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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Willkommen zu einer neuen Folge. Ich bin Dagmar Hovestädt und leite die Abteilung Kommunikation und Wissen im Stasi-Unterlagen-Archiv, das seit Mitte Juni 2021 Teil des Bundesarchivs ist. Mein Co-Host ist Maximilian Schönherr, Radiojournalist und Enthusiast von Archivtönen, was ihn auch zur Gründung des SWR Archivradios geführt hat.
Maximilian Schönherr: Long time ago. Heute beschäftigen wir uns mit einem im Stasi-Unterlagen-Archiv reichlich dokumentierten Thema, nämlich dem Päckchen- und Paketversand zwischen Ost und West und West und Ost. Darüber hat deine Kollegin Konstanze Soch eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben und damit auch promoviert. Wo arbeitet sie eigentlich genau? Ich habe sie für den Podcast hier in deinem Büro in Berlin-Mitte getroffen.
Dagmar Hovestädt: Also, sie ist in der Abteilung Kommunikation und Wissen, in dem Referat beschäftigt, dass sich um Ausstellungen und regionale Schwerpunktstudien kümmert. Sie ist z.B. die Herausgeberin unserer Länderstudie "Stasi in Brandenburg" und arbeitet gerade an "Stasi in Berlin". Ihre Dissertation zu dem Paket-Thema hatte sie tatsächlich schon abgeschlossen, bevor sie zu uns kam. Für diese Arbeit hat sie aber nicht nur im Stasi-Unterlagen-Archiv recherchiert, sondern auch in vielen anderen Archiven, worüber ihr beide in eurem Gespräch gleich ausführlich sprecht, was ganz interessant ist. Wo findet man eigentlich wie Unterlagen in den verschiedenen Archiven?
Maximilian Schönherr: Ja. Ich finde, schon allein die Archive zu finden ist tricky. Konstanze Soch hat deutsche Archive besucht, und zwar eine ganze Menge. Aber ich bin mir sicher, dass ich auch im französischen Nationalarchiv einiges zum Ost-West Päckchenverkehr finden lässt. Als Forschende muss man sich halt beschränken und irgendwann sagen: Schluss, jetzt hab ich genug gesammelt. Sonst wird das Buch statt 200 Seiten 5.000 Seiten dick. Und wenn man dann eine Auswahl an Archiven getroffen hat, gilt es erst einmal herauszufinden, wo man suchen muss, um Dokumente für das eigene Thema in diesen Archiven zu finden. Da gibt es in Archiven passenderweise die sogenannten Findmittel und dann auch die Findbücher, sind zwei leicht verschiedene Sachen. Und du, Dagmar, hast gerade die Definition der Archivschule Marburg auf der Website, und zwar Definition Findbuch offen. Wie lautet die?
Dagmar Hovestädt: Genau. Da steht drin, dass das im 19.Jahrhundert quasi als eine Art Landkarte des Archivs gesehen wurde. Ein Findbuch stellt die Verbindung zwischen den Beständen eines Archivs, also was das Archiv alles an Dokumenten und sonstigen Unterlagen gesammelt hat, und den einzelnen Aktenstücken her. Es stellt nämlich dar, wie ein Bestand aufgebaut ist und damit kann man Rückschlüsse auf den Entstehungszusammenhang und die Strukturen, in denen ein Dokument entstanden ist, ziehen. Das muss ich also erst einmal wissen, um zu sehen wo kann ein Dokument überhaupt liegen, in welcher Struktureinheit. Und auf die Pakete sozusagen runtergebrochen muss man sich überlegen: Wer war in einer Verwaltung, und hier das Ministerium für Staatssicherheit als Verwaltung, eigentlich zuständig dafür? Und dann kann man beginnen, genau dort zu suchen nach Dokumenten, die man braucht. Wir haben im Stasi-Unterlagen-Archiv mittlerweile etliche Hundert Findmittel zu unseren Beständen auch schon online gestellt. Wichtig ist, dass sie einem helfen, etwas im Archiv zu finden. Deswegen heißen die so ganz banal Findmittel. Jedenfalls sind die schon seit einigen Jahren über die Webseite des Bundesarchivs einzusehen. Seit kurzem über die dort sehr neu verwandte oder neuer verwandte Softwareoberfläche Invenio. Wer also im Bundesarchiv recherchiert, kennt das bestimmt schon seit Jahren. Und wir haben das bis vor kurzem in einer auslaufenden Softwareversion, nämlich Argus eingepflegt gehabt. Also fortan in Invenio. Wichtig ist jedenfalls, dass man so versteht, an welcher Stelle im Archiv, also in welchem Bestand, Dokumente zu meinem Thema liegen könnten. Und dann fängt man an zu lesen und findet hoffentlich auch spannende Dokumente.
Maximilian Schönherr: Jetzt kurz die Perspektive der Archivare und Archivarinnen: Wenn die noch nicht dazu kamen, in eine Akte zu schauen oder in eine Ablage von beispielsweise Tonband-Kassetten reinzuhören, ist es keine Nachlässigkeit, sondern es hängt immer damit zusammen, dass man nur eine begrenzte Kapazität hat und man also Prioritäten setzt in der Reihenfolge der sogenannten Erschließung. Also reingucken, aufschreiben was drin ist. Als Nutzer, und ich habe ja in vielen Archiven schon nach Tönen recherchiert, wenn ich also weiß, in welchen Bestand ich reinhören will, um meine Töne zu finden, hab ich recht unterschiedliche Situationen vor Ort. Komme ich zu einem offiziellen Termin ins Bundesarchiv nach Koblenz, dann wird mir beispielsweise ein Karton vorgelegt. Ich ziehe dann weiße Archivhandschuhe an, öffne die Kiste und fange an zu blättern. Und niemand hat es zuvor getan. Im Deutsches Rundfunkarchiv in Potsdam, wo ich oft recherchiert habe, bekomme ich große Tonbandspulen in die Hand gedrückt, lege die erste auf die Bandmaschine, drücke Play und höre gar nichts, weil das Band unbespielt ist. Ich bin der Erste, der in diesen Karton reingehört hat. Dies also als kleiner Kontext für das Gespräch über die Recherche zum Päckchen- und Paketverkehr zwischen DDR und BRD von 1945 bis 1989. DDR-Gründung und BRD-Gründung war ja 1949, aber wir fangen schon ein bisschen früher an, nämlich unmittelbar nach Kriegsende. Es ist ein absolut nicht trockenes Thema, sondern reich an schillernden Anekdoten. Aber es hat nun mal auch einen Überwachungsüberbau, der gar nichts skurril, sondern sehr ernst ist.
Dagmar Hovestädt: Der Versand von Päckchen und Paketen, wie auch von Briefen, unterlag auch in der DDR dem Postgeheimnis. Ohne richterliche Anordnung durfte der Staat nicht einfach in die Post seiner Bürger schauen. Das interessierte aber nur am Rande, weil aus politischen Gründen massive Eingriffe in die Sendung durchgeführt wurden. Und da ging es eben nicht um vermutete Verbrechen oder die Vorbereitung terroristischer Straftaten und nur selten um Spionage - all das hätte man auch richterlich absichern können - sondern es ging um den Austausch von privaten Gedanken und politischen Meinungen, die man überwachen wollte, sowie auch, tatsächlich um viel Geld. Wobei ich immer wieder erstaunt darüber bin, dass das doch auch in der inneren Logik irgendwie rechtmäßig aussehen sollte.
Maximilian Schönherr: Es wundert mich, dass du da erstaunt bist, mich erstaunt diesbezüglich nichts mehr. Die Kreativität dieses Unfugs und dieser Eingriffe in Intimitäten ist einfach DDR immanent, ganz schlimm.
