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Ruine der Neuen Synagoge in Ost-Berlin

Neue Synagoge, Aktion "Kristall" und ein großer Plan

Am 10. November 1988 wurde in Ost-Berlin mit viel politischer DDR-Prominenz und ausländischen Ehrengästen die symbolische Grundsteinlegung zum Wiederaufbau der Neuen Synagoge inszeniert. Die Stasi sicherte die Veranstaltung am 50. Jahrestag der Pogromnacht in Ost-Berlin ab.

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Für die Absicherung der Gedenkveranstaltung bildete die Stasi-Hauptabteilung XX/4 – zuständig für die Überwachung der Kirchen und Religionsgemeinschaften – eine temporäre Operative Einsatzgruppe (OEG). Die Aktion erhielt den Decknamen "Kristall", abgeleitet vom verharmlosenden Begriff "Kristallnacht" für das Novemberpogrom 1938. Mitarbeiter anderer Stasi-Diensteinheiten wurden für die Zeit der Aktion "Kristall" zur Hauptabteilung XX abkommandiert. Doch ausgerechnet die Neue Synagoge hatte den Versuch der Zerstörung 1938 fast unversehrt überstanden. Polizeireviervorsteher Wilhelm Krützfeld hatte rechtzeitig eingegriffen. Erst 1943 beschädigte ein Luftangriff das Gebäude schwer.

Ein viel beachteter Festakt

Die Feierlichkeiten zur Grundsteinlegung zum erneuerten Centrum Judaicum waren der Höhepunkt einer Kampagne, mit der die DDR-Führung vor aller Welt den neuen Umgang mit ihren jüdischen Bürgerinnen und Bürgern bekunden wollte.

Am 8. November hatte es eine Sondersitzung der Volkskammer mit zahlreichen Ehrengästen sowie am 9. November Gedenkfeiern und einen Empfang durch Staats- und Parteichef Erich Honecker gegeben. Am 10. November 1988 folgte die feierliche Enthüllung der Gedenktafel durch Dr. Peter Kirchner, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Ost-Berlins.

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Ein langfristiger Plan

Ab Mitte der 80er Jahre widmete die SED-Führung den jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in der DDR zunehmend fürsorgliche Aufmerksamkeit. Grund dafür waren handfeste wirtschaftliche und außenpolitische Interessen. Die DDR wollte jüdische Lobbyisten in den Vereinigten Staaten als Fürsprecher gewinnen, um Vorteile im Außenhandel zu erhalten und die Beziehungen zu den USA zu verbessern. Die neue Akzentuierung veränderte auch die offizielle DDR-Gedenkkultur. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass ab 1985 auch jüdische Widerstandskämpfer und Opfer geehrt wurden. Der 47. Jahrestag der Reichspogromnacht 1985 wurde das zentrale Ereignis zum Gedenken an die Judenverfolgung. Für die stark überalterten und kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR startete ein massives staatliches Förderprogramm. Studentinnen und Studenten setzten jüdische Friedhöfe in Stand.

Doch die neuen Akzente im Umgang mit den Jüdinnen und Juden in der DDR offenbarten auch die bis dato vorherrschende Missachtung ihnen gegenüber. Der bis 1953 offen ausgeübte Antisemitismus, der eine große Fluchtwelle ausgelöst hatte, ging über in eine bis Mitte der 80er Jahre anhaltende israelfeindliche Politik. Antisemitische Äußerungen und Handlungen in der Bevölkerung wurden von der Stasi registriert, aber selten verfolgt.

Stopp des Bauprojekts

Für den jüdischen Friedhof an der Herbert-Baum-Straße in Berlin-Weißensee griff die DDR-Führung direkt in die Ost-Berliner Verkehrsplanung ein. Über das Gelände sollte eine Straße gebaut werden. Im März 1983 notierte die Stasi erste Proteste dagegen, im September 1986 schrieb der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde West-Berlins, Heinz Galinski, in dieser Sache an Erich Honecker. Er bat darum, den Autobahnbau zu stoppen. Die SED-Führung ordnete den Baustopp an, um Galinskis Wohlwollen gegenüber der DDR-Führung zu gewinnen, so beschreibt es der Staatssekretär für Kirchenfragen, Klaus Gysi, in einer Information.

Eine ähnliche Situation, ebenfalls in Weißensee, ergab sich auf einem dem Adass-Jisroel-Friedhof angelagertem Gelände an der Wittlicher Straße. Hier plante ausgerechnet die Stasi ein Gebäude für zwei Kreisdienststellen sowie zwei Wohnblocks für ihre Mitarbeiter. Die bereits begonnenen Bauarbeiten seit Juni 1986 wurden nach massiven Protesten der Adass-Jisroel-Gemeinde aus West-Berlin ebenfalls abgebrochen. Selbst die Stasi hatte nicht ausreichend Hausmacht, um sich gegen den Wunsch der SED-Führung nach Beilegung des Streits mit Adass Jisroel und besseren Beziehungen zu jüdischen Vereinigungen durchzusetzen.

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Fortschritt und Mauerfall

Ein geeigneter Ort, um dauerhaft und öffentlichkeitswirksam jüdische Kultur zu pflegen und zu bewahren, wurde mit der stadtbildprägenden Neuen Synagoge in der Ost-Berliner Oranienburger Straße gefunden. Am 4. Juli 1988 wurde im Gesetzblatt der DDR die Verordnung über die Errichtung einer Stiftung "Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum" veröffentlicht. Im August 1988 konstituierte sich eine zehnköpfige Arbeitsgruppe des Ministerrats unter Bauminister Wolfgang Junker. Mit dabei war Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski vom Ministerium für Außenhandel, ein Stasi-Offizier im besonderen Einsatz (OibE).

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Zeitgleich ließ die Stasi-Hauptabteilung XX/4 eine Bestandsaufnahme vornehmen. Die 15 Stasi-Bezirksverwaltungen erfassten auf dem Gebiet der DDR alle Synagogen, jüdischen Friedhöfe und Gedenkstätten sowie deren Erhaltungszustand. Die vorliegende Übersicht der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Berlin zeigt, wie detailliert sich die Stasi mit den jeweiligen Gebäuden und Orten beschäftigte.

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Die Bemühungen der DDR zum 50. Jahrestag des antijüdischen Pogroms von 1938 erzielten die gewünschte Wirkung. In jüdischen Kreisen in den Vereinigten Staaten wurde das Engagement der DDR wohlwollend zur Kenntnis genommen, wie es die Information eines IM beschreibt. Ein internes Dokument der SED-Kreisleitung des MfS fasst den Stand der Dinge zur Beziehung der DDR zum Judentum im Dezember 1988 zusammen – zur "mündlichen Agitation in der Kreisparteiorganisation".

Die Grundsteinlegung zum Centrum Judaicum blieb der Höhepunkt der Kampagne um Anerkennung der DDR. Der Mauerfall verhinderte weitere strategische Überlegungen der SED-Führung.

Literaturhinweise

  • Knobloch, Heinz: Der beherzte Reviervorsteher, Jaron-Verlag, Berlin 2003.
  • Offenberg, Ulrike: "Seid vorsichtig gegen die Machthaber". Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945 bis 1990, Aufbau-Verlag, Berlin 1998.