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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Hallo und Willkommen zur aktuellen Folge dieses Podcasts. Ich bin Dagmar Hovestädt und leite die Abteilung Kommunikation und Wissen des Stasi-Unterlagen-Archivs im Bundesarchiv. Mein Co-Host ist Maximilian Schönherr, Radio-Journalist und intensiver Nutzer von Archiv-Tönen jeder Art, was ihn unter anderem auch zur Gründung des SWR2-Archivradios geführt hat.
Maximilian Schönherr: Heute geht es um die Jugend in der DDR und wie die Stasi mit Punks, Hippies und Rockfans umging. Es gibt dabei zwei Eckdaten, nämlich die Jahre 1969 und 1988. Unsere Podcast-Folge 34 beschäftigte sich mit einem Gerücht, das 1969 die Runde machte: Angeblich sollten die Rolling Stones auf dem Dach des Springer-Hochhauses, also auf der West-Seite der Berliner Mauer, ein Konzert geben. Viele junge Menschen in der DDR waren Rolling Stones-Fans. Weil aber die sozialistische Einheitspartei, die SED, jede Art von westlicher Musik für ideologisch bedenklich hielt, wurde dieses Gerücht für viele junge Fans zum Verhängnis. In der Hoffnung auf das Konzert hatten sie sich auf der Ostseite versammelt, wurden dann festgenommen und landeten im Arrest oder auch in Haft. Ohne diesen Vorfall 1969 sind die Vorgänge bis 1988 nicht ganz zu verstehen. Deswegen klingt das Stones-Debakel – die Band trat eben nicht in West-Berlin auf, es war eine Radio-Ente – auch in dieser Folge unseres Podcasts wieder an.
Dagmar Hovestädt: Ja, das Thema Musik, Jugendkultur und Stasi hatten wir in einer kombinierten Veranstaltung diskutiert, deren zweiter Teil heute unser Thema ist. Dieses Event mit dem vermeintlichen Stones Konzert allein ist spannend und interessant. Die Stasi-Akten dazu sind sehr aufschlussreich. Faszinierend ist es, dass dies ja nur eine von ungezählten Akten ist, mit denen der SED-Staat gegen seine eigenen Jugendlichen vorging, wenn diese sich, wie junge Menschen das überall auf der Welt tun, auf eigene Art, auch ganz im Privaten, gegen die Erwachsenenwelt artikulieren. Diese Sorge vor der unkontrollierbaren Macht der Musik war schon eine echte Obsession, und sie zieht sich durch alle Jahrzehnte der DDR und auch durch die Akten, die die Stasi hinterlassen hat.
Maximilian Schönherr: In unserem heutigen Gespräch kommen Forscher zu Wort, die fast alle auch Zeitzeugen sind, vor allem Zeitzeugen der Jahre nach 1969. Also, wenn man so will, die zweite Hälfte der DDR-Zeit. Dagmar, du hast das Gespräch ja wie viele andere Gespräche auch moderiert. Wie war das? Wer war bei so einer Veranstaltung?
Dagmar Hovestädt: Also das Gespräch fand natürlich weit vor Corona-Zeiten auf dem Stasi-Gelände in der Stasi-Zentrale "Campus für Demokratie" statt und dort im Haus 22, dem ehemaligen Veranstaltungssaal der Stasi, muss man schon sagen. Das ist ja jedes Mal immer ein kleiner historischer Triumph, dass da heute ganz andere Leute sitzen und ihre Geschichten erzählen. Und an so einem Abend kommen dann doch eine ganze Reihe von Zeitzeugen, also Menschen, die die DDR erlebt haben und selber Erinnerungen haben an Musik. Sei es aus den 60er/ 70er Jahren eben aus der Hippie- und Beatszene/ Rockszene oder dann eben, was dann auch Thema war, 80er Jahre Synthiepop und neuere Geschichten wie Depeche Mode aber eben auch die Punkszene, so dass da ganz verschiedene Generationen von Musikkulturen auch durchaus im Publikum sitzen. Und dann einfach auch jüngere und ältere Leute, die an Geschichte interessiert sind.
Maximilian Schönherr: Ich finde an dieser Diskussion interessant, dass alle sich im Prinzip einig sind, was für ein repressives System die DDR war. Aber es gibt durchaus unterschiedliche Haltungen zu den verschiedenen Musikrichtungen. Wenn ein Wahl-Berliner das Bruce Springsteen-Konzert in der DDR 1988 für systemverändernd ansieht, sagt der Ex-Punk natürlich: Was juckt mich Springsteen!
Dagmar Hovestädt: Es ist eigentlich ja auch ganz logisch, dass über die verschiedenen Musikszenen und -kulturen hinweg es natürlich auch eine Differenz gibt. Egal wo man auf der Welt war in den 80er Jahren, die Punks fanden Popper blöd und die Hippies konnten mit Rock 'n' Rollern auch nicht so viel anfangen und umgekehrt. Das ist was Universelles über diese Jugendkulturen. Aber in der Erfahrung staatlicher Repression gab es eben dann doch auch eine Verbundenheit in so einem System wie dem SED-Staat.
Maximilian Schönherr: Jetzt sollten wir vielleicht noch ein paar Abkürzungen entschlüsseln.ICC ist die Abkürzung für das Internationale Congress Centrum in West-Berlin. Das befindet sich in Charlottenburg und war oft auch ein Ort für Konzerte. Dann gibt es die 60-40 Regel, das war eine Vorschrift zu DDR-Zeiten, wonach eine Disko oder eine öffentliche Party nur 40 Prozent Musik aus dem Westen spielen durfte, 60 Prozent musste einheimisch sein, daher 60-40. Und der ABV ist der Abschnittsbevollmächtigte, also ein Polizist der Volkspolizei, der für einen Kiez zuständig war, dort Streife lief und Ansprechpartner für die Bewohner war.
Dagmar Hovestädt: Und schließlich wird noch ein Konzert auf der Westseite der Berliner Mauer erwähnt, das 1987 am Reichstag stattfand. Das Reichstagsgebäude lag nämlich genau an der Mauer auf der Westseite.
Maximilian Schönherr: Das ist ja das Gebäude des Weimarer Parlaments und des jetzigen Parlaments der Bundesrepublik. Zu DDR-Zeiten war es, eben weil es direkt an der Mauer stand, ungenutzt. Ich meine, mich dunkel zu erinnern, mal direkt davor gestanden zu haben, vielleicht sogar mal drin gewesen zu sein und an der Rechten Kante des riesigen Gebäudes war die Mauer zu sehen. Aber ich hab dich unterbrochen. Was war 1987 vorm Reichstag los?
Dagmar Hovestädt: Du hast mich unterbrochen, aber jetzt muss ich das doch nochmal ergänzen. Also, meiner Erinnerung nach war da eine Ausstellung zur deutschen Geschichte im Reichstag. Und ab und zu fanden da mal Bundestagssitzungen statt zu besonderen Gelegenheiten wie dem 17. Juni, dem damals gefeierten "Tag der Deutschen Einheit". Berlin feierte 1987 seinen 750. Stadtgeburtstag und zwar getrennt in Ost und West. Und dafür kam im Westen dann im Juni nicht nur Ronald Reagan, der US-amerikanische Präsident, zu Besuch, sondern es gab auch ein großes Konzert vor dem Reichstagsgebäude, das Concert for Berlin. Zehntausende standen vor der Bühne auf der Westseite, und Tausende junger Menschen aus der gesamten DDR versuchten, sich auf der Ostseite nahe genug an die Mauer heranzuwagen, um mitzuhören. Das führte zu heftigen Krawallen mit Polizei und Stasi.
Maximilian Schönherr: Die Podiumsdiskussion beginnt mit einer Einführung von Erik Kirschbaum, einem US-amerikanischen Autor und Journalist, der in Berlin lebt. Er hat dem Konzert von Bruce Springsteen 1988 ein Buch gewidmet.