Dagmar Hovestädt: Trotzdem sollte es ja irgendwie so aussehen, als hätte das eine rechtliche Logik und dann wird das irgendwie als Zollvergehen deklariert. Wobei offenkundig ist, dass es darum gar nicht geht.
Maximilian Schönherr: Mein Vater erzählte mir gerade, es gab einmal den Fall, wo ein Päckchen von meiner Mutter in die DDR so ankam, mit einem Begleitbrief vom Zoll. Und in dem Brief stand drin: Da war jetzt eine Orange drin, die war schon so verrottet, dass wir den Rest ihres Pakets nicht weiter beschädigen wollten, wir haben die rausgenommen. Also es war ganz offen, es wussten alle.
Dagmar Hovestädt: Ach so, sehr hilfreich.
Maximilian Schönherr: Jetzt... egal. Nun mein Gespräch mit Konstanze Soch über das Paket- und Päckchen-Gedächtnis, wobei sie sich ganz zu Beginn unseres Gesprächs kurz verhaspelt. Kannst du das gerade mal richtigstellen?
Dagmar Hovestädt: Klar. Das Stasi-Unterlagen-Archiv heißt jetzt nicht Bundesarchiv, sondern immer noch Stasi-Unterlagen-Archiv. Frau Soch arbeitet also im Stasi-Unterlagen-Archiv, nur das Dach ist jetzt ein anderes. Statt beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, also kurz BStU, ist es jetzt im Bundesarchiv untergebracht.
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Konstanze Soch: Ich bin Konstanze Soch. Ich bin Historikerin und Kulturwissenschaftlerin und arbeite im Bundesarchiv, vormals dem Stasi-Unterlagen-Archiv. Ich muss mich da erst dran gewöhnen, aber am Telefon schaffe ich es schon sehr schön, Bundesarchiv zu sagen. Und da sind die Leute verwirrt, weil sie erwarten, dass ich in der BStU arbeite und legen manchmal auf.
Maximilian Schönherr: Wir sprechen heute über Päckchen-Gedächtnis, kann man das so sagen?
Konstanze Soch: Ja, das wär ein Thema und ich finde es auch einen interessanten Begriff: Das Päckchen-Gedächtnis. Zur Zeit der Teilung Deutschlands haben die Leute ja viele Päckchen und Pakete hin- und hergeschickt zwischen Ost- und Westdeutschland. Und das Päckchen-Gedächtnis beschreibt, denke ich, eigentlich sowas am besten, was zum einen in den Päckchen und Paketen drinnen war, das ist so ein Ausgangspunkt für viele. Aber auch natürlich der Geruch, wenn man so ein Paket aufgemacht hat, sowohl in West als auch in Ost. Und das sind so, denke ich, die vordergründigen Erinnerungen am Päckchen-Gedächtnis, aber sobald man sich eigentlich so 5 oder 10 Minuten über dieses Thema unterhält, dann merkt man eigentlich, dass es auf eine ganz persönliche Beziehungsebene geht, dieser Päckchen- und Paketverkehr. Und dieses zum Anfang sehr nett scheinende Thema - nämlich es war ja alles schön und nett und wir haben Päckchen und Pakete bekommen und auch verschickt - bekommt dann schnell eine zweite Dimension, nämlich die persönliche. Und ob man wirklich immer dankbar war und ob man sich immer gefreut hat, das ist tatsächlich bis heute immer noch schwierig dieses Thema und auch in den Familien Konfliktstoff, muss man sagen.
Maximilian Schönherr: Heute noch?
Konstanze Soch: Ja, teilweise heute noch.
Maximilian Schönherr: Das heißt: Du hast mir zu wenig zurückgeschickt. Oder es war nur Mist, was ich bekommen hab.
Konstanze Soch: Du hast mir zu wenig zurückgeschickt. Du warst nicht dankbar genug. Wir haben jetzt mal zusammengerechnet, es waren so und so viel Tausend Mark an Wert und du hättest dankbar sein können. Und warum konntet ihr euch eigentlich, die DDR-Bürger, nach der Wende gleich ein neues Auto kaufen? Ihr wart doch die ganze Zeit so arm. Wie kommt das eigentlich? Diese Fragen werden aber selten gestellt. Wenn sie gestellt werden, ist es eigentlich eine Glückssituation, weil die Leute ins Gespräch kommen. Meistens bespricht man das am Abendbrottisch mit seinem Partner oder mit der Oma, mit der man geschickt hat und die Missverständnisse bleiben bestehen.
Maximilian Schönherr: Das heißt, eigentlich hat dieses Päckchen-System nicht richtig funktioniert?
Konstanze Soch: Jein. Während der Zeit der Teilung hat es sehr gut funktioniert, weil der Kontakt auf alle Fälle aufrechterhalten blieb. Also die Leute haben Päckchen und Pakete geschickt, haben auch Briefe dazugelegt und sind im Austausch geblieben. Wenn das gar nicht gewesen wäre, wäre der Kontakt schneller abgebrochen. Andererseits: Nach der Wiedervereinigung war ja dieser Zweck erfüllt, den es immer gab in dem Slogan: Dein Päckchen, dein Brief hilft die Trennung zu überwinden. Und das hat auch dazu beigetragen, dass die Menschen aufeinander bezogen blieben. Aber danach ist so eine Aufrechnungssituation entstanden und das hat die Leute ein Stück weit entfremdet. Das kommt aber auch auf die Generation an, in welchem Alter man das geschickt hat, sage ich mal so ein bisschen. Und die Leute, die selber den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten und wussten, was es heißt, im Mangel zu sein, bei denen hat der Kontakt nach der Wiedervereinigung am besten geklappt aufrechtzuerhalten, weil sie halt auch persönliche Beziehungen hatten außerhalb der Päckchen und Pakete. Wenn sie aber jünger waren und eigentlich den Onkel Werner gar nicht mehr kannten und dann nur ritualisiert Päckchen geschickt haben, dann ist das meistens mit der Wiedervereinigung eingeschlafen, weil sie hatten keine persönlichen Punkte, an denen sie anknüpfen konnten.
Maximilian Schönherr: Was haben Sie davon erlebt? Persönlich?
Konstanze Soch: Gar nichts. [lacht] Ich bin Jahrgang 1988. Ich kenne das aus den Familienerzählungen, dass es immer hieß: Onkel Werner und Tante Fé, die haben geschickt. Und eigentlich habe ich mich dann irgendwann gefragt: Haben wir auch etwas zurückgeschickt? Weil wenn man was geschickt bekommt, revanchiert man sich ja auch. Und dann wurde das so ein bisschen erzählt und auch die Unzufriedenheit, dass die Westverwandtschaft das ja von der Steuer absetzen konnte. Das heißt, die haben uns ja gar nicht wirklich etwas geschenkt in Anführungsstrichen. Und da hat man schon erste Beziehungspunkte aufscheinen sehen, warum das doch ein sehr interessantes Thema sein könnte.
Maximilian Schönherr: Sprechen wir mal über den Beginn dieser Päckchen- und Paket-Austauscherei. 1945 hat Deutschland den Krieg verloren gehabt, Berlin lag in Schutt und Asche und andere Städte auch, Dresden usw.. Gab's da ein Paketdienst zwischen den Sektoren, wie es ja damals hieß?
Konstanze Soch: Nein, erstmal war die Post total eingestellt, es durften keine Kontakte zwischen den Zonen geben. Das wurde erst nach und nach aufgebaut.
Maximilian Schönherr: Auch nicht zwischen französischer und britischer?
