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Grenzzaun mit Splitterminen des Typs SM-70

Der VEB Chemiewerk Kapen und die Splittermine SM-70

Mit dem Mauerbau im Jahr 1961 reagierte die DDR auch auf die anhaltende Fluchtbewegung der eigenen Bevölkerung in die Bundesrepublik und nach West-Berlin. Damit wurde endgültig ein bereits durch die Aktionen "Grenze" und "Ungeziefer" im Jahr 1952 angestoßener Prozess manifester Bestandteil der eigenen Abschottungspolitik, die in der Folge oftmals in Widerspruch zum Anliegen internationaler Anerkennung geriet.

Die Errichtung der Berliner Mauer, als Zäsur der deutschen Nachkriegsgeschichte, prägte in geradezu ikonischer Weise die Wahrnehmung der deutsch-deutschen Teilung, mithin des Kalten Krieges. Bis heute hat sich dieser Eindruck im kollektiven Gedächtnis weit über Deutschland hinaus verankert.

Fluchtversuche an der deutsch-deutschen Grenze zur Bundesrepublik wurden in der Folge ebenfalls nahezu unmöglich gemacht. Der Ausbau und die Sicherung der Grenzanlagen wurden wesentlicher Bestandteil der Sicherheitsarchitektur der DDR bis zum Ende ihrer Existenz. Dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) kam hierbei eine Schlüsselrolle zu. Neben der Überwachung der eigenen Bevölkerung und der Absicherung der an der Grenze eingesetzten Grenzsoldaten durch Sicherheitsüberprüfungen und den Einsatz von IM, wurden auch die für die Produktion der Grenzanlagen sowie die für die Ausrüstung der Grenztruppen zuständigen VEB durch das MfS überwacht.

Produktion der SM-70 im Chemiewerk Kapen

Zu diesen Betrieben zählte der VEB Chemiewerk Kapen (VEB CWK). Dieser war "Alleinhersteller von Spreng- und Sperrmitteln für die Sicherung der Staatsgrenze West", so die Stasi 1984. Insbesondere aufgrund der Herstellung der Splittermine SM-70 für die Grenzanlagen der DDR (nicht eingesetzt an der Berliner Mauer), kam der Überwachung des Betriebes seitens der BVfS Halle und deren Diensteinheiten besondere Bedeutung zu. Die SM-70 war eine Selbstschussanlage und wurde an die Grenzzäune mit Streurichtung in DDR-Gebiet montiert.

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Eine Anschauungsskizze aus Unterlagen der MfS-Abteilung Bewaffnung und Chemischer Dienst (BCD) erläutert den Aufbau und die Funktionsweise einer solchen Splittermine sowie deren Halterungs- und Aufstellsystem. Grundsätzlich bestand eine SM-70 aus einem trichterförmigen Minenkörper, der die Sprengladung und Metallsplitter enthielt, sowie dem darunter liegenden in einem Stahlrohr befindlichen Schalter. Dieser schloss bei Be- oder Entlastung der Spanndrähte den Zündstromkreis und brachte die Mine zur Detonation. Die Splittermine war Teil der "Anlage 501", die eine Länge von 5 km des Grenzzauns einnahm und in zwei Zonen unterteilt war. Jede Zone gliederte sich in 9 Abschnitte, die ihrerseits eine Länge von je ca. 280 Metern hatten sowie pro Abschnitt 39 SM-70 umfassten.

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Da der VEB CWK als "Betrieb der speziellen Produktion" aus Sicht der Stasi besonders für Spionage- und Sabotageaktivitäten "gegnerischer Stellen" in Frage kam, hatte die Geheimpolizei ein eigenes FIM-System und einen OibE im Werk platziert. Dennoch kam es immer wieder zu Problemen und teils tödlichen Unfällen im VEB CWK. Operative Personenkontrollen und -vorgänge zu einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des VEB konnten seitens der Stasi hieran nichts ändern. Dem MfS gelang es nicht, auftretende Probleme und Unklarheiten im Produktionsprozess nachhaltig zu beseitigen – teilweise gelang es nicht einmal, diese zu klären. Vermutete Sabotage- und Spionagetätigkeiten, gerade bei Produktionsmängeln bzw. Produktions- und Entwicklungsverzögerungen, konnten im Rahmen der operativen Arbeit des MfS (OPK / OV) nicht nachgewiesen werden.

Gleichwohl der VEB Chemiewerk Kapen einen  derart brisanten Auftrag hatte, hielt die Stasi im "Bericht über ernsthafte Mängel in der Gewährleistung der Zugriffssicherheit bei Geräten der speziellen Produktion im VEB Chemiewerk Kapen/Gräfenhainichen" vom 23. Juli 1982 zahlreiche Mängel, vor allem im Bereich der Nachweisführung und Lagerung von produzierten Gütern, fest.

