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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Willkommen zu einer neuen Folge. Ich bin Dagmar Hovestädt und leite hier im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv die Abteilung Vermittlung und Forschung. Zusammen mit Maximilian Schönherr, dem Rundfunkjournalist und Archiv-Aficionado, machen wir diesen Podcast.
Maximilian Schönherr: Heute geht es um das Jahr 1959. Sie werden sich vielleicht fragen: Warum ausgerechnet 1959 und nicht '51 oder 1968? Es hängt mit einer Buchreihe zusammen, die sich die Berichterstattung der Stasi zu einzelnen Jahren der DDR vornimmt, dies aber nicht unbedingt chronologisch tut. Zum Beispiel sind die 1960er- und 1980er-Jahre schon mit je sechs Buchveröffentlichungen vertreten, die 1970er-Jahre bislang mit zweien. Jetzt, im Sommer 2022, da wir diesen Podcast veröffentlichen, erscheint der dritte Band zu den 1950er-Jahren – eben das Jahr 1959.
Dagmar Hovestädt: Vor mittlerweile schon fast 15 Jahren haben wir eine Dokumentenart, die von einer spezifischen Diensteinheit des MfS produziert wurde, als eine Edition aufgelegt, also als eine wissenschaftliche Quellen-Edition, was ja in der Geschichtswissenschaft bedeutet, dass archivalische Quellen erschlossen, durchaus auch in unserem Falle kritisch in das Zeitgeschehen eingeordnet werden und damit eben auch einem größeren Kreis von Forscher*innen und anderen Interessent*innen zugänglich gemacht werden.Die Edition heißt "Die DDR im Blick der Stasi", mit dem Untertitel: "Die geheimen Berichte an die SED-Führung". Die Diensteinheit, die diese Berichte produziert hat, hieß Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, abgekürzt ZAIG. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen sich dann jeweils ein Jahr dieser Berichte der ZAIG vor, um zu zeigen, wie das Ministerium für Staatssicherheit der obersten Parteiführung die DDR schilderte. In den ersten Jahren hat man sich dazu entschieden, aus den vier Jahrzehnten ein Jahr rauszunehmen, auch um zu sehen, ob das Projekt für alle Jahre insgesamt trägt, und daher springt es auch zwischen den Jahrzehnten, was es aber eigentlich auch ganz interessant macht: dass man nicht einfach nur Schritt für Schritt in der Zeit vorangeht. Obwohl wir in den kommenden Jahren doch etwas kontinuierlicher an den jeweiligen Jahrzehnten arbeiten und dann schrittweise weitergehen. Maximilian Schönherr: Also, wenn wir im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Sendungen machen, so Ein-Stunden-Features zu speziellen Themen, gilt es fast als No-Go, chronologisch vorzugehen. Ich finde, man legt die Schwerpunkte ja auf bestimmte Jahre, jetzt in dem Fall von dieser Edition. Und ich wollte noch dazusagen: Für Forscherinnen und Forscher gedacht, aber ich, der ich nicht in strengem Sinne ein Forscher bin, konnte es gut lesen. Also, es ist gut lesbare Dokumentation.Die Stasi-Informationsgruppe wurde jedenfalls 1953 nach dem Aufstand des 17. Juni ins Leben gerufen. Der Aufstand hat die damals erst vier Jahre alte DDR kalt erwischt. Damit das nicht noch einmal passierte, wurde zunächst eine IG, eine Informationsgruppe, gegründet, in der die gesammelten Informationen aus den verschiedenen Regionen des Landes, in denen die Stasi überall aktiv war, zusammenliefen und die dann darüber Berichte an den Regierungschef Walter Ulbricht und verschiedene Mitglieder des Politbüros und/oder Zentralkomitees unter strenger Geheimhaltung schickte. Je nach Inhalt hatten die Berichte immer auch unterschiedliche Verteiler. 1957 wurde die IG, die Informationsgruppe, in ZIG, die Zentrale Informationsgruppe, umbenannt und 1965 in ZAIG, die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe. Ich finde übrigens interessant, dass bei ZAIG die Auswertung vor der Information kommt. Aber darüber haben die sich wahrscheinlich keine Gedanken gemacht.
