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Aktenstapel

Knastware für den Klassenfeind

Im Jahr 2012 geriet der Möbelriese Ikea als Nutznießer von Häftlingsarbeit aus der DDR in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Während das schwedische Unternehmen Anstrengungen zur Aufarbeitung seiner Vergangenheit unternahm, wurde bekannt, dass viele weitere Unternehmen ebenfalls Waren verkauften, an denen Gefangene des SED-Regimes mitgewirkt hatten.

Neben Ikea bezogen auch bundesdeutsche Firmen Möbel aus der DDR, die teilweise politische Gefangene gefertigt hatten. So wurden über einen Zwischenhändler Neckermann, Quelle, Otto, Kaufhof, Horten, Hertie, Karstadt, Möbel Hess und Möbel Steinhoff mit Einrichtungsgegenständen beliefert, an denen teils Häftlinge mitgearbeitet hatten.

Darüber hinaus wurden vielfältige andere Waren in den Westen exportiert, in der Ära Honecker beispielsweise aus der Haftanstalt Cottbus 200.000 Fotoapparate und aus dem Frauengefängnis Hoheneck 100 Millionen Damenstrumpfhosen insgesamt. Letztere wurden dann von Aldi, Karstadt, Hertie, Horten, Kaufhof, Kaufhalle und Woolworth verkauft. Gefangene waren außerdem an der Produktion von Fernsehern, Motorrädern und Farbfilmen (für Neckermann), Küchenherden (für Quelle) sowie Kerzen (für Schlecker) beteiligt. Auch Werkzeugkästen und Schreibmaschinen wurden teils in Gefängnissen gefertigt und dann in den Westen geliefert. Häftlingsarbeiter produzierten ferner zusammen mit "freien" Arbeitern Kupferdraht, Elektromotoren, Mähdrescher, Gußteile, Schuhe, Glasseide, Spindeln, Schaltelemente, Autoscheinwerfer sowie Motorradteile für den Westexport. Für harte Devisen konnte die DDR in den 80er Jahren "Knastwaren" schätzungsweise im Wert von mindestens 200 Millionen DM jährlich absetzen.

Blick auf das Internationale Handelszentrum in Berlin

So wie die Chefetage von Ikea war beispielsweise auch die Konzernleitung von Quelle schon vor 1989 darüber informiert, dass die bezogene Ware teilweise von politischen Gefangenen gefertigt worden war.

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Auch einzelne Käufer müssen Verdacht geschöpft haben als sie in ihrer neuen Bettwäsche Kassiber (geheime Mitteilungen von Gefangenen) aus den Haftanstalten der DDR fanden. Deswegen sollte die Verpackung von "Knastware" auch ohne Häftlinge oder nur unter strengster Überwachung erfolgen.

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Bei Kontrollen konnten einige Nachrichten von Häftlingen sichergestellt werden, so zum Beispiel die in Diakassetten versteckten Mitteilungen zweier Häftlinge aus der Strafvollzugseinrichtung Cottbus.

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Industrie und Handel in der Bundesrepublik schoben angesichts niedriger Produktionskosten in der DDR Bedenken beiseite. Zwar verlangte die Bundesregierung in den 80er Jahren von Ost-Berlin, den Export von Möbeln und Strumpfhosen zu drosseln, doch galt dies mehr dem Schutz der heimischen Wirtschaft als dem der Häftlinge. Wer die Waren produziert hatte, wurde in bilateralen Gesprächen wohl nicht problematisiert – obwohl längst bekannt war, dass auch politische Gefangene an ihrer Herstellung beteiligt waren. Neben der Bundesrepublik erhielten weitere westeuropäische Staaten, aber auch Ägypten und Australien "Knastware" aus der DDR.

Charakteristisch für die Arbeit von politischen Häftlingen in DDR-Gefängnissen war, dass sie zusammen mit Kriminellen arbeiten mussten. Sie hatten zumeist mehr als "freie" Beschäftigte zu leisten, verdienten aber wesentlich weniger als diese. Teilweise brachten veraltete Maschinen sie dabei in Lebensgefahr oder ruinierten ihre Gesundheit.

Auf westliche Devisen zielte auch der kurzzeitige Verkauf von Blutkonserven an das Bayerische Rote Kreuz. Gefangene in Gräfentonna und Waldheim spendeten 1984 angeblich freiwillig Blut, Krankenschwestern erkannten allerdings die Zwangslage der Betroffenen und verweigerten in einem Fall die Blutabnahme. Weder überlieferte Dokumente noch die Aussagen Beteiligter sprechen aber für eine "flächendeckende" Praxis dieser Art (in allen Haftanstalten oder über den Zeitraum 1984-85 hinaus).

Zur Publikation

Publikation

Knastware für den Klassenfeind

Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970-1989)

IKEA, Quelle, ALDI - viele westliche Firmen ließen in der DDR produzieren. 250 ostdeutsche Betriebe beschäftigten neben "freien" Arbeitern aber auch Häftlinge, darunter politische Gefangene.