Konstanze Soch: Doch, das gab es, aber ganz zum Anfang, in den ersten Monaten, war es schwierig. Die ganzen Verbindungsstraßen, es lag ja alles brach. Also für ein paar Wochen gab's das gar nicht und wurde dann sukzessive aufgebaut. Und dann war es halt so, dass schnell Päckchen und Pakete ein wichtiges Thema war, für Ost- und auch später Westdeutschland. Und das waren aber diese sogenannten Hilfspakete, die aus Amerika kamen mit dem Marshallplan. Die CARE-Pakete waren das und auch CRALOG-Pakete, die kennt heute keiner mehr so richtig.
Maximilian Schönherr: Ja, wofür steht das?
Konstanze Soch: CRALOG, das war ein kirchlicher Zusammenschluss aus Amerika für alle Kirchendienstleistenden aus Amerika, die hatten sich zusammengeschlossen.
Maximilian Schönherr: Katholisch, protestantisch?
Konstanze Soch: Ja, die hatten sich alle zusammengeschlossen, das war sozusagen eine Dachorganisation. Ähnlich wie CARE auch eine Dachorganisation ist, die es heute noch gibt, aber die hatten es breiter gestreut. Und CARE war mehr für den privaten einfachen Mann, CRALOG war mehr auf der Organisationsebene. CRALOG hat dem Deutschen Roten Kreuz geliefert und die haben dann verteilt. Deshalb ist CRALOG an sich nicht mit den Päckchen und Paketen in Erinnerung geblieben, weil CARE - diese braunen Päckchen und Pakete, CARE steht drauf mit den großen schwarzen Buchstaben - allein, wenn ich das sage, haben das ganz viele Menschen vor Augen.
Maximilian Schönherr: Und das bedeutet: Ich kümmere mich.
Konstanze Soch: Ich kümmere mich. Das wusste schnell jedes Kind, dass „to care“ für sich sorgen stand. Da waren exotische Lebensmittel drin, wie Erdnussbutter, Kaugummi - das kannte man ja alles gar nicht - das waren schnell Pakete, für die man dankbar war.
Maximilian Schönherr: Die kamen tatsächlich aus den USA?
Konstanze Soch: Die kamen tatsächlich aus den USA. Das waren zum Anfang sogar noch sogenannte Ten-in-One Pakete von dem Militär aus Amerika, was die in Übersee hatten als Rationierungspakete für die Soldaten. Die wurden dann aber nicht mehr gebraucht und die ersten waren umgepackte Soldatenpakete.
Maximilian Schönherr: Das heißt, über den amerikanischen Sektor wurden die dann in den sowjetischen Sektor geliefert?
Konstanze Soch: Ja, das wollten sie gerne, teilweise auch. Aber der sowjetische Sektor sah das natürlich nicht gerne, das Lebensmittelspenden aus dem amerikanischen Gebiet oder aus den besetzten Gebieten kam, weil das hätte ja offensichtlich gemacht, dass die Lebensmittelversorgung in dem eigenen sowjetischen Bereich viel, viel schlechter ist. Und deshalb war das sehr, sehr schwierig, die CARE-Pakete hinzubekommen. In Berlin war es ein bisschen leichter, durch die Stadt an sich das über die Grenzen zu bekommen. Aber es war nicht gern gesehen, weil die Päckchen und Pakete nicht nur innerdeutsch, sondern auch diese CARE-Pakete immer ein Politikum waren. Nur wer was hat - so war die Meinung - wer reich ist, der kann auch etwas verschenken. Und gerade im Nachkriegsdeutschland war es natürlich wichtig im Wettkampf der Systeme zu zeigen: Ich kann meine Bevölkerung versorgen, es ist kein Mangel da. Und deshalb waren diese Päckchen und Pakete über die nächsten 60, 70 Jahre hinweg und auch heute noch immer eine Folie für politische Systeme und was dahintersteht.
Maximilian Schönherr: Bleiben wir noch bei 1945 bis 49, bis zur DDR Gründung. Da gab's immer wieder hin und hers. Jetzt dürfen wir wieder Pakete rüber, dann dürfen wir keine rüber. Das war genau die Situation, die Sie gerade beschrieben haben. Man war sich unsicher, man brauchte das und man wollte natürlich auch im sowjetischen Sektor, der wirklich ärmer war, natürlich die Leute bei Laune halten und den Kontakt nicht ganz abreißen lassen. Wann kam das in geregelte Bahnen?
Konstanze Soch: Das kam eigentlich so ab 49, würde ich sagen, tatsächlich mit der Konstituierung der beiden Staaten, in geregelte Bahnen. Also es gab auch schon davor, das darf auch nicht unerwähnt bleiben, ein Gegenspieler der CARE-Pakete sind die Pajoks, die kamen aus dem sowjetisch besetzten Gebiet bzw. aus Richtung Moskau. Das waren aber mehr so Pakete mit Schmalz und Fett, das waren keine Pakete, wo man sich gerne dran erinnert, reine Versorgungspakete.
Maximilian Schönherr: War das eine Reaktion auf die amerikanischen oder war das generisch von da?
Konstanze Soch: Nein, das war generisch von da. Das gab's vorher auch schon. Aber natürlich auch wenn man mitbekommen hat, die machen was, dann wurde es hochgefahren. Also immer dieser Propaganda-Aspekt. Und 49 ging das richtig los, dass gerade im Westen Deutschlands dazu aufgerufen wurde, Päckchen und Pakete zu verschicken um den armen Brüdern und Schwestern - in Anführungsstrichen - im Osten was Gutes zu tun. Interessant ist dabei, gerade für die 50er Jahre, dass pro Kopf mehr Sendungen aus dem Osten in den Westen geschickt wurden als andersrum. Und das ist ganz erstaunlich, weil man eigentlich auch heute in diesem stereotypen Denken immer der Vorstellung anhängt, dass der Westen ja mehr geschickt hat. Allerdings ist es tatsächlich so, dass der Osten mehr geschickt hat, wenn auch kleinere Pakete. Und das hat natürlich die östliche Propaganda massiv ausgenutzt: Seht her, wir können mehr schicken, wir können mehr schenken, wir sind die Reicheren. Und da hat dann die Bundesrepublik dagegengehalten und gesagt: Ja, aber unsere Pakete sind größer, wir dürfen bis zu 500 D-Mark ein Paket bestücken und euer Paket darf nur einen Wert haben von 20 bis 30 Mark.
Maximilian Schönherr: Woher kommen die Zahlen?
Konstanze Soch: Die Zahlen kommen aus dem Bundesarchiv, wo ich damals recherchiert hatte für meine Dissertation.
Maximilian Schönherr: Koblenz oder Berlin?
Konstanze Soch: Aus Koblenz. Genau da liegen ja die bundesdeutschen Akten zum Bundesministerium für gesamtdeutsche Aufgaben oder innerdeutsche Beziehungen, da ändern sich ja immer die Titel.
Maximilian Schönherr: Da die konkrete Frage: Wenn Sie das Bundesarchiv kontaktiert haben damals - noch nicht als Teil des Bundesarchiv - wie ging der Rechercheantrag? Wie leitet man das ein? Suchen: Päckchen, DDR?
Konstanze Soch: Ja, das ist ganz interessant, dass Sie das fragen. Man füllt dort einen Antrag aus und sagt, das ist mein Recherchethema. Geschenksendung oder Jahresendverkehr ist zum Beispiel ein Begriff, wonach man recherchieren kann.
Maximilian Schönherr: CARE-Paket vielleicht noch.
Konstanze Soch: CARE-Paket, genau. CRALOG. Und die Arbeit des Historikers konnte man tatsächlich damals besser vor Ort machen, weil man einen Lerneffekt hat. Wenn man nämlich denkt, man kann Westpaket in das System des Bundesarchivs eingeben, dann werden Sie keine Antwort bekommen. Also es gibt kein Ergebnis, weil Westpaket ist kein Begriff der damaligen Zeit.