Dagmar Hovestädt: Na, das werden die sich schon irgendwie so überlegt haben. Die Information ist ja das Rohmaterial und die Auswertung und Zuspitzung und Auswahl ist dann eigentlich das, was die Auswertung ausmacht. Aber vielleicht ließ sich das nicht so gut sprechen oder ZIAG wäre vielleicht irgendwie was anderes gewesen. [lacht]Diese ZAIG-Berichte sind jedenfalls weitgehend komplett erhalten. Sie sind in den verschiedenen Jahren auch sehr unterschiedlich in den Umfängen. Da gibt es mal sehr starke, mal nicht so aufregende Jahre. Daraus kann man aber immer noch nicht ableiten, ob es ein besonders spannendes oder für die DDR etwas zurückhaltendes Jahr war. Und sie sind eben der einzige Gegenstand der Edition. Eine Auswahl zentraler Dokumente erscheint dann pro Jahrgang, zunächst in Buchform, und ein Jahr später werden dann alle Dokumente des jeweiligen Jahres transkribiert, online auf der Webseite ddr-im-blick.de präsentiert, sodass dann nach und nach jeder Jahrgang komplett durchsuchbar für alle online zu finden ist. Mit dem Jahr 1959 kommt jetzt eben die Buchversion zu dem Jahr auf den Markt. Die Edition besteht aus einem Vorwort, einem Aufsatz über die zeitgeschichtliche Einordnung des jeweiligen Jahrgangs, gefolgt von dem umfangreichen Teil mit Originaldokumenten der ZAIG - oder in diesem Jahr ja eben noch der ZIG.
Maximilian Schönherr: Und wenn es online ist, sind dann tatsächlich [betont: alle] ZAIG-Dokumente da? Das sind ja unglaublich viele, vor allem in den späten 1950er-Jahren.
Dagmar Hovestädt: Die Jahrgangsbände werden komplett online gestellt. Das ist aber keine faksimilierte Darstellung der Dokumente, sondern die sind alle transkribiert, deswegen auch leicht durchsuchbar. Da gibt es ja viele Fußnoten und Kommentare, die sind dann sozusagen immer unten mit drin, wandern aber weiter, wenn man durch den Text geht. Und das Schöne ist, dass man eben die gesamte Datenbank irgendwann mal mit allen 37 Jahrgängen durchsuchen kann. Das ist jetzt schon mit allem, was wir bislang veröffentlicht haben, möglich und es gibt eine ganz neue Binnenansicht, wenn man eben digital mit geschichtlichen Texten arbeiten kann. Vielleicht noch, um das eben zu qualifizieren: Die Dokumente selber sehen ja in der Anmutung nicht so wirklich aufregend aus. Es sind einfach getippte Berichte, die sehen immer gleich aus. Deswegen ist das in diesem Falle auch wirklich nur relevant, dass man sich eben auf die Inhalte konzentriert. Und die Transkription ist dafür wirklich das Beste.
Maximilian Schönherr: Wenn Sie diesen Podcast verfolgt haben, kennen Sie Roger Engelmann, der den Band [Anmerkung: zum Jahrgang] 1953 bestückt hat. Ich empfehle dazu die Podcast-Folgen 33 und 39. Martin Stief aus unserer Podcast-Folge 64 ist einer der Herausgeber der Edition zum Jahr 1989. Das Jahr 1959, um welches es heute geht, hat die Historikerin Dr. Ann-Kathrin Reichardt bearbeitet. Das Vorwort schrieb Daniela Münkel, die Sie bei uns zum Beispiel in der Podcast-Folge 10 hören können.
Dagmar Hovestädt: Daniela Münkel ist auch von Anfang an die Herausgeberin der Edition. Deswegen schreibt sie jedes Mal ein Vorwort. Eine Abkürzung löse ich vorher auch noch mal auf: "SAPMO" sagt Frau Reichardt, das ist die "Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisation der DDR", die also die Unterlagen der SED und der anderen Massenorganisation wie FDJ, also Freie Deutsche Jugend, oder FDGB, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund, bewahrt. Diese Stiftung ist auch Teil des Bundesarchivs und Stasi-Unterlagen und Partei-Unterlagen ergeben miteinander schon auch ein sehr umfängliches Bild, das es ein bisschen komplettiert. Nun aber Ann-Kathrin Reichardt über das Jahr 1959, wie die Stasi es DDR-intern sah und der SED-Spitze kolportierte, und das so unscheinbare Jahr, in dem die DDR aber ihren zehnten Geburtstag feierte.
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Maximilian Schönherr: Ich zitiere jetzt mal aus ihrem Buch: "Zur mangelhaften Fleischversorgung wurde Folgendes bekannt: Von den im Kreis Hildburghausen, Bezirk Suhl, benötigten achtzehn Tonnen Importschweinen wurden am 17.09.1959 durch den Wirtschaftsrat lediglich zwei Tonnen freigegeben, obwohl das Fleisch seit 14.09. im Kühlhaus lagerte."
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: [zustimmend: Mh-mh.]
