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Führerlos ins Unglück

Am 3. Februar 1952 ereignete sich auf der Bahnstrecke zwischen Suhl und Zella-Mehlis ein tragisches Zugunglück mit Toten und Schwerverletzten. Eine Dampflokomotive hatte sich am Bahnhof Oberhof führerlos in Bewegung gesetzt, war rückwärts gerollt und auf einen Personenzug geprallt. Im Stasi-Unterlagen-Archiv lässt sich das Geschehen rekonstruieren, die DDR-Geheimpolizei witterte einen vom Westen beeinflussten Sabotageakt. 

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Der Tag begann für die Besatzung von Lok 44 1570 unspektakulär. Am Morgen bekamen der Lokführer und der Heizer den Auftrag, den Personenzug 283 von Meiningen aus nach Oberhof zu schieben. Da es ab Suhl Richtung Oberhof stetig bergauf geht, war bei schweren Personen- oder Güterzügen oftmals Nachschub nötig. Das Duo kannte die Strecke gut und war regelmäßig im Schubdienst eingesetzt. Die Fahrt verlief bis Zella-Mehlis planmäßig. In der Ruppbergstadt kam es zu einem kurzen Aufenthalt. Viele Züge standen hier, denn in Oberhof fanden vom 27. Januar bis zum 3. Februar 1952 die DDR-Wintersportmeisterschaften statt. Tausende wohnten den Sportevents bei  auch Staatspräsident Wilhelm Pieck, der mit eigenem Sonderzug anreiste.

"Mensch, die Lok läuft"

Der Personenzug lief noch ordnungsgemäß in den Bahnhof Oberhof ein, kam allerdings ruckartig zum Stehen. Als der Heizer die Schublok vom Personenzug abkuppeln wollte, fiel ihm auf, dass sie sich bereits getrennt hatten. Grund war vermutlich das abrupte Abbremsen. Nach kurzer Zeit stieg auch der Lokführer aus und begutachtete zusammen mit dem Heizer die gerissene Kuppelkette und den defekten Luftschlauch. Derweil nahm im Rücken der beiden das Unglück seinen Lauf. "Mensch, die Lok läuft", schrie der Heizer entsetzt auf, als er sah, dass sich der Stahlkoloss schon einige Meter führerlos in Bewegung gesetzt hatte. Er rollte immer weiter und weiter talabwärts.

Als sich der Zug in Oberhof in Bewegung setzte, nahmen Lokführer und Heizer die Verfolgung auf. Bald schon gab der Heizer auf. Er blieb in Oberhof und verständigte dort sofort den Fahrdienstleiter. Dieser wiederum alarmierte den Bahnhof Zella-Mehlis, dass eine führerlose Lok unterwegs sei. Gleich danach wurde von Zella-Mehlis aus die Blockstelle Suhl-Struth unter der Maßgabe kontaktiert, den Personenzug 3160 unverzüglich zu stoppen und umgehend nach Suhl zurückfahren zu lassen.

Der Lokführer rannte dem Stahlkoloss, der bereits aus seinem Blickfeld verschwunden war, hinterher. Er spekulierte, dass es in einer Kurve zur Entgleisung kommen müsste. Auf der Höhe der Mercedes-Büromaschinenfabrik verließ er die Gleise. Er lief die Straße entlang am Bahnhof Zella-Mehlis vorbei, bis kurz vor die Unglücksstelle, die bereits weiträumig abgesperrt war.

Der Unfall

Die 170 Tonnen schwere Lok hatte aufgrund des starken Gefälles Fahrt aufgenommen und war mit knapp 90 Stundenkilometern durch den Bahnhof Zella-Mehlis geschlingert. Bei der Blockstelle Suhl-Struth, etwa auf der Höhe des heutigen Getränkemarktes und der Stadtwerke, war sie auf den aus Suhl kommenden und nach Schmalkalden fahrenden Personenzug 3160 geprallt.

Der Heizer gelangte später mit weiteren Helfern in einem Triebwagen an den Unglücksort. Der Lokführer hatte sich vom Unglücksort entfernt und beschlossen, nach Helba, seinem Wohnort, zu laufen. Er wollte noch einmal seine Ehefrau und Kinder sehen. Kurz vor Helba wurde er von Volkspolizisten verhaftet.

Zwei Menschen waren bei dem Unglück ums Leben gekommen, weitere teils schwer verletzt und in die umliegenden Krankenhäuser gebracht worden. Der betroffene Zug war kaum besetzt gewesen, sonst hätte es womöglich noch mehr Opfer gegeben. Der Zugverkehr zwischen Meiningen und Erfurt war für Stunden lahmgelegt. Die Abreise der Besucherinnen und Besucher der DDR-Wintersportmeisterschaften in Oberhof kam fast vollständig zum Erliegen. Es entstand immenser Sachschaden.

Die Stasi führte die Untersuchungen

Die Stasi-Länderverwaltung Thüringen mit Sitz in Weimar untersuchte das Unglück. Mitarbeiter legten am 5. Februar 1952, zwei Tage nach dem Unglück, einen Untersuchungsvorgang an. Dieser wird heute im Stasi-Unterlagen-Archiv Suhl aufbewahrt und beinhaltet diverse Dokumente, darunter Fotografien vom Unglücksort. Anhand des vierbändigen Untersuchungsvorgangs mit insgesamt mehreren hundert Seiten lässt sich das damals Geschehene rekonstruieren.

Für die DDR-Geheimpolizei stand fest, dass neben menschlichem Versagen oder technischen Mängeln die Unglücksursache vor allem in den ideologischen Einflüssen des Westens zu suchen war. Sie warf den beiden Verhafteten "Diversion" vor. In den Augen der Stasi machte sich die Lokbesatzung "zu Handlangern jener Kräfte, die durch Terror und Sabotage den gesellschaftlichen Aufstieg unserer Deutschen Demokratischen Republik stören wollen". Sie plädierte für ein hartes Urteil.

Am 26. Mai 1952 standen der Lokführer und der Heizer im Rahmen einer öffentlichen Verhandlung in Meiningen vor Gericht. Dieses sah es als erwiesen an, dass der Lokführer - entgegen den Dienstvorschriften - seine Dampflok verlassen sowie die Zusatz- und die Handbremse nicht angezogen hatte. Er musste wegen Transportgefährdung und Zerstörung von Beförderungsmitteln in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung für drei Jahre ins Gefängnis. Dem Heizer konnte kein strafbares Verhalten nachgewiesen werden, er wurde freigesprochen.