Maximilian Schönherr: Ostpaket aber schon?
Konstanze Soch: Ja, aber erst später. Und da müssen Sie schon gucken. Diese Lerneffekte, die ein Historiker im Archiv braucht, das kann man wirklich erst vor Ort machen.
Maximilian Schönherr: Das heißt: Wonach haben Sie dann statt Westpaket gesucht? Oder haben Sie es einfach gesehen? Sie bekommen einen Stapel Papier, denke ich mir, wenn Sie vor Ort sind. Und dann sehen Sie, dass der Begriff Westpaket kommt ja gar nicht vor. Stattdessen kommt "xy" vor.
Konstanze Soch: Genau. Stattdessen kommen halt Päckchen, Pakete, Paketsendungen, Wirtschaftsendungen ist auch ein Begriff, wo man gucken muss, wie tatsächlich die Statistiker der bundesdeutschen Republik das genannt haben und was das Ansinnen dieses ganzen Paketes war. Und dann bekommt man auch nicht nur einen Ausdruck. Es gab auch damals schon eine digitale Datenbank, wo man gucken konnte und dann merkt man - wie, wenn man heute googlen würde - da kommt gar nichts so richtig. Warum eigentlich nicht? Und dann geht man an den Schrank, nimmt das Findbuch, das ausgedruckte, und liest einfach mal das Findbuch. Und dann bekommt man ein Feeling dafür, was eigentlich die Begriffe der damaligen Zeit sind.
Maximilian Schönherr: Woher kommen denn so Dokumente, wo was über ein West-Päckchen, was nach Osten ging oder umgekehrt - wo liegen die aus Bundesarchiv-Perspektive?
Konstanze Soch: Also aus dieser Perspektive ist es das Institut für gesamtdeutsche Aufgaben, das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, diese Namen wechseln auch immer wieder. Das Innenministerium, die Post natürlich. Das sind so die Hauptpunkte eigentlich im Bundesarchiv, aber auch das Sekretariat des Kanzleramtes, wenn die Briefe ganz hoch gingen. Das ist besonders in den 80er Jahren nachher so, als es die sogenannten Polen-Pakete gibt. Während Solidarność, als es den Polen ganz schlecht geht, nimmt nämlich die Bundesrepublik diese Folie der Päckchen und Pakete wieder auf. Das kennen sie ja von der Hilfe in die DDR und sagt: Schickt jetzt aber weiter in den Osten. Und da geht das bis hoch zu den Staatssekretären der Post und da wird viel verhandelt hinter den Kulissen.
Maximilian Schönherr: Und die Ostseite fanden Sie hier im Archiv, denke ich mal, im Stasi-Unterlagen-Archiv?
Konstanze Soch: Ja, nicht nur. Das ist natürlich immer das "Glück" in Anführungsstrichen des Historikers, was natürlich zweischneidig ist, dass man hier tatsächlich die ganzen Kontrollen nachvollziehen kann auf dem Papier. Das heißt, für die Postkontrolle war ja die Abteilung M zuständig der Stasi. Die hat hier kontrolliert, das heißt, die Briefe geöffnet. Nicht nur Päckchen und Pakete wurden ja überwacht. Und da sieht man dann so ein bisschen, wie der Kontrollweg eigentlich war, wo die gesessen haben, was die gemacht haben, auf welcher Grundlage. Es wurde 1954 eine Grundlage für die Kontrolle des Päckchen- und Paketverkehrs erlassen, wie das eigentlich alles vonstattenging. Und dann muss man aber auch sagen, war ich ja auch in sehr vielen anderen Archiven, also im Postarchiv, im Siemensarchiv, weil auch die großen Wirtschaftsunternehmen sich stark engagiert haben. Also Päckchen und Pakete ist tatsächlich ein sehr, sehr breites Feld, wo man als Historiker viele Archive kennenlernen darf.
Maximilian Schönherr: Wo saßen die denn dann und haben die Päckchen kontrolliert und wie? Also ich kenn in Leipzig zum Beispiel die Methode, wie ein Brief geöffnet wurde, sodass es so aussah, als wäre er nicht geöffnet worden. Wie wurde das mit einem Päckchen gemacht? Waren es die gleichen Räume?
Konstanze Soch: Auf dem Papier existiert ja erst einmal auch in der DDR auch das Postgeheimnis. Das wurde natürlich aber ausgehebelt. Und zwar haben sie das ganz "clever" gemacht in Anführungsstrichen, denn die Päckchen als auch die Briefe wurden immer von einem Post-Mitarbeiter geöffnet und dann wurden sie weitergeleitet an die Stasi-Mitarbeiter. Das war die sogenannten Dienststelle 12, die war damit getarnt und war meistens in den Häusern der eigentlichen Post mit eingebaut. Immer eine Etage drunter oder tiefer und dann wurde das weitergeleitet.
Maximilian Schönherr: Wussten das die Einheimischen?
Konstanze Soch: Zum Teil ja, weil die haben auch teilweise mitgeholfen. Ich habe viele Studenten interviewt für meine Dissertation. Die haben als Studentenjob halt mit Päckchen und Pakete kontrolliert, gerade im sogenannten Jahresendverkehr zu Weihnachten. Da haben sich die Studenten oder die Hausfrauen, die sonst keinen festen Job haben, was dazuverdient. Das war natürlich nicht die Masse der Leute, aber die Leute wussten natürlich oder viele haben es geahnt, dass die Päckchen kontrolliert wurden, weil wenn Sie da so ein schönes Geburtstagsgeschenk oder Weihnachtspaket bekommen, Sie kriegen das nie wieder originalverpackt. Allein schon, weil es nicht der original Tesa ist, weil die Klebespuren anders sind, weil der Inhalt anders verpackt ist oder weil im schlimmsten Fall was gefehlt hat oder einfach zerwühlt war.
Maximilian Schönherr: Das heißt, wenn meine Mutter - das ist ein realer Fall, das ging über Jahrzehnte - aus Unterfranken ein Paket bei ihrer Poststelle abgibt an die Tante Trudel bei Elsterwerda. Dann kam das in Elsterwerda bei der Post an und da war vermutlich ein Raum drüber oder drunter, oder vielleicht war auch Dresden der Verteiler.
Konstanze Soch: Oder Leipzig, wo der Verteilerpunkt war.
Maximilian Schönherr: Was hat man dann mit dem Paket gemacht?
Konstanze Soch: Kommt drauf an.
Maximilian Schönherr: Jedes Paket?
Konstanze Soch: Jedes Paket. Also wenn die Tante Trudel sowieso in der Postüberwachung war, weil sie Westfernsehen geguckt hat oder was gegen Honecker oder Ulbricht gesagt hat, dann war sie in der sogenannten Postüberwachung in der M-Kartei drin und alle Pakete wurden rausgezogen.
Maximilian Schönherr: Das war sie übrigens nicht. Ich habe nämlich einen Recherche-Antrag gestellt.
Konstanze Soch: Okay, das ist aber gut. Dann waren es Stichprobenkontrollen. Die gab es natürlich auch, um zu gucken, bei dem einfachen Volk zu gucken, was drin ist, ob nicht vielleicht eine Flucht vorbereitet wird oder Devisenschmuggel, wie es immer so schön hieß, dass da Sachen drin waren. Dann ging es also so weiter: Das Paket kam jetzt an, das wurde von der Post geöffnet - es gab auch gewisse Quoten am Tag, so und so viele mussten geöffnet werden - dann wurde das zu den Stasi-Mitarbeitern gebracht. Die haben das geöffnet und geguckt. Und später gab es auch sogenannte Röntgenkontrollen, da musste man nicht gleich öffnen, das kennen wir vom Flughafen von unserem Gepäck. Dann fuhr das durch die Röntgenkontrolle und dann sah man schon, was da so drin ist: Kaffee, Orangen, Haribos, eine Puppe und ein Matchbox Auto. Und wenn man dann aber merkte: Na, da können wir nicht so richtig reingucken und das Kaffee-Paket, das ist nur ein schwarzer Block. Dann wurde es geöffnet und die pulvrigen Gegenstände, zum Beispiel Kaffee oder Waschmittel, wurden durch einen ganz großen Glastrichter geschüttet. Unten war ein Sieb dran und dann fiel halt auf, wenn in dem Waschmittel noch Tabletten oder ein Ehering geschmuggelt wurde.
