür sorgen jetzt nicht noch einmal dazu kommt, wenn in den Familien selbst die Mechanismen gar nicht klar sind, wie das eigentlich dazu kommen konnte. Es haben ja auch einfach viele an den Sozialismus geglaubt und an das was von oben erzählt worden ist, das waren ja nicht alles Freiheitskämpfer.
Dagmar Hovestädt: Das würde man so sehen können, ja. Sonst jetzt vielleicht auch nicht so lange gedauert. Wenn sich nicht so viele Leute in so einem System versucht hätten anzupassen, um eben sozusagen ihr Leben leben zu können.
Und das ist eigentlich die Lehre ja auch für heute. Auf der einen Seite mitzunehmen, dass man es geschafft hat dieses System zu überwinden und damit sich eigentlich auch mit viel Kraft und viel befreiter in so einer neuen Gesellschaft umtun kann. Und trotzdem hängt man immer noch auch in der Elterngeneration und Großelterngeneration gefangen in einem System, weil man einfach auch nicht darüber redet.
Johannes Nichelmann: Also ich bekomme auch manchmal so Post von Leuten, die sehr bewusst erlebt haben, aus der ersten oder zweiten Generation. Die mir schreiben, dass sie das wirklich versucht haben in der in der neuen Welt, also anzukommen, die aber nicht besonders politisch sind, so wie sie schreiben und was sie schreiben, und denn daran sich selbst gescheitert sehen. Dass sie das nicht geschafft haben in den letzten 30 Jahren irgendwie, mit dem Kapitalismus und mit all dem was da zusammenhängt, irgendwie Freundschaft zu schließen und einfach wirklich komplett verloren sind. Weil in diesen 30 Jahren darüber gar nicht so stark debattiert wurde sondern es wurde eben über die krassen Stasi-Fälle zum Beispiel diskutiert. Das waren die Themen. Und irgendwann kamen diese lächerlichen Ost-Shows, 2003. Da durfte mal ganz kurz mal durchatmen, das Pittiplatsch dabei war, aber das war dann natürlich so wie es war. Also es gab nie so richtig die Phase einer ehrlichen Aufklärung. Weder in den Familien, glaube ich, noch medial.
Dagmar Hovestädt: Sie wollten etwas sagen?
Dr. Katrin Cholotta: Ja, zu einem würde ich noch eine Lanze dafür brechen, dass wir da langsam anfangen differenzierter zu schauen. Und der private Diskurs ist ja der eine, aber ich finde vor allem der mediale Diskurs und wie wir öffentlich darüber sprechen ist so wichtig.
Und jetzt bei dem letzten Fall mit dem Verleger Friedrich und der Berliner Zeitung, hab ich zumindest zum ersten Mal bewusst, auch so eine etwas differenziertere Debatte wahrgenommen. Also, dass es eben häufig – wie ich vorhin schon sagte - nicht so einfach ist, zwischen eindeutig Opfer und eindeutig Täter zu unterscheiden. Und man es auch aushalten muss, dass es da häufig nicht so eine Klarheit gibt. Das kam ein bisschen spät - man kann über den Fall denken, wie man möchte - aber ich finde es wichtig, dass quasi das Gesamtbild da einmal differenzierter angeschaut wird. Und ich hätte mir wahrscheinlich persönlich gewünscht, das hat jetzt wahrscheinlich der Verleger selbst ein bisschen torpediert, dass das eine Chance gewesen wäre, halt auch mal eine persönliche DDR Geschichte eben in all diesen Spannungen, in Unklarheiten und Verwischungen auch biografisch zu erzählen.
Solche Fälle wünsche ich mir einfach häufiger. Ich meine, hier sitzen ja Kollegen sozusagen aus dem journalistischen Kreis. Es ist halt häufig irgendwie wahrscheinlich interessanter die Extremfälle zu beschreiben als das Mittelfeld. Das ist die Logik des Journalismus.
Johannes Nichelmann: Das möchte ich mir jetzt nicht ankreiden. [lacht]
Dr. Katrin Cholotta: Nee, du hast auch ein tolles Buch geschrieben. Von daher, das ist ja auch wichtig: eben genau dieses Dazwischen.