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Die nach dem Bericht durch die Arbeitsgruppe des Leiters der HA XVIII durchgeführte buchhalterische und physische Inventur der Lagerbestände konnte nur teilweise den Verbleib von Produktionsmitteln und hergestellten Waffenbeständen klären. Bei den Sprengstoffen TNT und Hexogen ergaben sich in der Buchhaltung zunächst Fehlmengen im vierstelligen Kilogrammbereich. Im Wesentlichen lagen die Fehler hierbei in der Nachweisführung. Trotz mehrfacher physischer Kontrolle konnten jedoch 80 Kilogramm TNT aus den Beständen zweier Lagerbunker nicht aufgefunden werden.

Bei der Herstellung der Splittermine SM-70 arbeitete der VEB Chemiewerk Kapen mit weiteren VEB zusammen. So lieferte der VEB Elektroapparatebau Bannewitz (Bereich der BVfS Dresden) die elektronischen Teile und der VEB Sprengstoffwerk Schönebeck (Bereich der BVfS Magdeburg) den Sprengstoff für die Selbstschussanlage. Über den VEB CWK sowie den Herstellungsprozess der SM-70 finden sich in den Stasi-Unterlagen ansonsten kaum Angaben. Selbst für den Zeitraum, in dem die Produktion der Splittermine hohe Priorität hatte, finden sich hier keine ausführlichen Darstellungen. Auch die Splittermine selbst wird als solche vergleichsweise selten benannt und zumeist in lediglich umschreibender Weise als Teil der "Anlage 501" (später "701") im Zusammenhang mit dem pioniertechnischen Ausbau der Grenzanlagen oder bei Grenzverletzungen erwähnt. Vermutlich ist dies ein Ausdruck für die Tatsache, dass die Nutzung international geächteter Waffen(systeme) an der deutsch-deutschen Grenze seit jeher durch die DDR-Führung geleugnet wurde.

Nahaufnahme einer Splittermine SM-70 mit Kunststoffgehäuse

Das Ende der Splittermine

Am 5. Oktober 1983 kündigte Erich Honecker in einem Interview mit der österreichischen Presseagentur APA überraschend den Abbau der Selbstschussanlagen an der Grenze zur Bundesrepublik an. Die Mitteilung kam sowohl für die Mitglieder des NVR der DDR als auch für die Öffentlichkeit überraschend. Erst im Juli 1983 hatte der NVR beschlossen, die Anlagen zwar schrittweise bis 1989 abzubauen, aber gleichzeitig in "besonders gefährdeten" Grenzabschnitten neue Anlagen, "in die Tiefe" versetzt, zu errichten. Ein gänzlicher Verzicht auf Splitterminen entsprach also nicht der Beschlusslage. Die Entscheidung über eine zukünftige Sicherung der Staatsgrenze ohne Minensperren wurde von politischen und finanziellen Überlegungen bestimmt und hing von weiteren Forschungsarbeiten zu alternativen Grenzsicherungsanlagen ab. Obwohl der vollständige Abbau grundsätzlich angestrebt wurde, handelte es sich vorerst um ein nicht näher terminiertes und insofern eher vages Szenario.

Dass Honecker den Komplettverzicht auf die SM-70 mit dem, offenbar zumindest in diesem Punkt nicht abgesprochenen, Interview vorwegnahm und forcierte, machte aus Sicht des SED-Staates dennoch gleich in mehrfacher Hinsicht durchaus Sinn: Zum einen hatte die DDR das am 2. Dezember 1983 in Kraft tretende "Protokoll II über Landminen, Sprengfallen und andere Vorrichtungen" der UN-Waffenkonvention unterzeichnet. Durch die Diskrepanz zwischen den Protokollinhalten und dem Einsatz von Minen an der eigenen Grenze war eine kritische Außenwahrnehmung vorprogrammiert. Zum anderen wurde im Sommer 1983 der von Franz Josef Strauß und Alexander Schalck-Golodkowski eingefädelte Milliardenkredit für die DDR unter Dach und Fach gebracht. Bei den Kreditverhandlungen war auch der Abbau der SM-70 als freiwillige Gegenleistung der DDR diskutiert worden. Hinzu kam die hitzige Debatte um den NATO-Doppelbeschluss in der Bundesrepublik und die dabei noch ausstehende Entscheidung des Bundestages zur Stationierung von Atomsprengköpfen. Honecker reagierte mit einem vermeintlichen Entgegenkommen bei der Frage der Minen, um die DDR in ein friedfertigeres Licht zu rücken. Mit dem Minenverzicht stellte er allerdings lediglich etwas in Aussicht, das mittelfristig ohnehin auf der eigenen Agenda erneut aufgetaucht wäre.

Im November 1984 wurden tatsächlich die letzten Splitterminen von der deutsch-deutschen Grenze entfernt. Akribisch überwachte die Stasi den Abbau von SM-70 sowie die dazu eingesetzten Personen im Rahmen der Aktion „Herbst I“. Angaben des Forschungsverbundes SED-Staat zufolge sind 14 Flüchtlinge und ein Grenzsoldat durch die SM-70 getötet worden. 

Der VEB Chemiewerk Kapen wurde nach der Deutschen Einheit 1990 abgewickelt. Heute ist an gleicher Stelle ein Industriepark angesiedelt. In dessen Peripherie befinden sich noch immer Ruinen von Gebäuden und Bunkern, die vom einstigen "Betrieb der speziellen Produktion" zeugen.