Maximilian Schönherr: Und das kam vor?
Konstanze Soch: Das kam natürlich vor. Die Leute wurden sehr kreativ. Eine beliebte und sehr funktionierende Methode war, wie man am besten Tabletten hatte schicken können, wenn die Kinder oder der Partner krank war, ist, in Haribo Frutasia die Tabletten rein zu machen, weil Frutasia - wenn wir uns das heute vorstellen - ist eine sehr wilde Form von Haribos in einer Packung und da fielen Tabletten gar nicht so drin auf.
Maximilian Schönherr: Das heißt, die hat man einfach dazugelegt?
Konstanze Soch: Die hat man einfach dazugelegt.
Maximilian Schönherr: Aber die waren ja immer verschweißt diese Packungen?
Konstanze Soch: Ja. Da musste man auch Glück haben. Und allein, dass ich das erzählen kann, heißt natürlich auch, dass die Stasi das wusste. Ich weiß es von Zeitzeugen, aber auch aus dem Archiv hier bei uns. Ein beliebter Trick war auch bei der Schokolade das Stanniolpapier, so wie es damals genannt wurde, hochzunehmen und dann die Geldscheine drunter zu machen, damit man das nicht erkennt und dann zuzumachen und weiterzuschicken. Das hat funktioniert, aber ich habe auch Bilder gesehen, wo es nicht funktioniert hat. Oder Geldscheine wurden Zigarettenschachteln so gerollt, dass sie die Größe haben von Zigaretten, in Kuchen wurden Uhren eingebacken. Der Kreativität sind da eigentlich keine Grenzen gesetzt gewesen.
Maximilian Schönherr: Sie haben Bilder gesehen. Wo haben Sie die Bilder gesehen?
Konstanze Soch: Bei uns im Archiv. Teilweise haben die Mitarbeiter die Päckchen und Pakete kontrolliert und dann fotografiert als Beweismittel. Was drin ist, was entnommen wurde.
Maximilian Schönherr: Beweismittel für wen? Für ihr eigenes Archiv oder Vorgesetzten?
Konstanze Soch: Ja, für das eigene Archiv und natürlich auch als Beweis, was entnommen wurde, weil es gab eine Zeit lang, wo die Sachen dann zurückgeschickt wurden und eine Zeit lang, wo es aber auch eigentlich vernichtet wurde. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert.
Maximilian Schönherr: Weil einen Teil zurückschicken ja bedeutet: wir kontrollieren.
Konstanze Soch: Ja, genau. Aber wenn man es gemacht hat, trat als Absender natürlich nicht die Stasi auf, sondern der Zoll. Wenn, dann war es ja ein Zollvergehen offiziell und nicht ein Vergehen, was die Stasi moniert hätte. Aber natürlich auch zu Schulungszwecken wurde diesen Päckchen und Pakete fotografiert, um zu zeigen: Guck mal hier, da ist eine Puppe drin und da in dem Kopf ist was versteckt.
Maximilian Schönherr: Das heißt, es gab eine richtige Schulung dafür, wie man so ein Paket - also, wenn ich so ein Paket angucke, schaue ich natürlich völlig naiv drauf - aber wenn ich das tausend Mal gemacht hab und geöffnet habe, dann kriege ich einen Blick dafür. Das heißt, es gab eine richtige Ausbildung dafür?
Konstanze Soch: Ob es eine richtige Ausbildung tatsächlich gab, das weiß ich nicht. Aber es ist natürlich schon learning by doing. Das heißt, wenn da Leute - das ist wie heute auch - und das ist kein Spezifikum der Stasi gewesen, wenn man einen Bereich neu ist, dann wird man eingearbeitet. Und das passiert natürlich in den 70er und 80er Jahren vorrangig auch anhand von Fotos. Es gab ja auch die JHS, also die Hochschule der Stasi, wo ja auch Sachen gelehrt wurden, aber eigentlich auf einem anderen Level. Das war entweder zu Schulungszwecken oder um Sachen zu beweisen später in einem Verfahren.
Maximilian Schönherr: Sie haben mir vorhin im Vorgespräch gesagt, dass Sie immer nach Zahlen gefragt werden. Jetzt haben Sie ein paar rausgesucht.
Konstanze Soch: Also durchschnittlich sind es pro Jahr so 25 Millionen Päckchen und Pakete, die geschickt wurden.
Maximilian Schönherr: 25 Millionen?!
Konstanze Soch: Ja, das ist aber der bereinigte Durchschnitt über die Zeiten sozusagen. Weil man muss schon sagen, dass nach 61, nach dem Mauerbau, viel, viel mehr geschickt wird und nachher in den 80er Jahren viel weniger.
Maximilian Schönherr: In beide Richtungen? Das nimmt beidseitig ab? Das ist immer ein Give-and-take, wenn ich was bekomme, muss ich was zurückschicken.
Konstanze Soch: Auf jeden Fall.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Maximilian Schönherr: Ich habe mich heute Morgen mit einem Freund unterhalten über genau diese Themen und er hat mir gesagt: Ein Marcel Mauss, das ist ein Philosoph, der hat 1923 ein Buch geschrieben, das heißt:
Konstanze Soch: "Die Theorie der Gabe".
Maximilian Schönherr: Genau. Da steckt das eigentlich alles drin?
Konstanze Soch: Da steckt das eigentlich alles drin, ja.
Maximilian Schönherr: Die Harmonie ist nur scheinbar. Eigentlich stellt man dauernd Hierarchien her, die sich dauernd wechseln, je nachdem. Und es wird aufgerechnet. Und seine Mutter, erzählte er, die aus der Gegend von Saarbrücken kommt und keine DDR Verwandtschaft und überhaupt keinen DDR-Bezug hatte, die hat immer diese Päckchen geöffnet und hat gesagt: So ein Scheiß. Wozu brauchen wir das? Also diese Drehteile für Weihnachten mit den Kerzen unten, die heute wahnsinnig viel wert wären, wenn die Kinder sie damals nicht alle kaputt gemacht hätten.
Konstanze Soch: Heutzutage stehen wir "nur" in Anführungsstrichen vor dem Problem: Wir müssen nur auf die richtige Idee kommen, um jemanden eine Freude zu machen. Es gibt theoretisch vieles zu kaufen. Damals war es ja aber für die DDR-Bürger so: Sie standen vor verschiedenen Herausforderungen. Sie wollten was schenken, das gab es aber nicht überall, was sie schenken wollten. Und dann haben sie, die ostdeutschen Bürger, sich bestimmte Strategien zurechtgelegt, wo sie wussten: Damit können wir vielleicht doch eine Freude machen. Das waren, wie Sie gerade sagten, vielleicht der Schwibbogen, vielleicht der Nussknacker - wo man dachte: Mensch, das ist handwerkliche Kunst, die haben wir selber gemacht in mühevoller Kleinarbeit. Ist ja heute auch so: Wenn man Zeit investiert in ein Geschenk, dann hofft man, damit eine große Freude zu machen. Aber wie Sie sagten, wenn das im Westen einfach nicht den Geschmack traf, dieser Schwibbogen oder man schon zehn bekommen hat, aber nur fünf Fenster hatte, dann war die Freude irgendwann nicht da.