Aber das andere wollte ich halt auch noch mal betonen, eben nicht nur bei der Aufarbeitung an dem Thema Stasi kleben zu bleiben. Sondern sich eben auch die Jahre danach anzuschauen und diesen gesamtgesellschaftlichen Prozess, eine Diktatur, eine Gesellschaft die in einer Diktatur gelebt hat, da eine Anpassungsleistung vollzogen hat; in den '90ern wieder eine große Anpassungsleistung vollzogen hat - man könnte ja fast schon sagen, das sind quasi die Prädestinierten, die jetzt in den Umbrüchen die uns bevorstehen, große digitale Umbrüche, Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt.
Es wird wieder um das Thema gehen, dass vieles anders wird, dass wir wieder vieles neu lernen müssen. Und viele Ostdeutsche sind da wahre Experten. Und ich würde mir wünschen, ich glaube das kann möglicherweise - ist auch eine Generationenfrage - eine jüngere Generation auch etwas einfacher, weil sie nicht so leicht den Verdacht hat etwas zu verharmlosen auf der einen Seite oder zu untertreiben.
Dagmar Hovestädt: Weil die Anpassung an einen Staat, der einen dazu zwingt, "freiwillig" auf seine Menschenrechte zu verzichten, ist eben auch noch mal eine andere Leistung als die Anpassung an einen massiven Transformationsprozess in eine kapitalistische Gesellschaft hinein oder in den digitalen Umbruch. Da passiert was auf einer viel tieferen Ebene, würde ich sagen. Und trotzdem glaube ich auch, dass in den letzten Jahren sich was verändert hat, dass das Wort IM für Sie benennbar ist und das man sich dazu verhalten kann und das diskutieren kann.
Gleichzeitig möchte ich daran trotzdem noch erinnern, dass natürlich für viele Menschen das Wort "Stasi" bedeutet, dass ein Leben [betont: nicht] gelebt werden konnte, weil es systematisch unterdrückt wurde. Das wir natürlich diese Akten immer auch diskutieren mit dem Denken daran, dass das Tausende und Zehntausende von Menschen waren - und das war nicht nur Knast, das waren auch einfach durchkreuzte Biographien und vertane Lebenschancen. Und daran sich abarbeiten, weil ihnen ein System das geraubt hat und die Gesellschaft auch darüber nicht wirklich ausführlich diskutiert hat, ob man irgendwo eine Verantwortung festmachen möchte und muss, dafür, wer diese Verantwortung trägt für das begangene Unrecht.
Johannes Nichelmann: Ich habe vielleicht ein bisschen laut nachgedacht. Ich habe an mein Buch gedacht, als ich angefangen habe zu schreiben. Es geht eben darum dieses Schweigen zu brechen, mit den Eltern erst. Und ich dachte mir, da ist bestimmt irgendwo eine Stasi-Geschichte dabei, aber es war nicht mein primäres Ziel und auf einmal war das in jeder Familie - war das einfach das Thema am Ende. Es war tatsächlich ein sehr bestimmender Teil und ich war auch überrascht, dass es in meiner Familie auf einmal leichtes Gesprächsthema war und bei anderen wirklich in ziemlich massiver Form.
Dagmar Hovestädt: Das sagt einfach auch nur, dass sie die gesamte Gesellschaft durchzogen hat. Egal ob sie de facto in einer Familie oder in einem Ort war, oder einfach nur von der Wahrnehmung her war und dass das auch noch viel mehr auf den Tisch gepackt werden muss. Das kann die Kraft nur verlieren, indem man darüber redet und es sozusagen ans Licht holt. Was ist geschehen in den letzten zwei Jahren, dass das Wort IM nicht mehr so problematisch ist?