Maximilian Schönherr: Aus diesem Kühl-Debakel kam eine Eierknappheit. Die DDR 1959. Das schreibt die Stasi. Ich kenne also viele Stasi-Akten. Das wirkt fast ein bisschen wie so ein Infotext fürs Wirtschaftsministerium, war es aber gar nicht, oder?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Nein, war es durchaus nicht. Ich habe jetzt nicht ganz genau im Kopf, ob diese Information überhaupt an die SED-Leitung gegangen ist, weil ja durchaus nicht alle Berichte, die die Stasi für die SED eigentlich verfasst hat, auch dort gelandet sind. Das entschied man dann nach Kriterien, die wir heute nicht unbedingt in jedem Fall immer nachvollziehen können. Diese Information war eigentlich schon geschrieben, um die SED-Leitung zu informieren, aber auch um selbst den Überblick-- Also, das MfS wollte selbst den Überblick behalten, was passiert war, und es ist durchaus üblich und auch ein Charakteristikum dieser Zentralen Informationsgruppe, die dann später die ZAIG - die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe - wurde, dass sie zur eigenen Information auch wissen wollten: Was läuft schief? Was nicht schieflief, das wusste man. Aber der Charakter dieser Berichte war eigentlich, für sich intern geheim aufzulisten, was nicht läuft.
Maximilian Schönherr: Wir sind also im Jahr 1959. Davon handelt Ihr Buch. Da arbeitete Ernst Wollweber gegen Walter Ulbricht, vielmehr umgekehrt: Walter Ulbricht gegen Wollweber, und dann kam Mielke ins Spiel. Können Sie mal gerade umreißen, wie die Gemengelage damals war? Denn es gab ja Kritik. Ulbricht sagte: Zu viel Kritik wollen wir von dir, Wollweber, nicht lesen, weil das dann in die Bevölkerung geht und es wird verbreitet, es arbeitet sozusagen der westlichen Propaganda in die Hände. Und das war auch einer der Gründe, warum Wollweber dann irgendwie verschwinden musste. Kann man das so sagen?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Im Groben kann man das so sagen, ja. Diese Situation hatte ja direkte Auswirkungen auf die Informationstätigkeit des MfS, gerade 1959. Also, tatsächlich hatte Ulbricht gesagt: Was du da immer so zusammenträgst, das ist nicht nur nicht gut für die Bevölkerung oder vielleicht für die Medien - dort kam es ja meistens gar nicht erst an -, sondern auch für meine eigenen Leute. Also, so klingt es zumindest. Er hatte Angst um die Standfestigkeit seiner eigenen Genossen bei so viel Feindseligkeiten oder westlicher Infiltration, die die da aufschrieben, dass die dann nicht vielleicht doch umkippen würden. Also, insgesamt hat ihm das alles nicht gefallen. Und daraufhin, ja, in diesem ganzen Streit musste Wollweber irgendwann seinen Hut nehmen. Und die Berichtstätigkeit des MfS wurde stark eingeschränkt, also die Inlandsberichtstätigkeit. Es war dann so, dass sogar die Informationsgruppen in den Bezirksverwaltungen zum größten Teil aufgelöst wurden. 1960 wurden sie dann wieder eingesetzt. Und 1959 wurde dann aus dieser Informationsgruppe des MfS die Zentrale Informationsgruppe, insofern auch umstrukturiert und bekam eine ganz neue Bedeutung, weil die Informationsgruppe der HV A, der Hauptverwaltung Aufklärung, mit integriert wurde.
Maximilian Schönherr: Aber es gehört alles zum Ministerium für Staatssicherheit?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Das gehört alles zum Ministerium für Staatssicherheit, ja natürlich.
Maximilian Schönherr: Welche Rolle spielte Mielke 1959? War er schon ganz fest im Sattel?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Mielke war schon recht fest im Sattel. Der war ja von Anfang an recht fest im Sattel. Also, das war der Wunschkandidat und das hat der auch wahrgenommen. Sein Einfluss war ja vorher durchaus auch nicht gering. Man wusste ja, wen man da einsetzte. Ja.
Maximilian Schönherr: Jetzt müssen wir uns dieses Jahr 1959 mal angucken, so aus der weltpolitischen Perspektive. Chruschtschow hat gesagt: Berlin müssen wir in die DDR integrieren und dann machen wir zwei schöne getrennte, freundlich einander gesinnte deutsche Staaten. Darauf ist Washington nicht eingegangen und das nennt man dann die 2. Berlin-Krise.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Sehr verkürzt dargestellt. [lacht] Es war tatsächlich so, dass Chruschtschow und vor allen Dingen aber auch Ulbricht ein großes Interesse daran hatten, die Berlin-Frage zu lösen.
Maximilian Schönherr: Was ist die Berlin-Frage?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Die Frage des Status dieser Stadt: Soll es eine Freie Stadt sein, die Frage der Besetzung sollte aus sowjetischer Sicht geklärt werden. Chruschtschow hatte vorgeschlagen in seinem Berlin-Ultimatum Ende 1958, diese Stadt als Freie Stadt zu deklarieren, das heißt, die westlichen Mächte sollten aus West-Berlin abziehen, Berlin sollte den Status einer entmilitarisierten Stadt-- Man wollte sich darauf einigen oder sollte sich darauf einigen, keine Atomwaffen zu stationieren. Letztendlich wollte Chruschtschow erreichen, dass sich West-Berlin dem Einfluss der Westmächte entzieht und damit leichter in die DDR zu integrieren ist. Und Ulbricht wollte definitiv Gesamt-Berlin als Hauptstadt der DDR irgendwann. Das war sein Fernziel.