Maximilian Schönherr: Man hat sich vielmehr für Transistorradios interessiert in der Zeit und plötzlich kommt was Handgeschnitztes an.
Konstanze Soch: Genau. Das ist wieder die Beziehungsebene. Dann hätte man ja eigentlich sagen können: Ah, so ein Transistorradio, das wäre ja auch schön. Hat man aber nicht, weil man die Folie im Kopf hatte: Die armen Ossis, die schicken uns nur das und wir wollen ihnen ja keine Umstände machen. Die hätten sich aber wahrscheinlich mega gefreut, wenn sie etwas zum Transistorradio gesagt hätten, dann hätten sie eine wirkliche Freude gemacht und für die Freude, die sie mit ihrem Paket bekommen haben aus dem Westen - nämlich das Obst, die Jeans, die ganzen Sachen, die Burda-Zeitschrift für die Mutti mit den Schnittmustern - die wären richtig dankbar gewesen, dass sie ihrer Dankbarkeit Ausdruck verleihen können. Aber das ist, was nicht ausgesprochen wurde.
Maximilian Schönherr: Also ein Transistorradio hätte Tante Trudel nicht nach Westen schicken können zu meiner Mutter, weil es keine gab. Die wurden ja bei Neckermann und Quelle eigentlich alle umgebrandet.
Konstanze Soch: Genau, da hätte man gute Beziehungen haben müssen.
Maximilian Schönherr: Ja, ich bekam aus der DDR zum Beispiel von Tante Trudel tolle Büchersendung. Die waren wahrscheinlich nicht als solche deklariert, weil es war wahrscheinlich egal, wie man die in Westen schickt. Aber meistens hat sie noch was dazu geschrieben. Dann war es eben ein Paket, weil es ja schwer war. Marx Engels Werke zum Beispiel oder Hegels "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" habe ich noch aus diesem Bestand. Weil die wussten nicht und haben mich immer ganz offen gefragt: Was willst du denn haben? Wir haben nicht viel, aber was wir haben, würden wir dir gerne schenken, denn wir haben wahnsinnig viel Ost-Mark. Wir können alles Geld ausgeben. Wir sind Frisöre. Unser Geschäft floriert eigentlich. Und dann lief es eigentlich - und das war bei vielen anderen auch der Fall - auf die Schallplatten und die Bücher und ein paar Dinge wie zum Beispiel Taschenmesser hinaus. Ich habe noch ein Taschenmesser von Tante Trudel. Ich weiß nicht, wo sie es gekauft hat. Und wir waren bei DDR-Besuchen in den Geschäften, in Buchläden, in den Konsumgeschäften und wir haben nicht viel gefunden, was sie uns hätte schicken können. Und transportieren konnten wir es ja nicht bei diesen kurzen Besuchen in den 1970er Jahren. Briefe, Pakete und Päckchen - gab es einen großen Unterschied zwischen Päckchen und Paketen?
Konstanze Soch: Die Bestimmungen, die es zum Inhalt gab, wie viel Kaffee und so, was man reinmachen durfte an Schokolade, das war immer das gleiche, nur das sie halt eine kleinere Größe hatten. Und was ich auch gerade angesprochen habe: Dieser Inhalt, diese zugelassenen Inhaltspunkte, die ändern sich ja während der Zeit der Teilung.
Maximilian Schönherr: Also keine reine Gewichtsgeschichte, sondern auch was drin ist?
Konstanze Soch: Ja.
Maximilian Schönherr: Ich dürfte nicht 5 Kilo Kaffee in den 5 Kilo Paketen verschicken?
Konstanze Soch: 1965 nicht, 1977 schon. Das hängt davon ab, dass diese Reglementierung für die DDR ganz wichtig war, weil sie diese Westpakete, die ja so eine Form von Warenfenster oder dieses Wirtschaftswunder in die DDR gebracht haben - diese bunte Glitzerwelt kam in die DDR - Und das sollte natürlich reglementiert werden, weil man das natürlich nicht wollte. Da sollte man nicht sehen, wie schön das ist. Deshalb wurde reglementiert: Ein Päckchen Kaffee bzw. 500 Gramm oder eine Tafel Schokolade und so weiter. Und teilweise durften auch keine luftdicht verschlossenen Dosen, wie es immer hieß - also in den 60er Jahren durften Sie keine Ananas-Dose schicken, das war verboten. Das verändert sich im Laufe der Zeit: 1961, mit dem Mauerbau wird es wahnsinnig streng, da dürfen Sie sich viel weniger schicken und dann kommt aber 1977 eine sehr große Erleichterung dieser Geschenkpaket-Verordnung. Da dürfen Sie auf einmal 20 Kilo Kaffee schicken und Alkohol und Tee und alles was Sie wollen. Warum? Weil Anfang der 70er Jahre wird auf den Weltmärkten der Kaffee ganz teuer, weil es Missernten gibt in den produzierenden Ländern. Und die DDR ihrerseits mit ihrem Fünfjahresplan die Preissteigerung mit den Devisen gar nicht abdecken kann. Und die entscheiden sich dazu: Na ja, gut, wir können nicht so viel zahlen, dann mischen wir den Kaffee doch. "Erichs Krönung", im Volksmund auch "Erichs Dröhnung" genannt. Da kommen Ersatzstoffe und Surrogate rein. Der schmeckt natürlich den Menschen nicht.
Maximilian Schönherr: Erich Honecker in diesem Fall und nicht Mielke.
Konstanze Soch: Das Volk begehrt massiv auf gegen diesen schlechten Kaffee. Die Archive, sowohl beim Stasi-Unterlagen-Archiv, also auch Bundesarchiv, sind voll mit Beschwerdebriefen. Wie können die dem einfachen Volk noch den Kaffee nehmen? Sie kommen da richtig in Bedrängnis und haben Angst, dass es wieder so zu Szenen kommen könnte, wie im Juni 53, ein Volksaufstand droht.
Maximilian Schönherr: Und jetzt sind wir wo zeitlich?
Konstanze Soch: 1977. Und dann beschließen die: Wo bekommen wir den Kaffee für das Volk her, um das ruhigzustellen? Aus dem Westen. Und auf einmal fallen von dieser Geschenkpaket-Verordnung von 54 jegliche Beschränkungen, was Kaffee, Sekt, Schaumweine und Tee angeht. Sie konnten also jetzt 20 Kilo Kaffee in ein Paket machen, was vorher nicht denkbar war.
Maximilian Schönherr: Aber das heißt auch, wenn man immer bestimmt hat, was da drin sein darf, dass man sich quasi schon vorbehalten hat, da reinzugucken, um das zu überprüfen.
Konstanze Soch: Auf alle Fälle. Es gab ja ein Marktforschungsinstitut in Leipzig, die wussten ganz genau, wie viele Päckchen und Pakete kamen und welcher Inhalt auch war, wieviel Tonnen Kakao, Strumpfhosen, Untertrikotagen, wie es damals hieß, ins Land kommt und wie viel Devisen die DDR dadurch spart. Das war alles ausgerechnet. Die Westpakete waren eine Wirtschaftsgröße im Haushalt der DDR.
Maximilian Schönherr: Und vor 1977: Wenn jetzt zu viel Kaffee drin war... Sie haben vorhin gesagt, teilweise wurde der zurückgeschickt. Das dürfte die Ausnahme sein.
Konstanze Soch: Ja.
Maximilian Schönherr: Wo kam der Kaffee dann hin?