Karsten Huhn: Ich erzähle mal von meinen Kindern. Ich habe die heute gefragt, ob sie mitkommen wollen. Und die haben aber alle das Training, also Basketball, Schlittschuhlaufen und Cheerleading vorgezogen. Stasi ist für die nicht interessant. Und ich habe sie vorhin auch noch gefragt: Hattet ihr denn DDR eigentlich schon in der Schule? Die sind 20, 18, 15, die drei Ältesten; also da gibt es gute Chancen, dass sie über das Mittelalter schon hinausgekommen sind. In den Lehrbüchern steht das drin, das ist nicht das Thema, dass DDR da durchaus vermerkt ist. Aber einer hatte es gar nicht und zwei nur ganz kurz und sie wussten es gar nicht mehr genau. Ich hatte gefragt: Ja, was habt ihr denn da gelernt? Das war auch schon wieder weg. Also dieser Satz, dass die DDR nur eine Fußnote der Geschichte ist, der zeigt sich jetzt zumindest im Leben meiner Kinder. Da spielt DDR und Stasi, und ob das einen jetzt irgendwie von etwas zurückhält oder abhält, keine Rolle mehr.
Vielleicht ist das eine gute Nachricht.
Dagmar Hovestädt: Sollte zu mindestens befreien, in dieser Vielzahl und in vielen Perspektiven über die DDR reden zu können. Aber nochmal. Was ist für Sie passiert in den letzten zwei Jahren, dass es sozusagen jetzt leichter fällt zu sagen: Mein Vater war ein IM?
Karsten Huhn: Zunächst mal: Es muss erst schlechter werden, bevor es besser wird. Ich habe einfach Leidensdruck gehabt. Ich merkte da - also wenn man etwas verdrängt und das habe ich ja massiv getan, dann drängt das eben irgendwann auch zurück und fällt einem auf die Füße. Und das ging so nicht weiter. Und dann habe ich geguckt, wo komme ich an Informationen ran. Das war der erste Schritt.
Dagmar Hovestädt: Und dann sind Sie ausgerechnet auf die Stasi-Unterlagen gestoßen.
Karsten Huhn: Ja. Also die Stasi war eben doch für etwas gut. [Gelächter im Hintergrund]
Dagmar Hovestädt: [lacht] Zumindest in diesem Zusammenhang. Ich würde, so ganz langsam, unsere Runde hier zu Ende führen. Aber ich würde mir trotzdem von allen Beteiligten hier nochmal wünschen, dass Sie sich überlegen was für Sie an positiven Formulierungen aus diesem Ereignis der Erstürmung der Stasi-Zentrale passieren kann, für das was Sie alle heute hier bewegt. Nämlich den Dialog in den Familien anzustrengen, auch die beiden Phasen, die 30 Jahre vor oder die 40 Jahre vor dem Mauerfall und die 30 Jahre danach miteinander in Beziehung zu setzen.
Hat dieses Event der Weltgeschichte, dass Menschen sagen: diese Geheimpolizei, dieser Staat hat uns lange genug drangsaliert. Wir haben jetzt diese Informationen und wollen damit die Hoheit, die Souveränität zurück gewinnen über unser eigenes Leben. Hat das nicht einen Moment, was auch nach vorne drängen kann? Herr Nichelmann?
Johannes Nichelmann: Also, für mich ist es Teil eines großen Moments, der Weltgeschichte geschrieben hat und der dafür sorgt, dass ich so aufwachsen konnte wie ich aufgewachsen bin. Nämlich ohne Stasi und ziemlich frei. Und dafür bin ich den Menschen, die das damals gemacht haben, sehr sehr dankbar. Allen voran natürlich denen, die dieses Gelände hier und das auch in Erfurt erstürmt haben, aber auch all denen die über die Bornholmer Straße rüber sind und was sonst noch alles passiert ist zwischen '89 / '90. Deswegen ist es natürlich welthistorisch und für mein kleines Leben auf diesem Planeten auch.