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Erik Kirschbaum: Guten Abend, mein Name ist Erik Kirschbaum. Ich bin ein Journalist bei der Nachrichtenagentur Reuters. Ich stamme aus New York und bin in Connecticut aufgewachsen. Ich bin Anfang '89 nach Deutschland gekommen. Als New Yorker bin ich natürlich ein Springsteen-Fan gewesen. Ich wusste immer das seine Musik ganz toll war und eine starke Wirkung auf Leute hatte und dann war ich 2002 bei einem Springsteen-Konzert in der Landsberger Allee und habe jemand dort kennengelernt, der erzählte mir von diesem Springsteen-Konzert in Weißensee und er meinte, dass war das tollste Konzert aller Zeiten. Ich hatte inzwischen schon sieben oder acht Springsteen-Konzerte gesehen und ich sage zu ihm: Ja, ja, alle seine Konzerte sind toll. Er sagte: Nein, nein. Er war total begeistert von dem Springsteen-Konzert und meinte, das hat vieles in der DDR geändert. Ich sage: Okay, dann gucke ich mal nach. Ich war neugierig und dann fing ich an ein bisschen zu lesen über dieses Konzert 1988 in Weißensee und tatsächlich waren etwa 150.000 Leute, vielleicht sogar 300.000 Leute, da und es war nicht nur das größte Konzert in der DDR, sondern Springsteen hat auch eine Rede gehalten mitten auf diesem Konzert auf Deutsch. Der hat gesagt: Er war sauer, dass die DDR das Konzert für Nicaragua genannt hat und Springsteen hat dann einen Zettel aus seiner Tasche genommen und auf Deutsch gesagt: Ich bin nicht für eine Regierung oder gegen eine Regierung. Ich bin zu euch gekommen und Rock’n’Roll zu spielen in der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren abgerissen werden. Das hat er tatsächlich gesagt mitten in Ostberlin und dann finge ich an weiter zu recherchieren und ich habe zehn Jahren gebraucht einen Verleger zu finden und dann habe ich dieses Buch geschrieben, das kam letztes Jahr raus: Rocking the wall. Es ist ein Buch über des Konzert. Es war schwer einen Verleger zu überzeugen. Ein Buch über ein einzelnes Konzert zu schreiben, aber ich war total fasziniert von dieser Idee, dass dieses Konzert von Springsteen und seine Rede die DDR vielleicht doch ein bisschen geändert hat und vielleicht doch ein Mosaiksteinchen war auf dem Weg zum Mauerfall 16 Monate später. Das war für mich das Faszinierende. War es möglich, dass ein Konzert und eine Rede mit 300.000 Leute, manche Leute sagen, dass es sogar 500.000 Leute waren, könnte das eine Konzert vielleicht irgendetwas bewegt haben bei manchen Leute. Ich hatte vielleicht mit Sechzig Augenzeugen gesprochen, auch verschiedene Historiker, die Meinungen gehen auseinander. Manche Leute sagen: Ja auf jeden Fall, das hat was geändert. Andere sagen: Nee, das war nur Musik. Es hätte nicht so viel ändern können. Tja, es ist schwer, das zu beweisen, aber ich bin nach wie vor der Meinung: Musik in der DDR, Rockmusik war wirklich eine starke Sache. Ich habe das Gefühl nach den Interviews und den Recherchen, dass viele Leute in der DDR wirklich umso empfänglicher für Rockmusik und die Botschaft waren. In dem Buch habe ich dann auch diese Klaus Renft Combo erwähnt. Ich finde das faszinierend, was die da gemacht haben. Und die versteckte Botschaften bei denen waren gar keine versteckte Botschaften. Bruce Springsteen hat eine starke Wirkung auf viele Leute in der ganzen Welt, aber ich glaube sein Konzert in Weißensee war wirklich eine ganz tolle einmalige Sache und ich hoffe, wir werden heute Abend mehr darüber erfahren können. Es gibt eine Verbindung mit diesen Rolling Stone Gerüchten '69. Ich bin auch darüber gestolpert in der Recherche von der Geschichte und die 510.000 Leute, die da in der Nähe vom Springer-Hochhaus kamen, das hat natürlich große Angst für die Stasi ausgelöst. Die haben wirklich Angst gehabt. '87 ist etwas Ähnliches passiert in Westberlin am Reichstag, denn da gab es Konzerte für Berlin und es war ein große Gruppe da, wie David Bowie, Eurythmics und Genesis. Und die Stasi hat wieder große Angst, denn es waren etwa 10.000 Leute, die in die Nähe von der Mauer kamen und die haben große Angst gehabt. Und wegen dieser Ereignisse in '87 diese Konzerte für Berlin in Westberlin hat die FDJ dann gemeint: Wir müssen was für die jungen Leute tun. Deswegen entstand diese Konzertreihe in Weißensee. Es gibt natürlich dann eine Verbindung zwischen diesem Bruce Springsteen Konzert im Juli '88 und diesem Rolling Stones Gerücht in '69. Das letzte Wort, was ich sagen wollte, ist, Springsteen wollte eigentlich seit '81 in Ostberlin spielen. Der war auf seiner Tour in Westeuropa unterwegs. Er war ein Tag in Westberlin im ICC. Er war nicht so ein großer Star in Europa damals. Es war die "River Tour". Und er hat mit seinen Bandmitgliedern einen Tag verbracht in Ostberlin. Er war total fasziniert von Ostberlin und Ostdeutschland und er wollte unbedingt ein Konzert in Ostberlin spielen. Er hat seinem Manager gesagt: Er will spielen für die Leute hier, die ihn im ICC nicht sehen konnten. Das war so ein Wunschtraum von Springsteen für die nächste 7/8 Jahren. Er hat seinen Manager immer wieder gefragt: Hey, können wir in Ostberlin spielen? Das war für ihn ganz wichtig. Und die Rolling Stones haben nie in der DDR gespielt. Die haben bis zur Währungsunion gewartet. Ein paar Wochen nach der Währungsunion haben die endlich auch in Weißensee gespielt. Ich glaube vor nur 18.000 Leuten. So meine Theorie ist, dass Springsteen und sein Konzert im Juli '88 vor 300.000 Leute haben eine ganz große Rolle gespielt in den nächsten sechs Monaten. So, vielen Dank und viel Spaß!
Dagmar Hovestädt: Ich stelle das Podium am besten einmal kurz vor. Ganz zu meiner Linken, zu Ihrer rechten, ist Professor Prof. Dr. Bernd Lindner. Der ist zurzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im zeitgeschichtlichen Forum im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Leipzig, ganz langer Name, um es korrekt zu machen. Sie sind dort Kurator und sind verantwortlich für den Sammlungsbereich Fotografie, bildende Kunst und Gebrauchsgrafik. Und Sie haben sich in Ihrem wissenschaftlichen Leben sehr viel mit Rock und Musik und Jugend und Musik in Deutschland beschäftigt. Zuletzt die Graphic Novel, muss man sagen, "Herbst der Entscheidung. Eine Geschichte aus der Friedlichen Revolution 1989" mitveröffentlicht und sozusagen auch jemand der die Jugendkulturen in der DDR lange und intensiv mit begleitet hat. Zu meiner Linken, direkt zwischen uns beiden, sitzt Michael Boehlke, der sozusagen heute hier unter anderem deswegen sitzt, weil er ein Museum zur Punkkultur, zur ostdeutschen Punkkultur spezifisch, gegründet hat und leitet. Das ist auch in Pankow selber. Pankow ist auch ihr Spitzname gewesen, als Sie in den 80er Jahren selber in einer Band namens "Planlos" gespielt haben. Habe ich das richtig in Erinnerung? Ja, genau. Und Sie sind im Grunde auch auf die Idee gekommen dieses Punkmuseum zu gründen, weil Ihnen viel zu wenig erzählt wurde über die Geschichte des Punks und denn der Musikbewegung der 80er Jahre. Das heißt, das wäre so ein bisschen auch Ihr Teil oder Ihr Part heute auf dem Podium, die 80er Jahre in der Musik und die Beziehung zwischen Staat und DDR und Musik zu erläutern. Zu meiner Rechten direkt sitzt Erik Kirschbaum, ein Amerikaner in Berlin sozusagen, der sich aber auch auf seine eigene Begeisterung für Bruce Springsteen wiederum in die DDR Geschichte und dieses Konzert eingegraben hat und recherchiert hat. Und die These aufgestellt hat, das vielleicht sogar das Bruce Springsteen Konzert von '88 auch ein Vorläufer gewesen sein könnte für das was dann zum friedlichen Herbst '89 geführt hat. Und Bernd Florath, der uns sehr kundig die historischen Umstände dieses Konzerts 1969 mit vermittelt hat, aus dem Jahre '65 sozusagen schon ein bisschen die Vorgeschichte mit erzählt hat und da eigentlich genau der Ansatzpunkt ist, zu sagen Musik, Jugendkultur und DDR-Gesellschaft war sicherlich in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren ein ganz unterschiedliches Verhältnis. Was war denn so schrecklich an einem Konzert der Rolling Stones? Oder an einem vermeintlichen Konzert der Rolling Stones? Das man nicht einfach auch politisch sagen konnte: Dann sollen sie sich da versammeln und dann kommen die sowieso nicht, dann gehen sie wieder nach Hause, da haben wir Ruhe. Stattdessen hat man tausende von jungen Menschen aus Zügen geholt, hat ihnen Berlinreiseverbote gegeben. Man hat sie vor Ort quasi eingekesselt, festgenommen, hat sie tagelang in den Polizeigewahrsam genommen, hat sie quasi misshandelt und sie eigentlich erst mal eingeeicht auch sich diesem Staat zu widersetzen und den Staat schrecklich zu finden.