Konstanze Soch: Manche Mitarbeiter sagen, der wurde dann vernichtet. Alles wurde vernichtet, was überzählig war. Es gibt aber genauso, und das ist auch belegt, sogenannte Verkaufsstellen für Stasi-Mitarbeiter oder SED-Mitglieder, wo halt nur die reindurften und das dann verkauft wurde.
Maximilian Schönherr: Wo war dann so ein Shop?
Konstanze Soch: Zum Beispiel in Rostock gab's das, an den Häfen meistens, aber auch hier in Berlin gab's sowas.
Maximilian Schönherr: Da konnte der Normalsterbliche nicht hin?
Konstanze Soch: Nein, um Gottes willen, nicht der Normalsterbliche. Der hätte ja dann noch mehr die bunte Glitzerwelt aus dem Westen gesehen.
Maximilian Schönherr: Also ein Zaun drum rum, stelle ich mir gerade vor, Rostock am Hafen, und da durfte nur der Genosse rein.
Konstanze Soch: Genau. Oder halt die Seeleute, für die war das auch was, damit sie auch auf dem kurzen Weg, wenn sie auf der Welt unterwegs sind, die Güter bekommen, die sie brauchen.
Maximilian Schönherr: Wenn sie die Archive, die sie besucht haben, gewichten, inhaltlich. Was brachte am meisten? Sie haben von Siemens gesprochen, Stasi-Unterlagen-Archiv natürlich, Bundesarchiv, Koblenz und Berlin haben Sie besucht, und das Post- und Kommunikationarchiv haben Sie auch besucht. Das waren doch Ihre Archive?
Konstanze Soch: Am Anfang war ich ja auch in den Landeshauptarchiven in Sachsen-Anhalt unterwegs, auf einer sehr niederen Ebene. Da hat sich das gar nicht niedergeschlagen, da war ich echt überrascht. Auf der technischen Verkehrsebene war es tatsächlich das Bundesarchiv und für die Kontrollen natürlich hier, das Stasi-Unterlagen-Archiv. Aber das war ja immer nur ein Aspekt meines Forschungsprojektes. Eigentlich geht es ja darum, weiter zu gucken auf die Beziehungsebene. Und da war es total aufschlussreich im Museum für Kommunikation, die haben nämlich so eine schöne Sammlung, das heißt "Post von drüben", die haben ganz tolle Schätze, gesammelte Briefkonvolute, wo teilweise auch die Antworten da sind. Da kann man aus der Zeit nachvollziehen, wie die sich bedanken oder bitten oder wie nur im Schlusssatz gesagt wird: "Und danke für Euren Brief!" und: "Mensch, Claudia hat das Kleid zum Abschlussball getragen." Und das waren ganz große Schätze, aber auch die wahnsinnig vielen Zeitzeugeninterviews, die ich geführt habe. Nachdem ich die geführt habe, bin ich nochmal ins Archiv gegangen, mit anderen Anhaltspunkten. Nochmal zu rejustieren, in anderen Bereichen der Archive zu gucken.
Maximilian Schönherr: Es gibt einen Kernsatz für mich in Ihrem Aufsatz, in Ihrer Arbeit, und den lese ich Ihnen mal gerade vor, den lese ich unseren Hörerinnen und Hörern auch vor: "Die besondere Gefährlichkeit von diesen Päckchen und Paketen liegt in der Ausnutzung des Emotionalbereiches, der sich bekanntlich weitgehend der Selbstbeobachtung und Selbstkritik des einzelnen Menschen entzieht." Den Satz haben Sie hier gefunden. Und der ist grandios, weil natürlich die kommunistische Weltanschauung sagt: Die Emotionen müssen wir raushalten. Wir müssen den Arbeiter ordentlich beschäftigen, wir müssen das Einkommen gleich verteilen und die Emotionen müssen draußen bleiben. Die Emotionen kamen aber in die DDR schon sehr frühzeitig über den RIAS zum Beispiel rein. Das ist eine reine Emotionsgeschichte und quasi das, was RIAS "Treffpunkt", diese Sendung, in die DDR rein transportierte und was nicht zu verhindern war, haben die Päckchen auf eine andere Weise gemacht. Das heißt, die Stasi wusste - und das kommt mir fast vor wie Juristische Hochschule so ein Satz, also das war über dem über dem Niveau von einem normalen Stasi-Mitarbeiter - das heißt, die haben sich mit der emotionalen Ebene schon beschäftigt?
Konstanze Soch: Na ja, auf alle Fälle. Das war ja wichtig! Geschenke, das waren ja. Geschenksendungen, keine Handelsware qua Definition. Die lösen ja Emotionen aus. Das ist der ganze Sinn und Zweck dieser dieses Austausches, auch heute noch.
Maximilian Schönherr: Die kann man eigentlich nicht brauchen beim Aufbau von einem sozialistischen Staat.
Konstanze Soch: Genau, die kann man eigentlich nicht brauchen. Und unter diesem Aspekt hat es ja auch die Geschenkpaket-Verordnung immer betrachtet. Wenn wir keinen Kaffee bekommen, dann lassen wir die fallen. Oder wenn wir jetzt 61 merken: Oh, jetzt müssen wir uns aber politisch nochmal abschirmen, dann durften weniger Zeitschriften und Schallplatten geschickt werden. Das ist tatsächlich dieser höchst persönliche Vorgang des Päckchenschickens runtergebrochen auf eine politische und wirtschaftliche Ebene. Und deshalb ist dieses Thema auch so spannend, weil es halt so viele Bereiche durchzieht. Es ist halt nicht nur das Persönliche mit Ihnen und Tante Trudel. Es ist genauso auf der politischen Ebene und es ist auf der Wirtschaftsebene, wenn in der DDR produziert wird, aber es eigentlich im Westen verkauft wird. Da gibt's noch ein paar andere Themen, bei denen das auch so ist. Sport ist auch so ein Thema, was man auf ganz vielen Ebenen betrachten kann. Und diese Westpäckchen und Ostpäckchen, das ist halt auch etwas, was viele Menschen erlebt haben. Beim Sport ist es meistens die Zuschauervariante. Bei den Päckchen sind Sie mittendrin in der Beziehungsgeschichte, die auch heute noch dampft, wie es immer so schön heißt.
Maximilian Schönherr: Haben Sie bei den ganzen Bildern von den Päckchen, die Sie gesehen haben, geöffnete, geschlossene, haben Sie da einen Favoriten?
Konstanze Soch: Also ich habe mich am meisten immer gefreut, also im Nachhinein mit den Menschen gefreut, wenn so gefühlt für alle was dabei war. Wenn ein Matchbox Auto dabei war für die Kinder, die Strumpfhose für die Mama, so ein paar Kochhilfsutensilien. Dann für den Papa die Zigaretten oder einen guten Rum oder noch eine Püppi. Und manchmal gibt's aber auch Pakete, da fragt man sich: Fünf Puppen? Der Kopf liegt bei allen daneben, damit das ins Päckchen reingepasst hat. Oder halt zwei Schwibbögen.
Maximilian Schönherr: Was ist ein Schwibbogen gleich nochmal?
Konstanze Soch: Ja, wie beschreibt man das? Aus Holz, zwei Vorder- und Hinterteile wo Rehe und Kerzen ausgeschnitten sind.
Maximilian Schönherr: Habe ich auch bekommen.
Konstanze Soch: Ja, genau. Und dann mit Kerzen drinnen. Oder neulich habe ich ein Paket gesehen, da waren ganz viele Kamellen-Utensilien drin. Also diese kleinen Bonbons. Riesige Pakete! Da habe ich gedacht: Krass, warum? Das lag im Westpaket, was in den Osten ging.
Maximilian Schönherr: Vom Karneval aus?