Dagmar Hovestädt: Frau Cholotta. [Applaus]
Dr. Katrin Cholotta: Dem kann ich mich nur anschließen. Ich hatte es ja vorhin schon gesagt: Dieser Mut, also das hat irgendwie was wahnsinnig abstraktes, aber was tief Beeindruckendes für mich persönlich, diesen Mut zu haben und das so durchzuziehen. Ich meine, das klingt alles fast eher anekdotisch, aber wenn man sich das vergegenwärtigt, würde ich mir persönlich wünschen, dass wir das noch mehr erzählen und dass wir einen Teil dieses Mutes und dieser Zuversicht, was für große Veränderungen man anstoßen kann, rüberretten. Das wir mit den Herausforderungen, die wir jetzt vor uns haben und die wir auch politisch gerade sehen, dass wir mit dieser Zuversicht und von diesem Mut profitieren, auch die Folgegenerationen, um unsere großen Probleme zu lösen.
Dagmar Hovestädt: Das hat die Süddeutsche Zeitung gerade auch nochmal anlässlich des 15. Januars beschrieben, dass es natürlich den Bürgerrechtlern, Dissidenten und den Menschen, den Bürgern der DDR gelungen ist, diese Öffnung der Akten für alle in dieses vereinte Deutschland durchzudrücken. Das war auch gar nicht so selbstverständlich, denn dieser Januar-Besetzung folgt eine zweite im September, weil in den Vereinigungsverhandlungen die Idee, eine Geheimpolizei mit ihren Akten der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, nicht so viel Anklang gefunden hat. Und es ist eine originäre Leistung der Menschen, die sich der DDR gegen die Repression engagiert haben. Und das sollte man auch gar nicht so vergessen, weil es durchaus auch ein Moment ist auf das man stolz sein kann.
Herr Huhn, was ist sozusagen Ihre Zusammenbindung dessen, was vor 30 Jahren passiert ist, für das was uns für die nächsten Zeiten erwartet?
Karsten Huhn: Also, die Friedliche Revolution war ein schwarzer Schwan in der Geschichte. Etwas extrem Unwahrscheinliches und extrem Schönes. Zum Schwarz-Weiß-Bild, was man ja nicht malen soll, gehört dazu: Für mich und für meine Familie - gut, ich war damals Kind, Jugendlicher - war sowohl der Mauerfall als auch die Deutsche Einheit kein Freudentag. Sondern das war ein Schock und was total Negatives. Und ich selbst habe Jahre gebraucht, das war Mitte der 90er Jahre, '95 / '96 vielleicht, dass ich dem was Positives tatsächlich abgewinnen konnte. Also ich musste aus der sozialistischen Erziehung auch erst mal herauswachsen, weil davon war ich überzeugt.
Was lässt sich daraus lernen? Dinge können sich komplett ändern und man muss sich mit Zuständen nicht abfinden, sondern man kann das Rad der Geschichte, dem kann man in die Speichen fallen.
Dagmar Hovestädt: Das war Karsten Huhn, quasi mit einem Schlusswort. Karsten Huhn, Jahrgang 1977, Journalist und immer wieder auch persönlich mit diesen Stasi-Akten in Bezug. Dr. Katrin Cholotta, aus der Initiative "Dritte Generation Ost" und Johannes Nichelmann, Autor des Buches "Nachwendekinder" und auch Journalist.
Maximilian Schönherr: Und wir enden wie immer mit einem spannenden Originalton aus dem Audio-Archiv des BStU. Mal hören. Was Frau Steinbach ausgegraben hat.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach. Ich kümmere mich als Dokumentarin um die Audio-Überlieferung des MfS und wir hören heute zwei Ausschnitte aus der Bezirksverwaltung Dresden. Leider haben wir dazu kein Datum, aber es handelt sich einmal um die Installation einer Abhöreinrichtung in einem Büro und einmal die Installation einer Abhöreinrichtung in einer Wohnung und die MfS-Mitarbeiter entwickeln da handwerkliche Fähigkeiten, wie man gleich hören kann.
[MfS-Mitarbeiter 1:] Nun siehste ja, das läuft hier.
[MfS-Mitarbeiter 2:] Mhmh.
[rascheln, klappern]
[MfS-Mitarbeiter 1:] So. Kann man das 'n kleines Stückle- - das man das hier so- - Dass das Ding [unverständlich] drückt?
[MfS-Mitarbeiter 2:] Ja, das würd' ich ja. Wie gesagt, dass das- -
[MfS-Mitarbeiter 1:] Funktioniert?