Dr. Bernd Florath: Ein bisschen ist ja, sagen wir mal, die SED-Führung da dem Image auch aufgesessen, also dieser Polarisierung in den 60er Jahren zwischen dem braven Beatles und den bösen Stones. Wenn das dem breiten Publikum damals bekannt gewesen wäre, dass die im Grunde genommen sich persönlich wunderbar verstanden haben und das ist natürlich ein auch eine Marketingstrategie war, dann wäre das vielleicht gar nicht so drastisch gewesen. Aber '65 war zur gleichen Zeit als dieser Coup gewissermaßen innerhalb der Funktionärsriege stattfand, fand ja ein Stones Konzert in Westberlin stand in der Waldbühne. Was das Publikum, weil es kein sonderlich toller Auftritt war, dazu brachte, dass sie dort das Gestühl zerlegten. Also der große Skandal, der Aufruhr, das Desaster der Rolling Stones und das war gewissermaßen der Beweis dafür, dass das eine aggressive Musik ist, die die Menschen zu irrationalen Handlungen antreibt und aufpeitscht und deshalb für die sozialistische Kultur völlig unverträglich ist. Und da das gewissermaßen jetzt so ein ideologischer Topos war, der feststand, konnte man '69 jetzt nicht einfach sagen: Okay, aber wenn sie auf den Springer-Hochhaus spielen..., was ja nun auch noch eine andere Feindinstitution war reinsten Wassers, .... lasst sie spielen, das lassen wir einfach mal durchgehen. Das ging nicht. Also das wäre sozusagen in keiner Hinsicht tolerierbar gewesen ohne da tatsächlich politisch jetzt eine Kehrtwendung zu machen. Also schon aus dem Grunde musste da gewissermaßen hart zugeschlagen werden. Auf der anderen Seite, wenn ich mir Stasi-Akten aus dem Jahr 1965 angucke bevor die Gruppen verboten worden, war die Staatssicherheit relativ sachlich, relativ trocken in ihren Beobachtungen. Da war ein Konzert auf irgendeinem Dorf. Dann gab es eine Prügelei am Ende des Konzerts. Dann haben die untersucht. Dann festgestellt: Na ja nach der 60-40 Regel spielen sie am Anfang die gute Musik und am Schluss kommt das, was den Leuten nicht mehr gefällt. Dann haben die Leute aber schon tüchtig Bier getrunken und dann wird um halb zwölf der Laden dicht gemacht. Na ja, dann geht's ab. Dann ist Zoff in dem Laden und dann haben sie an einer Stelle, das fand ich sehr witzig, in so einem Stasi-Bericht steht dann drin: Na ja und die Schadensmeldung von den Gaststättenleiter muss man dann doch skeptisch angucken. Vor allem sollte man sich mal angucken, was die Gaststätte für ein Schuldenstand hat. Also da war die Stasi unglaublich sachlich, das ändert sich dann schlagartig, in dem Moment wo die Sache ideologisch festgenagelt wird. Dann sind das natürlich alles schon wieder versuchte Feindaktionen, feindlich-negativ, was auch immer das bedeuten mag, aber das ist das Etikett, welches den Leuten aufgedrückt wurde.
Dagmar Hovestädt: Bernd Lindner, es gab ja nicht nur die feindliche-negativ empfundene Begeisterung für Westmusik. Es gab ja auch in der DDR durchaus die Jugendszene, eine Jugendkultur. Wie stellt sich das eigentlich dar in der Gesamt-DDR, wenn man sich die Zeugnisse über Jugendkultur anschaut? Das Verhältnis zwischen dem, wo sich junge Menschen nach Westen orientieren, Musik von außen rein holen oder das wie sich der Stadt selber versteht, wenn er Jugendkulturen darstellen will.
Prof. Dr. Bernd Lindner: Der Ärger des Staates war eigentlich seit Anfang an, dass die Maßstäbe für Musik, was jugendgerechte Musik ist, immer aus dem Westen kam. Das fing mit Bebop an, das ging dann mit Jazz und Rock 'n' Roll weiter. Das waren immer Erfindungen des Westen und die eigenen Wertmarken, die man setzen wollte mit russischen Volksliedern oder sowas, griffen halt einfach nicht und auch dem DDR Schlager hing man nicht besonders an als Jugendlicher in den 50er und 60er Jahren und die zündenden Elemente kamen halt aus dem Westen und waren damit automatisch auch politisch verseucht. Das war halt nicht nur Musik, das war die Musik des Klassenfeindes. Und die fand ausgerechnet die Jugend, die man auf seiner Seite wissen wollte, gut. Und von daher war immer ein gespaltenes Verhältnis da und das konnte der Staat nur so lange unter Kontrolle halten, solange es nur wenige waren, die versuchten diesen Idolen nachzueifern. Aber es war gerade das Verbot, das immer wieder Daraufeinprügeln, das was den Reiz ausmachte trotzdem diese Musik zu hören, trotzdem dieser Musik nachzugehen und dann wurde es plötzlich mehrere und es wurden immer mehr und irgendwann waren es dann so viele, dass man es einfach nicht mehr ignorieren konnte und dann hat man immer versucht, das im Nachhinein glatt zu bügeln, in dem man mit eingekauften Förderverträgen die Gruppen versuchte irgendwie brav zu machen. Bei dem einen hat es geklappt und bei dem anderen nicht. Aber letztendlich hat der Staat immer diesen Kampf verloren, das muss man sagen. Er hat 40 Jahre lang immer gegen Windmühlen gekämpft. Er hat diesen Kampf immer verloren. Er hat ihn beim Rock 'n' Roll verloren. Er hat ihn beim Beat verloren. Er hat ihn beim Punk verloren, obwohl gerade die Punks am meisten bluten müssten und spät noch sehr stark an die Kandare genommen wurden. Es war einfach so, Beat-Musik hat den Alten auch im Westen nicht gefallen. Die Bildzeitung hat 1966 eine große Headline gehabt "Härte gegen Gammler". Mielke sagte '82: Härte gegen Punk. Also es ist bloß ein Substantiv ausgewechselt worden. Ansonsten war die Schlagrichtung die selbe. Unterschied ist allerdings: Da war es das Unwohlsein einer älteren Generation, an dem was aus ihren Kindern geworden ist. Es gab immer auch im Westen starke antiamerikanische Züge, wenn Sie sich die ersten Bravos von 1957 angucken, das sind einzigartige antiamerikanische Pamphlete. Bis sie mitkriegten, dass sie unter diesem Slogan die Hefte nicht verkaufen können und plötzlich war dann Elvis auf dem Titelblatt. Im Osten wurde es immer gleich politisiert und da war dann sozusagen die Hürde eine ganze Nummer höher, zum Beispiel Stones Fan sein zu wollen und bleiben zu wollen. Letztendlich konnte das den Leuten aber nie ausgeredet werden.
Dagmar Hovestädt: Warum ist es denn dann nicht möglich gewesen eine eigene Form zu finden? Das ist ein bisschen eine rhetorische Frage, weil in so einem System ist es schwierig eine eigene Form zu finden.