Konstanze Soch: Ja, genau. Anscheinend haben die da gesammelt und dann gesagt: Hier, entweder nehmt ihr es für euren Fasching - wie es ja bei uns hieß. [lacht]
Maximilian Schönherr: Nein, das ist anders, ich komme ja aus Köln. Die Kamelle, da gibt's immer viel zu viele und die sind vor allem minderer Qualität. Zum Beispiel bei mir im Bürobereich gibt's immer, weil viele von meinen Mitarbeiterinnen im Büro haben Kinder, und die Kamelle werden halt gesammelt und die kann man nie aufessen. Und die möchte man auch nicht aufessen. Das heißt, die kommen in eine Schale und hängen da monatelang rum, weil die keiner will. [beide lachen]
Konstanze Soch: Und die gingen an den Osten? Ja, das ist clever.
Maximilian Schönherr: Das kann ich mir vorstellen, dass weiß ich aber nicht.
Konstanze Soch: Ja, also ich hatte auch ein ganz interessantes Dokument durch einen lieben Kollegen hier im Stasi-Unterlagen-Archiv zugespielt bekommen. Da war ein Zettel drin in einem Paket und da stand: "Dies ist eine Geschenksendung für einen Kindergeburtstag. Lieber Honni, Ober-Indianer, Finger weg!" Und das zeigt ja natürlich: Die wussten, die Leute, dass es kontrolliert wurde. Übrigens hat sie ja auch nicht nur die Stasi kontrolliert, sondern im Westen der MAD, der BND, die haben genauso kontrolliert. Mit Aussonderungsstellen in Kassel, Hof, Bad Hersfeld, Hannover, Hamburg. Das ist ja, auch wenn man denn immer so diese stereotypen Vorstellungen hat, der Westen, der hat auch kontrolliert. In einem anderen Umfang und mit einer anderen Prämisse, aber das muss man der Gerechtigkeit halber auch sagen.
Maximilian Schönherr: Was war die Prämisse?
Konstanze Soch: Da war es mehr so diese Spionage-Prämisse.
Maximilian Schönherr: Klar, aber wie kommt man dann drauf? Also dann schaut man: Das kommt von dieser Adresse, ist das eine Tarnadresse?
Konstanze Soch: Genau. Und die waren halt besonders interessiert an Büchern. Es gibt so eine Verschlüsselungsart, One-Time-Pad heißt die, und da geben Sie an: Auf der Seite der Buchstabe. Und dann kann man Nachrichten zusammensetzen. Und deshalb haben sie besonders bei den Büchern die Auflage und die Seitenzahl aufgeschrieben, weil sie dachten, sie haben da einen Verschlüsselung-Schlüssel sozusagen mit dem Buch in der Hand.
Maximilian Schönherr: Das ist klassische Geheimdienstarbeit.
Konstanze Soch: Genau, ganz klassische Geheimdienstarbeit. Und das Interessante ist auch: Ich hatte die Chance, mit einem dieser Mitarbeiter, der damals da kontrolliert hat, ein Interview zu führen. Es war sehr, sehr spannend. Da hat er sich bei mir gemeldet und er hat gesagt: Na ja, beim Zupacken... Wir haben uns eigentlich gar nicht so viel Mühe gegeben, weil wir wussten ja, dass die Leute von unseren Kontrollen nicht wussten, das waren immer die ostdeutschen Kollegen, die das Paket so zugerichtet haben. Also wenn Sie Pech hatten, wurde das Paket von Tante Trudel schon einmal in Hannover kontrolliert und nochmal in Dresden. Und als ich schon zwei Jahre mit meiner Promotion beschäftigt war, sagte meine Mama: Guck doch mal in die Schrankwand, Konstanze. Und ich machte auf - ich suchte nach etwas ganz anderem - Da sag ich: Sag mal Mutti, du weißt schon, dass du da ein Westpaket zu stehen hast? - Ja, die kann man so schön stapeln.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war Dr. Konstanze Soch über ihre Arbeit zum Ost-West Paketverkehr. Ihre Studie ist 2018 unter dem Titel "Eine große Freude - Der innerdeutsche Paketverkehr im Kalten Krieg 1945 bis 1989" erschienen. Seit 2017 arbeitet die Historikerin im Stasi-Unterlagen-Archiv.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet immer mit einem akustischen Einblick in den riesigen Audiopool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir gerade besprochen haben.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audioüberlieferung des MfS. Der mediale Klassenkampf, auch als Krieg im Äther bekannt, war ein wichtiges Thema der politischen Bildung. Radiowellen aus dem Westen kannten keine Grenzen und waren zumindest auf Lang-, Mittel- und Kurzwelle überall in der DDR zu empfangen. Sie hatten aus Sicht der Funktionäre vor allem auf Jugendliche einen schädlichen Einfluss. Dem trugen diverse Sendungen, Vorträge und Schulungen Rechnung. Unser heutiges Beispiel entstammt einer Sendung der Politischen Hauptverwaltung der NVA aus dem Jahr 1970, mit dem Titel: "Aggressivität in Noten". Sie erklärt besonders jungen Soldaten die Ziele und Wirkung westlicher Schlagermusik. Es fallen Begriffe wie Beruhigungs-Schlager, Killermusik, Mauer-Titel, Heimat-Titel. Was unter Beruhigungs-Schlagern verstanden wurde, hören wir im folgenden Ausschnitt.
[Archivton]
[Ausschnitt von Dusty Springfields "Warten und hoffen"]
[Radiomoderator:] Ja, warten Sie ruhig und hoffen Sie weiter, aber der Titel geht so zu Ende. Die erwartete Antwort, worauf Sie warten und hoffen sollen, die bekommen Sie nicht. Dieser Schlager gehört zu jenen Titeln, den die westdeutschen Musikkonzerne speziell für die Werktätigen zwischen Hamburg und München produzieren ließen, gewissermaßen als Beruhigungspille gedacht, wenn Preise, Steuern und Profite steigen.
[Ausschnitt von Dusty Springfields "Warten und hoffen"]
[Radiomoderator:] Bei uns spielen wir so etwas nicht, das nur nebenbei. Nicht alle Arbeiter im kapitalistischen Westdeutschland wollen aber nun zeitlebens nur warten und hoffen. Auch an sie ist gedacht, an die, die wissen wollen, ob es für sie denn noch etwas anderes gibt, als nur zu warten und zu hoffen. Hier ist so einer. Hören wir mal rein.
[Ausschnitt von Petras "Mister Rockefeller"]
[Radiomoderator:] Also mein Liebling, wenn du von mir etwas willst, dann denk an das Vorbild Rockefeller. Dieser Multimillionär hat auch ganz klein angefangen. Du musst nur immer recht fleißig für deinen Unternehmer-Boss schaffen, immer tüchtig sparen und, und, und. Eben wie Mr. Rockefeller. Sie lachen vielleicht, Genossen, oder sind entsetzt über den Zynismus, der sich im Text dieses Schlagers widerspiegelt. Doch in solchen und ähnlichen Titeln zeigt sich die Menschenfeindlichkeit des westdeutschen Imperialismus, der nicht bereit und auch unfähig ist, den westdeutschen Werktätigen eine gesicherte Zukunft, hohe Bildung und demokratische Mitbestimmung zu geben. Sie werden nicht nur ausgebeutet, sondern bekommen auch noch den Hohn der herrschenden Großbourgeoisie fast gratis und in Schlagermusik verpackt. Solcherart Machwerke westlicher Prägung widersprechen unserem Leben. Sie widersprechen auch unserem Gefühl der Klassensolidarität mit denen um Recht und Freiheit kämpfenden westdeutschen Werktätigen. Dafür gibt unser Rundfunk nicht eine Sendeminute her. Gar nicht zu reden, Genossen, von der folgenden Kategorie westlicher Schlager. Ich sage nur: Sie sind Urteil über sich selbst.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."