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Schreiben Gerhard Schürers an Erich Honecker

Die Schuld an den Schulden

Die steigende Verschuldung führte dazu, dass der DDR in den 80er Jahren ein Wirtschafts- und Staatsbankrott drohte. Gerhard Schürer, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission (SPK), forderte im April 1988 einen grundlegenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik der DDR.

Seit Beginn der 70er Jahre galt die "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" als "Markenzeichen des Sozialismus in der DDR" (Günter Mittag). Konkret waren damit umfangreiche sozialpolitische Maßnahmen wie neue Kindergartenplätze, bezahlter Mutterschutzurlaub, Mietsubventionen, höhere Mindestlöhne und Renten, kürzere Arbeitszeiten für berufstätige Mütter und nicht zuletzt ein großangelegtes Wohnungsbauprogramm verbunden. Bezahlt wurde diese als "Hauptaufgabe" bezeichnete Ausrichtung der Wirtschaftspolitik allerdings mit dem rapiden Verschleiß des Produktionspotentials, ökologischem Raubbau, wachsenden Krediten und einer zu niedrigen Akkumulationsrate (Anteil der Investitionen am Nationaleinkommen) vor allem im produktiven Bereich. Infolgedessen stieg die Verschuldung nach innen und nach außen kontinuierlich an, bis in den 80er Jahren ein Wirtschafts- und Staatsbankrott drohte. Dass sich die DDR am Rand der Zahlungsunfähigkeit bewegte, war vor allem auf ihre Verschuldung gegenüber dem westlichen Ausland zurückzuführen.

Der SED-Apparat befasste sich wie in jedem Jahr auch im Frühjahr 1988 mit dem Volkswirtschafts- und Staatshaushaltsplan für das folgende Jahr. Die Staatliche Plankommission (SPK) entwarf dazu eine Vorlage für das Politbüro. Doch etwas war ungewöhnlich: Am 26. April 1988 fügte der SPK-Vorsitzende und Kandidat des Politbüros Gerhard Schürer dem Entwurf ein Schreiben an Honecker persönlich bei, in dem er angesichts von Bilanzierungslücken und steigender Auslandsverschuldung in zweistelliger Milliardenhöhe gegenüber dem "Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet" (NSW) einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik forderte. Die Stasi war über die Arbeiten am Volkswirtschaftsplan 1989 sowie Schürers Forderungen bestens informiert.

Portrait von Günter Mittag

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Portrait Gerhard Schürer

Honecker reichte das Schreiben Schürers zur "Prüfung" an das verantwortliche Politbüro-Mitglied, den Wirtschaftssekretär beim ZK der SED Günter Mittag, weiter. Dessen "Prüfungsergebnis" fiel vernichtend aus.

Die im Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständigen Mitglieder stimmten Mittags Vorlage vorab zu. Danach brachte Honecker sie als Chefsache offiziell ins Politbüro ein. In der Diskussion wischte Mittag das Schürer-Papier mit dem Argument vom Tisch, dass es die Beschlüsse vorausgegangener Parteitage und damit die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik in Frage stelle.

Tatsächlich entsprach die gesamte Wirtschaftslage nicht den "unfehlbaren" Parteibeschlüssen, weshalb Mittag, der Parteiräson konsequent folgend, die Realität ignorierte und die Schuld an dem nichtbilanzierten Planansatz der SPK anlastete. An Honeckers uneingeschränktem Vertrauen in die Entscheidungen Mittags änderte selbst Stasi-Chef Erich Mielke nichts, obwohl dieser zu jeder Zeit über die prekäre Lage der DDR-Wirtschaft informiert war:

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Eine Änderung der Wirtschaftspolitik war aufgrund erstarrter Führungsstrukturen und der strukturell bedingten Reformunfähigkeit nicht möglich. Bereits die Durchführung von Korrekturen wäre einem Eingeständnis von Fehlern gleich gekommen, was wiederum die Wahrheit und Unfehlbarkeit und damit den Machtanspruch der Staats- und Parteiführung erschüttert hätte. So feierten die konservativen SED-Kader im Frühjahr 1988 einen letzten Sieg.