Prof. Dr. Bernd Lindner: Es gab genügend Gruppen auch im Osten hat dieses Beat-Fieber gegriffen. Es haben viele Leute, wir haben es ja gehört, zu den Gitarren gegriffen, haben gespielt. Und was wollten die jungen Leute auf den Tanzsälen hören? Sie wollten die nachgespielten Titel ihrer Lieblingsbands aus dem Westen haben, wenn man sie schon nicht live sehen kann. Ich bin auch Jahrgang 52. Ich kann also ähnliche Geschichten erzählen. Ich bin paar wenige Kilometer von Herrn Gebhardt entfernt in Wittenberg groß geworden, habe auch Bauleiter mit Abitur gelernt und all diese Dinge sozusagen mit durchgemacht und wir sind da über die Dörfer gezogen und die Bands haben gespielt und so wie die Ansätze machten zu eigenen Titeln, drehte man ihnen den Rücken zu. Wir wollten die Titel nachgespielt bekommen und um so besser sie nachspielen konnten- Es gab wunderbare Wettbewerbe [unverständlich]. Wer kann am längsten den Ton halten von den Sängern. Da saßen wir mit Stoppuhren da und haben mitgestoppt und so und das war dann der größte, der dann länger den Ton halten konnte. Das war einfach Spaß und das was man als Jugendlicher halt so präferiert, hatte nichts mehr sozusagen gerade in der Freizeit mit unbedingt stark gesellschaftlichen Inhalten zu tun, sondern man will einfach Lust und Spaß und Freude haben. Und die haben uns auf den Dorfsälen geholt und natürlich ist es dann andererseits für die Musiker auf die Dauer todlangweilig immer andere Titel nachzuspielen von anderen Leuten. Das heißt, die die wirklich kreativ sind als Musiker fangen irgendwann wirklich an was eigenes zu machen. Die wollen auch was eigenes machen. Und das hat am Anfang durchaus auch geklappt, die Entwicklung, die dann vor '65 auch gefördert wurde. Herr Florath hat ja schon die Gitarrenwettbewerbe der FDJ erwähnt. Es sind noch zwei Platten erschienen. Es gab die erste Beatles LP, die Singles sind fast alle erschienen am Anfang, leicht zeitversetzt, aber sie waren da. Und dann kriegten plötzlich die Altvorderen im ZK kalte Füße, weil das Jugendjahr, was sie hatten, war doch nicht deckungsgleich mit dem was dann sozusagen sich da äußerlich zum Beispiel präsentierte. Lange Haare waren ja damals - mit zwei Zentimetern über die Ohren - hieß ja schon lange Haare, aber war schon schlimm. Und wenn man dann zum Tanz kam und vielleicht noch ein Jackett an hatte, aber keinen Schlips trug, war das auch problematisch und dann kann bei dem Mädchen die Miniröcke auf und all diese Dinge, das war alles sehr verwerflich. Und dem musste man entgegen wirken. Dem musste man entgegenstehen. Man musste da verhindern, dass das Raum greift. Und da wurden plötzlich flächendeckend alle Bands verboten, auch die durchaus Ansätze hatten, was eigenes zu machen.
Dagmar Hovestädt: Michael Boehlke, Sie sind eigentlich eher erst aus den späten 70er Jahren. Wir haben eine Menge Zeitzeugenschaft, Erinnerungen aus den 60ern gehört in die 70er rein. Für Sie beginnt das eigentlich alles erst in den späten 70ern. War das Erleben, Staat, sich Freiraum als Musiker oder Musik machen zu schaffen, war das ähnlich restriktiv zu dem Zeitpunkt?
Michael Boehlke: Also wir haben ja nicht Musik gemacht, weil wir Musik machen wollten, sondern weil wir eine Meinung hatten und die wollten wir darbringen. In der Regel war das bei den wenigsten Punkbands so, dass sie den Anspruch hatten gute Musik zu machen, sondern es ging eher darum: Man will der DDR was sagen vielleicht etwas verändern und das Medium Musik ist natürlich sehr einfach und dann nutzt man das erst mal dafür.
Dagmar Hovestädt: Die Erfahrung die Fans der Stones oder die Bernd Lindner gemacht hat vorher, haben die eine Rolle gespielt in der Zeit als Sie jung waren und angefangen haben Musik als Mittel des Ausdruckes, auch dass der politischen Stimme, zu wählen?
Michael Boehlke: Nee, ich glaube, dafür waren wir zu jung. Als ich 13, 14 Jahre alt war, habe ich auch lange Haare gehabt, habe aber eher Lindenberg gehört und fand deutsche Texte auch immer gut, weil ich die verstanden habe. Das waren für uns im Allgemeinen Hippies. Die fanden wir irgendwie Scheiße. Und es schwappt Ende der 70er rüber mit der ganzen Punkmode und der Punkmusik und wir waren im richtigen Alter dafür. Dit kam gerade richtig für uns und dann war es natürlich auch cool mit drei Akkorden Musik machen zu können. Also vorher hat man irgendwie Led Zeppelin oder Pink Floyd und das war unerreichbar. Also so eine Musik will man auf die Beine stellen. Und Fans und sowas hatten wir ja auch nicht. Also wir hatten ja keine Chance aufzutreten. Wir wussten auch, dass es wahrscheinlich gar nicht geben wird, das wir jemals auftreten werden. Und unsere Fans waren immer so unsere Freunde, die bei uns im Proberaum rumsaßen und jedes Mal wenn wir Probe hatten, dann wussten das alle und dann war das Ding voll. Ich habe auch oftmals mein Mikrofon nicht gefunden, weil irgendein anderer dann singen wollte. Die kannten natürlich alle Texte auswendig und da gab es dann das schöne Phänomen, das dann so die ersten Sozialdiakone oder Pfarrer in der DDR dann uns jungen Leuten ermöglicht haben, da auch zu spielen im Rahmen der evangelischen Kirche und da hatten wir dann auch die ersten Auftritte, aber natürlich war das alles inoffiziell.
Dagmar Hovestädt: Also, die Karriere als Musiker war von vornherein schon beschränkt. Aber wenn man Punk ist, sieht man eigentlich auch noch Punk aus. Das war auch im Straßenbild in der Schule, im Alltag nicht zu verbergen. Gab es da sozusagen Gegenmaßnahmen, so ähnlich wie Rolling Stones Fans durch die Zunge auf der Jacke und ähnliches ins Visier gerieten? Wie lange Haare dazu führten, dass man auf offener Straße den Kopf geschoren bekommt. Das sind alles Sachen, die passiert sind in den späten 60er und 70er, dass man sich den Hosenschlag verstecken musste, weil der dazu führt, dass man unter Umständen von einem Polizisten angehalten wird. War das auch mit hochtoupierten Haaren, mit zerrissenen T-Shirts, mit den üblichen Punk-Geschichten, war das eine Gefahr, der man sich ausgesetzt hat? Oder war das eigentlich gar nicht mehr so dramatisch in den frühen 80ern?