[MfS-Mitarbeiter 2:] …nit [nicht] so sehr dämpft, weeßte?
[MfS-Mitarbeiter 1:] Mhmh.
[MfS-Mitarbeiter 2:] Wenn das frei hängt, geht des besser.
[weiteres rascheln]
[MfS-Mitarbeiter 2:] So! Warum müssen immer eigentlich die [unverständlich]?
[seufzt] Also ich meene [meine], wenn d'e [vermutlich: den Rahmen nimmst].
[verschieben eines Gegenstandes]
[MfS-Mitarbeiter 1:] [vermutlich: Haste gut gemacht.]
[MfS-Mitarbeiter 2:] Bitteschön.
[MfS-Mitarbeiter 1:] Jawoll.
[MfS-Mitarbeiter 2:] Wir werden's mal ganz originalgetreu machen.
[MfS-Mitarbeiter 1:] Mhmh.
[MfS-Mitarbeiter 2:] Mhmh. Hilf mir!
[klappern]
[MfS-Mitarbeiter 2:] [vermutlich: Jetz' drück mal hier! Aber nich' so doll.]
[MfS-Mitarbeiter 1:] Uff der Lehne dieses Stuhles [unverständlich]
[MfS-Mitarbeiter 2:] Nee, das macht man ne' [nicht].
[MfS-Mitarbeiter 1:] Dis [das] - nee, dis gibt keene Geräusche.
[MfS-Mitarbeiter 2:] Nee, dis gibt keine Geräusche. 's is' eenz'je [es ist das einzige] [unverständlich]
[unverständlicher Abschnitt, die Personen sprechen durcheinander]
[vermutlich: Aber die machen die Flugzeuge ooch nich' mehr ganz leise.]
[MfS-Mitarbeiter 1:] [unverständlicher Abschnitt]
[vermutlich: Ich bin ja schon.]
[MfS-Mitarbeiter 2:] Und wenn de [de] dich an'n [an den] Tisch her setzt, hier?
[MfS-Mitarbeiter 1:] Und wo sitzt du?
[MfS-Mitarbeiter 2:] Ich sitz da drüben.
[MfS-Mitarbeiter 1:] Nu!
[MfS-Mitarbeiter 2:] [vermutlich: Is' mir recht.]
[ausblenden, anlaufen des neuen Archiv-Tons]
[vermutlich Staubsauger]
[klacken, Atemzüge]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Ulli? [weitere Atemzüge] Macht das viel? [flüstert] Wenn nich' pack'n wa das alles so in [unverständlich].] Ja, oben lang müsste gehen.
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] Die Lampe.
[klacken, stochern, scharren]
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] [leise, unverständlich]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Mh?
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] 'n Staubsauger? [unverständlich]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Mh, ja. Machen wa dann. Ich mach jetzt erstma' hier zu.
So, Hansi. Wie sieht'nn das aus? Hast du uns erstma'?
["Hansi" per Funk:] [unverständlich]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Wat sagter?
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] Sag's nochmal, Siegmar! Hast du uns noch mit [vermutlich: Phillip]?
["Hansi" per Funk:] Ja. Ich hör euch sehr gut.
[MfS-Mitarbeiter 3:] [leise] Na ja, is' doch einwandfrei.
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] Also mit Phillip, richtig?
["Hansi" per Funk:] [unverständlich]
[belustigte Reaktion beider MfS-Mitarbeiter]
[rascheln]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Was?
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] Und das.
[MfS-Mitarbeiter 3:] Ooch, na ja.
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] [vermutlich: Und das ist Wüst und das ist Schnur.]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Na ja.
[Fingerklopfen, Wasser tropft]
[MfS-Mitarbeiter "Ulli":] Vielleicht ham [haben] s'e das in den Putz mit reingemehrt.
[MfS-Mitarbeiter 3:] Mh.
[Schabgeräusche vermutlich vom Anrühren von Putz; Atemzüge]
[MfS-Mitarbeiter 3:] Macht, dass de' Rosi ni' mehr einpennt. [leicht belustigt] Der is' vor uns richtig erschrocken.
[Outro]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."