Michael Boehlke: Na, es hatte ne Entwicklung. Also, zum Anfang war es so, dass erst mal die Stasi das gar nicht so mitbekommen hat, glaube ich. Also, die waren da so ein bisschen spät dran und dann war es erstmal der ABV im Stadtbezirk und da gab es ja eher sowas ganz persönliches. Also bei mir in Pankow war es so, der ABV kannte mich und hat mich dann irgendwie rangeholt: "Mensch Micha, wat machst du denn da? Warum rennste denn jetzt so rum?" - und na ja, man war ja irgendwie auch blöd - und da hab ich erzählt: "Ja, ick find det cool und hab da ein Poster gesehen und ich will auch so aussehen, find ich geil.". Und da hat er gesagt: "Naja, schön. Mach mal weiter, find ick jut." Also es war relativ harmlos zum Anfang und dann gab es natürlich eine Entwicklung, weil es dann immer mehr Punks gab im Osten und dann die Stasi dieses Phänomen auch mitbekommen hat, gab's die ersten Zuführungen. Und am Ende war es dann so dramatisch, dass - also unsere Gruppierung, wir waren am Alexanderplatz ganz bewusst, weil wir eben auch wollten, dass die Touristen und die Öffentlichkeit uns sehen - ich bin manchmal täglich verhaftet worden, manchmal zweimal am Tag und dann mitgenommen worden zur Keibelstraße und dann gab's Vernehmungen. In der Regel war es so dass man erst mal von der Kripo vernommen wurde und dann ging es ein paar Stockwerke höher zur Stasi, das hat man auch begriffen, weil die anders aussahen und weil die Stasi meistens freundlich waren. Und was ich aber ganz spannend fand, das hab ich eigentlich auch erst mitbekommen als ich meine Akte dann gelesen habe, ich fand mich natürlich schon damals so ganz wichtig und weil, ich sag mal so, es war ja die Generation unserer Eltern, die uns oder die mich auch ganz persönlich da so wichtig genommen hat. Und ich glaube, ich habe eigentlich meine politische Bildung durch die Stasi bekommen, weil die haben mich angehalten darüber nachzudenken. Also die haben mir immer ernste Fragen gestellt und ich habe darüber nachgedacht. Also warum sind wir so wichtig und, das will ich noch kurz zu Ende erzählen, das Spannende für mich war, dass ich dann irgendwann dachte: Also wir müssen so wichtig sein und die haben so eine Angst vor uns, dass wir da wirklich was bewirken können. Und in der Akte dann aber habe ich später gelesen, dass die mich natürlich ganz bewusst immer fest genommen haben, weil die mich als IMV geführt haben, also als IM-Vorläufer, und waren eben der Meinung, ich wäre gut als IM einsetzbar, ebenso als Sänger von einer Punkband in Berlin, natürlich auch am Alexanderplatz. Die haben ja auch ganz patriarchal gedacht, das ist der Kopf der Bewegung und den holen wir uns. Und ich hab permanent erzählt bei den Bullen und bei der Stasi, weil ich immer der Meinung war, man muss diesen Staat verändern und habe den sozusagen, also der Generation meiner Eltern, immer erzählen wollen, was wir alles in der DDR verändern müssen. Und die haben das eben interpretiert als: Der ist gesprächsbereit. Und das habe ich dann, wie gesagt, erst 30 Jahre später begriffen, dass ich vielleicht doch nicht so wichtig war.
Dagmar Hovestädt: Was haben sie denn gefragt, dass man das Gefühl hat, dass man so wichtig wurde und das Gefühl hat: Okay, ich habe hier eine Chance den Staat von innen zu reformieren.
Michael Boehlke: Da habe ich eine schönes Beispiel: Ich hab irgendwann habe ich mal ein T-Shirt bemalt, da stand drauf: "Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht", war ja ein Spruch von Rosa Luxemburg und weil mir das noch zu wenig waren habe hinten drauf den RAF-Stern gemalt, also den roten Stern mit der Waffe. Und damit bin ich dann, ich glaube in Friedrichshain war irgendein Pressefest, das weiß ich nicht mehr so genau, und da hab ich mir einen Hocker genommen und hab eine Rede gehalten. Hab mich dann da hingestellt und hab dann eine Rede halten. Das hat dann drei Minuten gedauert, dann kamen die Bullen und haben mich eben festgenommen. Da wurde mir zum ersten Mal klar, weil als ich dann die Vernehmung hatte in der Keibelstraße, da war ich eben ein paar Tage, da wurde ich gleich dem Haftrichter vorgeführt. Und da wurde mir gleich der Haftbefehl vorgelegt, 2 Jahre und 8 Monate, Widerstand gegen die Staatsgewalt, staatsfeindliche Hetze, öffentliche Aufruhr, bla bla. Das hatten die also alles schon vorbereitet und das war ein Beispiel, wo mir dann auch klar wurde, jetzt meinen sie es doch ernst, jetzt wird's dann doch heftig. Und ich hatte das wahnsinnige Glück, dass ich dann eigentlich nur raus kam - also sie haben mich natürlich immer gefragt, ob ich mit der Stasi mitarbeite, das hab ich immer abgelehnt, Prügel haben wir natürlich auch immer bekommen - und ich bin dann aber raus gekommen, was ich selber gar nicht begriffen habe. Und dann stellte sich später heraus, dass sie meine Freundin zugeführt haben und die hat dann unterschrieben, dass sie mitarbeitet und daraufhin haben sie mich wieder freigelassen. Das war dann sozusagen mein Glück im Unglück.
Dagmar Hovestädt: Was eigentlich ganz verblüffend ist, dass es - oder nicht verblüffend, vielleicht auch logisch ist - aber es sind quasi richtig Generationen an Subkulturen und Jugendkulturen durch die immer gleichen Institutionen gegangen. Die Keibelstraße, die Polizeidirektion hier am Alex in Berlin-Mitte, da waren die Rolling Stones Fans, da waren die Punks, da waren vielleicht Beat-Leute, Jazz-Leute, andere Rock-Leute, die ständig in den gleichen Institutionen gesessen haben, weil sie zu unterschiedlichen Zeiten bestimmte Musiken gut fanden. Und Bernd Florath hatte das eben gesagt, das Einziehen in die NVA war auch ein gutes Mittel zum Beispiel Musikbewegungen und Musikbands auseinander zu sprengen, das ist ja bei Ihnen auch passiert, oder?
Michael Boehlke: Wir hatten als Band relativ viel Glück. Wir sind eigentlich geschlossen zur Armee gekommen, aber es gibt ein gutes Beispiel von Freund aus Leipzig, der hat in einer Band gespielt, die hießen erst "Wutanfall" und später "El Attentat" und da waren von vier Band-Mitgliedern zwei bei der Stasi, die auch - waren IMs sozusagen - die auch voneinander nichts wussten. Da war die Stasi relativ clever, weil die dann sozusagen immer die beiden Berichte lesen konnten und dann wussten: Okay, spinnt der eine jetzt oder sagt der auch die Wahrheit. Und im Endeffekt sind dann aus dieser Band zwei Leute in den Knast gegangen und die anderen beiden waren eben beim Geheimdienst. Und das ist eben das, was Doktor Lindner eben gesagt hat vielleicht auch nochmal ein besonderer Fall bei den Punks gewesen. Es gab unheimlich viele Bands, die wirklich infiltriert worden sind von der Stasi und wo dann entweder in der Band direkt ein IM platziert wurde oder im Umfeld um da einfach ein Zugriff zu haben und mitzukriegen was da läuft.
Dagmar Hovestädt: Das ist sicherlich die veränderte Strategie über die Jahrzehnte, dass man in den 60ern noch einfach massiv versucht hat es wegzudrücken, wegzusperren, und dann eine gewisse Liberalisierung, eine Pseudo-Liberalisierung einsetzte, man das zuließ, aber umso stärker die Szene unterwanderte und immer mehr auch IM und eigene Informationsquellen in die Musik-Szene reingeholt hat.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Dagmar Hovestädt: Erik Kirschbaum, die Begeisterung für Bruce Springsteen in den 80er Jahren, konnte man die im Nachhinein recherchieren? Wie weit waren Leute eigentlich in der DDR interessiert an Bruce Springsteen und an seiner Musik und gab es Coverbands, die sich auf das Liedgut eingelassen haben, die auch in den 80er Jahren Springsteen nachgespielt haben? Hat man das im Nachhinein recherchieren können?
Erik Kirschbaum: Ja, ich weiß nicht genau, aber ich denke die Rolling Stones waren populärer als andere Gruppen, aber das was Sie vorher erwähnt haben, dass der Staat Angst vor Rockmusik und Musik hatte, das habe ich immer wieder gesehen in den Akten, was ich gelesen haben. Und ich glaube immer noch, dass heutzutage Rockmusik eine große Bindung in Ost-Deutschland verglichen zu West-Deutschland, da war immer so eine politische Botschaft. Ich habe ein Lexikon der DDR, da steht eine Definition von Rockmusik und das ist ganz skurril: "Rock'n'Roll, Ursprung in den USA, ist eine übertriebene Form des Boogies. Es verführt junge Leute zu Exzessen. In der Bundesrepublik dient es als Instrument für psychologische Kriegsführung, die junge Leute ablenkt von politischen Themen." Und wenn man solche Dinge sieht, dann spürt man schon, dass in der DDR Musik was wirklich gefährliches war für die SED und den Staat. Es gab damals kein Internet, es gab kein Twitter und solche Dinge, aber wenn man die Revolutionen im arabischen Frühling und solche Dinge sieht. Ich glaube, Musik war für die DDR die Gefahr, dass man von draußen was importieren könnte oder sehen könnte, RIAS zum Beispiel - jeder DDR Bürger weiß was RIAS ist, was RIAS war - und die Bedeutung kann man wirklich kaum zu wenig beschreiben.
Dagmar Hovestädt: Das ist natürlich für Historiker auch eine schwierige Sache. Bernd Florath, auch Bernd Lindner, wie misst man das? Wie misst man die Kraft des freien Worts, des Gedankens, die Kraft, den Adrenalinstoß von einem Rolling Stones Song, der Leute sozusagen anstößt etwas zu tun, sich auch gegen die Zustände zu wehren, die durch die Musik kommen, in ihrer verändernden Kraft für eine Gesellschaft?
Dr. Bernd Florath: Ich glaube nicht, dass man das so direkt messen kann. Es ist wirklich eine Sache, die man im Vergleich eher abtasten kann. Also was ja hochinteressant ist, ist die wirklich parallele Reaktion auf die neue Musik '65, '66 in Ost und West. Also im Oktober 1965 werden ja nicht nur die Beat-Gruppen in der DDR verboten, sondern vor der Gedächtniskirche werden die Gammler abgeräumt von der Westberliner-Polizei. Das war auch kein sehr freundliche Begegnung, die da stattfand. Die entsprechenden Artikel sind schon erwähnt worden. Es gibt bei uns im Archiv, im Stasi-Archiv, gibt es eine wunderbare Akte die geführt wurde, die hat den Titel: "Unkultur". Und da wird in verschiedenen Abschnitten die Auswirkungen dieser furchtbaren Musik gesammelt, und zwar sowohl im Westen als auch im Osten, und nichts war so beliebt bei der Stasi wie Artikel aus der Springer-Presse über die Gammler. Das ging den runter wie Öl, da haben die plötzlich vergessen, dass Springer ja eigentlich der Erzfeind war, aber er hat ihnen aus der Seele gesprochen. Musik ist ja immer auch ein Träger für bestimmte Stimmungen auch und insofern gibt es natürlich auch eine Entwicklung von den 60er bis in den 80er Jahren in der Behandlung des Publikums. Also während '65 etwa die Leipziger - also fast die Hälfte derjenigen, die damals zugeführt wurden, sind dann in den Braunkohlentagebaue geschickt worden zur Zwangsarbeit. '69 werden auch etliche verhaftet, aber im Grunde genommen, ist das proportional zu der Menge von Leuten die da auftauchten schon viel zurückhaltender. Und dann haben wir ja ein Ereignis, was wir manchmal so ein bisschen übersehen, das ist '79, da gab es ja am Alex noch mal einen kleinen Trouble, wo sie dann die die Gitter am Fernsehturm eintraten.
Dagmar Hovestädt: 1977?
Bernd Florath: Oder 1977.
[Einwurf aus dem Publikum: Am 07. Oktober!]
Dagmar Hovestädt: Auch 07. Oktober 1977.
Bernd Florath: Auch wieder am 07. Oktober 1977. Und da wurde dann versucht irgendwie zu moderieren, also es lediglich auf den Punkt zu bringen: "Ja Leute, wenn da was passiert, dann muss doch die Feuerwehr irgendwie durchkommen und ihr könnt doch die staatlichen Organe nicht daran hindern euch zu retten!", das war dann sozusagen so ein bisschen der Tenor. Und wenn ich mir dann überlege beim Bruce Springsteen Konzert, wo ja also mindestens doppelt so viele Karten gefälscht worden, wie echte verkauft waren und am Schluss die Tore aufgemacht worden, weil keiner mehr tatsächlich den ranströmenden Leuten da einen Zaun vor die Nase setzen wollte, weil die Konfrontation war zu vermeiden. Man wollte tatsächlich sehen, dass die Leute hingehen, sie hören ihre Musik und dann erzählt der Springsteen - Gott sei Dank versteht das ja keiner so richtig was er da vorne erzählt - alle sind glücklich und gehen wieder nach Hause. Hat so nicht funktioniert, aber das war die Intention. Konzert für Nicaragua und nicht Aufheizen von Leuten. Ein bisschen, weshalb ich mit der Stimmung operiere, das ist natürlich dann auch eine Generationsfrage, na klar. Ich meine, wir waren die Hippies für die Punks, ist mir völlig klar. Ich konnte mit der Punk-Musik auch nicht so wahnsinnig viel anfangen, das muss ich dazu sagen. Aber das ist dann bloß noch ein Altersunterschied. Ich glaube der Bruch war in den 60er Jahren zwischen den Generationen, also der Kriegsgeneration und der Nachkriegsgeneration, und das auch blockübergreifend viel brutaler und viel tiefer während den 80er Jahren. Die Eltern der Kids in den 80er Jahren die haben ja in den 60er Jahren sozusagen ähnliche Erfahrungen auch schon gemacht, was vieles schon wieder abgeschliffen hat. Was ich für wichtig halte, weil sowohl 1989 in der DDR, als auch in Prag, wo das ja expliziten Rolle spielte, haben dann zum Beispiel die Kampfgruppen-Eltern gesagt: "Moment mal, wir werden doch nicht unsere Kids angreifen." Das spielte dann plötzlich eine Rolle an dem Punkt.
Dagmar Hovestädt: Genau. Bernd Lindner, es waren nämlich sehr viele junge Leute unterwegs auf der Straße, auch in der friedlichen Revolution. Also es hat schon eine langanhaltende-
Prof. Dr. Bernd Lindner: Na ja, der Durchschnitt der Leute, die in Leipzig auf der Straße waren, war so zwischen 25 und 40. Die waren also schon in der Regel junge Familienväter, in der Regel Produktionsarbeiter, Fachschulingenieure, die einfach gesehen haben, dieses Land ist am Ende und hier muss was passieren und es kann nicht jeder weglaufen. Im Sommer '89 sind eine Unmenge von Leuten, gerade junge Leute, weggelaufen. Das Durchschnittsalter der jungen Leute, die über Ungarn nach in die BRD gingen war 23,4 Jahre. Das war eine Generation, ich nenne sie mal "die distanzierte Generation", die ist nach '75 in die Jugend hineingewachsen und die hatte kein Verhältnis mehr zu diesem Land, in dem sie lebten. Die waren dort hinein geboren, dafür konnten sie nichts, sie durften aber auch nicht raus und haben gesehen, dass den Preis, den ihre Eltern dafür zahlen, dass es ihnen halbwegs gut ging - denn den DDR-Bürgern ging es im Ostblock verglichen halbwegs vernünftig gut, mit Polen verglichen, mit den Bulgaren oder Rumänen - aber den Preis, den die Eltern dafür gezahlt haben, dieses ewige Stillhalten, dieses Nicht-Aufmucken, dafür so ein kleines Äquivalent zu kriegen, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben oder eine warme Wohnung und so, das wiegt im Jugendalter ja alles auch nichts. Das war ihnen einfach zu wenig. Sich gegen aufzulehnen schien am Anfang relativ sinnlos, also hat man einfach sich nach innen zurückgezogen, ist quasi nach innen emigriert und in dem Moment wo die Grenze aufging, mussten diese jungen Leute, die zufällig in Ungarn waren oder auf dem Weg nach Prag, sich überlegen, verlasse ich mein Heimatland, verlasse ich meine Familie, verlasse ich meine Freunde und die Frage ist: Wann kann ich die wiedersehen? Halte ich das aus? Bin ich emotional oder innerlich so stark, dass ich zum Beispiel zu sieben Jahre warten konnte. Das war schon Erfahrungswert, man wusste, wenn man Republikflucht beging, musste man mindestens sieben Jahre warten, bevor man wieder rein darf. Kann ich das meinen Eltern antun und halte ich das mit meinen Freunden aus? Und wenn ich das beantworten konnte in dem Moment, dann konnte ich auch gehen, weil ich hatte keine Bindung mehr an dem Alter, an dieses Land. Und es gibt natürlich direkte Reaktion auf so was, wenn Springsteen singt "Born in the USA", was dann Hunderttausende mitgesungen haben, dann macht eine kleine DDR-Band aus der Punk-Szene, Sandow, in Cottbus, ein Lied "Born in the GDR" und wollen genau das andere damit sagen: Ich bin nicht stolz auf die DDR, ich bin aber in der DDR geboren und ich will jetzt hier verdammt was anfangen und was verändern, und insofern ist das durchaus plausibel, das natürlich auch die Punks oder Jugendliche '89 eine wichtige Rolle gespielt haben. Es gibt einen Song von einer Band aus Gotha, Schleimkeim, von 1985, "Prügelknaben" heißt der Song. Da gibt es die Textzeile drin: "Wir sind das Volk, wir sind die Macht. Es ist zu spät, wenns erstmal kracht." '85 gesungen, schwer verständlich, wie beim meisten Punk-Text und natürlich, das Publikum war immer klein, aber man hatte seine Kassetten, die Musik wurde ja auch unter anderen dadurch verbreitet, dass im Proberaum immer ein Tonband mitlief oder ein Kassettenrecorder. Und da wurden die Kassetten vervielfältigt und unter das Punk-Volk gebracht. Also, Otze, der Sänger von Schleimkeim meint: "Ja, klar, meine Fans waren textsicher und in der ersten Reihe in Leipzig waren auch immer Punks dabei. Warum soll dieser berühmte Spruch "Wir sind das Volk!" nicht von einem Punk gerufen worden sein? Ja, warum nicht? Zumindestens die Vorlage war aus dieser Szene da. Das heißt, es gibt schon Momente, die sagen, dass Musik so was wie ein anarchisches Grundprinzip ist. Frank Zappa hat mal gesagt: "Rockmusik, die nicht anarchisch ist, ist keine Rockmusik." Und die Punks in der DDR haben es bewusst auf die Spitze getrieben. Also, die davor haben ja immer noch versucht mit der zweiten Textebene hintenrum Kritik zu üben und wir haben es auch alle verstanden, was da gemeint ist. Wenn Lift sang: "Nach Süden, nach Süden" dann wussten wir natürlich, die meinen: "Nach Westen, nach Westen", bloß das konnte man halt nicht singen, aber die Punks haben es halt einfach geradeaus gemacht. Die haben dann die Texte so formuliert, wie sie es meinten, wie sie drauf waren, und genau da war dann der Punkt, wo der Stadt allergisch reagierte. So direkt hatte es ihnen vorher keiner gesagt.
Dagmar Hovestädt: Erik Kirschbaum, warum soll das Konzert von Bruce Springsteen im Sommer '88 so eine lang anhaltende Wirkung haben für das Jahr darauf? Was ist es an Springsteens Musik selber, aber überhaupt an Musik, dass Leute dann beflügeln könnte?
Erik Kirschbaum: Ja, ich glaube, es war nicht unbedingt Springsteen, der das ausgelöst hat. Bob Dylan hat ein Konzert '87 gespielt, zwar nur eine Stunde, ohne Emotionen, ohne Ehrgeiz und ist dann abgehauen, die Leute waren alle sehr enttäuscht, aber Springsteen kam mit seiner Energie, der spielt sowieso immer 3, 4 Stunden und ohne Vorband, ohne Pause und das sprang über. Aber sie haben das vorher erwähnt, die Leute - ich habe mit 60, 70 Leuten gesprochen, die dabei waren, vielleicht sind ja auch ein paar Augenzeugen hier - aber viele haben mir erzählt, die waren fasziniert, die können auch ohne Karte reinkommen. Leute ohne Karten sind einfach reingestürmt, die FDJ hat die Tore aufgemacht, die waren erstaunt, dass die Autorität da irgendwie zusammengebrochen ist für dieses Konzert. Das war ein bisschen Anarchie, es war ein bisschen was Anderes und dann waren die drin und die waren mit 300.000, es gab andere Schätzungen 500.000 Leute waren da, 160.000 Karten gab es, viele waren gefälscht, viele kamen rein ohne Karten. Ich habe mit Augenzeugen gesprochen, die standen Schlange, dann hieß es: "Keine Karten mehr!", plötzlich bewegte sich die Schlange und als sie an dem Kartenhäuschen vorbeikamen, war das Kartenhäuschen zersplittert, es war einfach überrannt, die Leute sind einfach reingeströmt. Und für die jungen Leute in der DDR, haben die immer gesagt, das war etwas faszinierendes, etwas Neues.Die haben gesehen, die haben ein bisschen Macht und dann waren die 300.000 Leute da drin, haben stundenlang Spaß gehabt, es war ohne Verpflegung, ohne irgendwas, trotzdem hat keiner gemeckert. 80 sind zusammengebrochen wohl, laut Stasi-Bericht, sind ohnmächtig geworden, aber es war einfach ein faszinierender Moment. Und ich hab mit einem Historiker von der Freien Uni gesprochen, der in der DDR nicht reisen durfte, er hat das im Fernsehen gesehen, wie viele andere Leute, das Konzert wurde auch übertragen im DDR 2 und er war erstaunt, dass so viele Leute auf einen Platz waren in der DDR. Das war auch etwas Neues. Und die waren freiwillig da, das war kein 1. Mai Feiertag. Das waren junge Leute, die waren freiwillig da, die haben Spaß gehabt und dieser Funke, glaube ich, hat sich schon ein bisschen übersprungen. Das war, für die FDJ war das ein Versuch den Leuten in der DDR etwas zu geben, Spaß zu geben, es lohnt sich hier zu bleiben, weil die wussten von Umfragen dass die Unzufriedenheit unter den jungen Leuten sehr stark gestiegen ist, die Zahl der Ausreiseanträge sind gestiegen und es war ein Versuch diesen Hunger zu stillen, aber es ging völlig in die Hose. Das hat den Dschinni aus der Flasche gelassen. Und ein letzter Satz: Der hat auch gemeint, die Leute in Leipzig dann, ein Jahr später, als die plötzlich so viele auf der Straße in Leipzig waren, das war dann nicht so erstaunlich, weil das haben wir schon gesehen beim Springsteeen-Konzert ein Jahr früher.
Prof. Dr. Bernd Lindner: Ja, das haben wir nicht dafür gebraucht. Aber es gibt ein anderes Konzert, was ich viel wichtiger finde, im Herbst 1988 hat Rio Reiser gesungen, ein Konzert gegeben. Und es gibt einen Mitschnitt von diesem Konzert, auch ein Fernsehmitschnitt, wo das eine Lied fehlt, ist bis heute nicht gefunden worden, aber es gibt es als Tondokument. Rio Reiser hatte sich verpflichtet "Keine macht für Niemand" nicht zu singen und "Macht kaputt, was euch kaputt macht" auch nicht, hat aber andere frühe Lieder gesungen. Und da gibt es ein Lied von ihm, wo er reflektiert, wo die Veränderung der bundesdeutschen Gesellschaft Anfang der 70er Jahre mit drin ist, "Der Traum ist aus", und da gibt es eine Zeile, die sagt dann, er spricht von seinem Traum und sagt dann: "Dieses Land ist es nicht." Und er meint die Bundesrepublik. "Dieses Land ist es nicht." und plötzlich ruft der ganze Saal in der Werner-Seelenbinder-Halle: "Dieses Land ist es nicht! Dieses Land ist es nicht!". Und die meinten nicht die Bundesrepublik, die meinten die DDR.
Dr. Bernd Florath: Also ich muss sagen, dass war das einzige Mal, dass ich wirklich Angst hatte, dass ein Haus zusammenfällt.
Prof. Dr. Bernd Lindner: Und da hat man gespürt, dass Rockmusik was bewegen kann. Also da war ein Moment drin - Rio Reiser stand ja auch mit Ton Steine Scherben, obwohl er da schon Solo unterwegs war, für eine ganze Portion Anarchie in der Musik - und die war voll in diesem Saal, die war voll lebendig, die war voll da und da war klar: Mit dieser Generation gibt es dieses Land nicht weiter.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das waren zuletzt Professor Dr. Bernd Lindner, Forscher zu Musik- und Jugend-Kulturen und Mitarbeiter im zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig. Außerdem diskutierte mit: Dr. Bernd Florath, er war bis 2020 Mitarbeiter der Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Michael Boehlke gründete 2011 ein Online-Archiv zur Punk-Kultur in der DDR und der Journalist Erik Kirschbaum, der 2016 das Buch "Rocking the Wall - Bruce Springsteen" publiziert hat.
Dagmar Hovestädt: Unser Podcast endet jedes Mal mit einem akustischen Stasi-Dokument aus der riesigen Audiodokumentensammlung des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was in der Podcast-Folge vorher besprochen wurde.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Anonyme Anrufe beim MfS, der Polizei, der Feuerwehr sowie staatlichen Stellen waren an der Tagesordnung. So gab es Drohungen, Beschimpfungen, Ankündigungen von Republikfluchten, Straftaten oder Selbstmorden. Zur Aufklärung und Rückverfolgung arbeitete das MfS auch mit sogenannten Tonkonserven sowohl zur direkten Stimmenidentifizierung als auch zur Eingrenzung mittels Dialekten. Die Dialektbänder enthalten zum Beispiel Filmausschnitte mit Dialekten aus der alten Bundesrepublik, der Schweiz oder Österreich. Häftlinge mussten bei ihrer Entlassung Texte sprechen, und neben ihren Personalien wurde erfasst, aus welchem Ort sie kommen. So entstanden auch nach DDR-Bezirken geordnete akustische Landkarten. Der operativ-technische Sektor, kurz OTS, war unter anderem mit akustischen Expertisen sowie dem Aufbau und der Führung spezieller Sammlungen betraut. In dessen Bestand fand sich folgende Aufnahme einer Gesprächsrunde in der Arbeitsgruppe Dialektforschung des Kulturbundes über Dialekte und Gebräuche in Seehausen in der Altmark zum Thema Platt. Von den 146 Minuten hören wir gut 3.
[Archivton]
[männliche Stimme 1:] Wie war das nun - Sie hatten vorhin mal angefangen mit dem Plattdeutschen - Wer spricht heute noch Platt in Seehausen?
[weibliche Stimme 1:] Direkt nur wenig.
[männliche Stimme 2:] Eher bei uns in der Altmark.
[männliche Stimme 1:] In Seehausen.
[männliche Stimme 2:] Ja, heut da keener mehr.
[weibliche Stimme 1:] Der dat noch richtig gekonnt hat, war Hermine Huuse [phon.], die ist nicht mehr.
[männliche Stimme 2:] Die Alten, die-
[männliche Stimme 3:] Naja, wir haben noch, äh, na, äh, äh, na, äh, [unverständlich] kann auch noch teil-, und Günther, die sprechen teilweise ja.
[weibliche Stimme 1:] Ja, die können auch noch etwas.
[männliche Stimme 1:] Wie alt sind die ungefähr?
[männliche Stimme 4:] In den 40ern, nich?
[männliche Stimme 5:] Ja, ich wollte grad sagen-
[männliche Stimme 4:] In den 40ern.
[männliche Stimme 5:] In den 30er, 40er Jahren, ja.
[männliche Stimme 1:] Und die sind hier geboren in Seehausen?
[männliche Stimme 3:] Ja.
[weibliche Stimme 1:] Ja.
[männliche Stimme 1:] Und die sprechen manchmal-
[männliche Stimme 4:] Die können noch-
[weibliche Stimme 1:] Na, die haben von Muttern noch gelernt-
[männliche Stimme 4:] Von Muttern, Mutter-
[weibliche Stimme 1:] wir haben dat nu inzwischen schon wieder verlernt. Wir haben ja auch mal etwas von unser Mutter je-
[männliche Stimme 4:] [unverständlich] mehr oder weniger ja gar kein Platt gesprochen und dann nu noch- [seufzen]
[männliche Stimme 5:] Ich sag ja, ich hab auch keinen gefunden-
[weibliche Stimme 1:] Hier rechts und links ist och keener mehr, die noch Platt sprechen.
[männliche Stimme 1:] Und wie alt sind Sie?
[weibliche Stimme 1:] 78.
[männliche Stimme 1:] Und als Kind, haben Sie da noch Platt gesprochen?
[weibliche Stimme 1:] Mutter ja. Und da haben wir dann so ein paar Brocken mitjekriegt.
[männliche Stimme 1:] Hmhm.
[weibliche Stimme 1:] Die sprach ja nur Platt, die kannte ja garnichts anderes.
[männliche Stimme 1:] Auch mit Ihnen? Mit den Kindern?
[weibliche Stimme 1:] Ja, ja. Die kannte ja garnichts anderes.
[männliche Stimme 1:] Und von wo war Ihre Mutter?
[weibliche Stimme 1:] Von Krusemark.
[männliche Stimme 1:] Ach so, vom Dorf, hm.
[weibliche Stimme 1:] Ja.
[männliche Stimme 1:] Und die zu Ihrer Zeit in die Schule gegangen sind, die Schüler?
[weibliche Stimme 1:] Da gab keen Platt in der Schule.
[männliche Stimme 1:] Warum nicht?
[weibliche Stimme 1:] Ich weeß nicht, Lehrer konnten das vielleicht nicht.
[männliche Stimme 1:] Ja, die Lehrer nicht, aber in Bausen, meine ich natürlich.
[weibliche Stimme 1:] Ach nein, da, wissen se, da waren wenige Kinder, die das überhaupt gekannt haben und gelernt haben.
[männliche Stimme 1:] Hmm, 78-
[weibliche Stimme 1:] Mit den, wo ich zur Schule gegangen bin-
[männliche Stimme 1:] - das war also 1910, 1916, 17 und 18.
[weibliche Stimme 1:] Ja. Ja, da wurde in der Schule kein Platt gesprochen mehr.
[männliche Stimme 1:] Ne, aber unter sich dacht ich.
[weibliche Stimme 1:] Auf dem Lande, ja.
[männliche Stimme 2:] Ja, aber auch hier die Alten-
[weibliche Stimme 1:] Ja.
[männliche Stimme 2:] - in meinem Alter.
[männliche Stimme 6:] [unverständlich], die haben ja alle noch Platt gesprochen.
[weibliche Stimme 1:] Ja, ja.
[männliche Stimme 6:] Und, na, wie heißt er denn, Karl Koch [phon.]. Und die haben-, die haben hier, die haben noch Platt gesprochen.
[männliche Stimme 1:] Und was waren die denn von Beruf?
[männliche Stimme 6:] Äh, Landwirte.
[weibliche Stimme 1:] Landwirt.
[männliche Stimme 6:] Äh ne, Ackerwirte, sag ich mal.
[männliche Stimme 1:] Und die jetzt noch sprechen, die Sie vorhin gesagt hatten, was sind die von Beruf?
[männliche Stimme 6:] Das sind Söhne von-, die sind alle Ackerwirte geworden.
[männliche Stimme 1:] Also, mehr auf die-, in der Landwirtschaft-
[weibliche Stimme 1:] Dat landwirtschaftliche geht dat schon mehr-
[männliche Stimme 1:] Und was waren denn Ihre Eltern?
[weibliche Stimme 1:] Wir hatten auch ne Landwirtschaft.
[männliche Stimme 1:] Hm, aber da haben-, die haben mit denen-, da wollten die-, ihre Eltern wohl nicht-
[weibliche Stimme 1:] Mein Vater konnte nicht Platt.
[männliche Stimme 1:] Wo war der her?
[weibliche Stimme 1:] Aus Schlesien.
[männliche Stimme 1:] Achso, ja.
[weibliche Stimme 1:] Der konnte dat nicht.
[männliche Stimme 1:] Hmhm. Und ha-, wollten die Städter hier, die Seehäuser, bewusst nicht platt sprechen?
[männliche Stimme 6:] Teilweise ja.
[männliche Stimme 1:] Und wer war das so, wer nicht wollte?
[männliche Stimme 6:] Ah, ick mein, ich bin auch ein Gegner dagegen, das muss ich ganz ehrlich sagen-
[weibliche Stimme 1:] Also die Zugezogenen, die vom Lande kamen-
[männliche Stimme 6:] [unverständlich] war prinzipiell dagegen [unverständlich]. Ist so, wenn die Alten sich richtig unterhalten haben, man hat ja gar nicht gewusst was die wollten.
[männliche Stimme 1:] Ja, Sie konntens ja lernen.
[männliche Stimme 6:] [unverständlich] konntet lernen, bis dahin. Aber wie oft ist es vorgekommen, dat die was gesagt haben und man hat jarnicht gewusst wat die überhaupt-, da, wat die überhaupt gesagt haben.
[weibliche Stimme 1:] - die verstanden haben.
[männliche Stimme 1:] Haben Sie es verstanden?
[weibliche Stimme 1:] Ich hab det verstanden.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."