Maximilian Schönherr: War das eine richtige weltpolitische Eskalation wie die Kuba-Krise?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Es war schon eine ernsthafte Krise. Also, es war jetzt nichts, was irgendwie dann mit einem Einlenken zu beseitigen gewesen wäre. Vor allen Dingen drohte Moskau damit, die Zugangswege zu West-Berlin zu sperren und von der DDR kontrollieren zu lassen. Das heißt, er drohte West-Berlin letztendlich mit einer möglichen zweiten Blockade. Letztendlich ging Chruschtschow so weit, wie er gehen konnte, kam damit aber dann doch an seine Grenzen, weil die Westmächte über den Status von West-Berlin überhaupt nicht verhandeln wollten. Das wurde auch ganz klargemacht. Chruschtschow war offenbar nicht daran gelegen, einen nuklearen Konflikt wegen dieser Berlin-Frage zu riskieren. Damit spielte man natürlich auch im Westen, also das reizte man natürlich auch aus. Er hatte ja ein klares Datum gesetzt, wann die Westmächte aus Berlin abgezogen sein sollten. Davon ging er dann ab, also er trat so schrittchenweise von seinen Forderungen zurück. So richtig entschärft wurde die Krise dadurch allerdings nicht. Sie schwebte über sämtlichen Verhandlungen dieses Jahres 1959. Es stand dann auch immer wie so ein Damoklesschwert über der Genfer Außenministerkonferenz zum Beispiel. Es war einfach ein ungelöster Konflikt, der letztendlich 1961 dann im Bau der Mauer oder zumindest die Entwicklung da katalysierend wirkte und letztendlich erst durch das Vier-Mächte-Abkommen Anfang der 1970er-Jahre tatsächlich gelöst wurde.
Maximilian Schönherr: 1959 bahnte sich in Westdeutschland schon das, was man später das Wirtschaftswunder nannte, an. Ich kenne zum Beispiel Automobilzeitschriften, wo man das merkt. Man spürt: Jetzt boomt die Autoindustrie im Westen. Im Osten lese ich aber - und da ist die Stasi wieder sehr fleißig gewesen -: "Gefährdung der Produktion im VEB Automobilwerk Eisenach". Das ist auch bei den von Ihnen ausgegrabenen Akten dabei.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: [zustimmend: Mh-mh.]
Maximilian Schönherr: "Wie uns zuverlässig bekannt wurde, ist im VEB Automobilwerk Eisenach zurzeit eine äußerst bedrohliche Lage in der Versorgung mit Zieh- und Tiefziehblechen eingetreten." Die Fahrzeugkarossen konnten also nicht mehr gebaut werden. Kann man sagen, das ist wirklich ein Gegenteil? Die DDR versucht ja immer gleichzuziehen oder den Westen zu überholen. War das "wishful thinking" oder gab es wirklich Anzeichen, dass in der DDR auch so eine Art Wirtschaftswunder funktionieren könnte und das mit dem Automobilwerk und den Eiern und den Schweinen nur so Nebenschauplätze waren?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Nein, das waren ganz gewiss keine Nebenschauplätze. Allerdings war es tatsächlich so, dass 1957 bis Mitte/Ende 1959 die Industrieproduktion wuchs. Das trug dann auch dazu bei, dass die Flüchtlingszahlen etwas geringer wurden. Die zogen dann 1960 wieder an. Diese Lieferschwierigkeiten und der Versorgungsmangel mit Lebensmitteln - das war real, das merkte die Bevölkerung auch. Trotz allem mobilisierte man natürlich durch die beim V. Parteitag beschlossene sogenannte "ökonomische Hauptaufgabe"-- Das hieß, Ulbricht hatte sich tatsächlich vorgenommen, in Anlehnung an die sowjetische Politik, die Bundesrepublik in ihrem Pro-Kopf-Verbrauch an Konsumgütern nicht nur einzuholen, sondern zu [betont: überholen]. Das sollte natürlich mobilisierend wirken. Gleichzeitig wollte man alle Anstrengungen unternehmen, um die materielle Basis zu verbessern, um Lieferschwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, um die Bevölkerung im Land zu halten. Das stand natürlich dahinter. Insofern ist beides nicht ganz falsch. Es gab die Probleme, die waren auch offensichtlich für die Bevölkerung. Es gab gleichzeitig ein Wachstum, das man zumindest ins Feld führte und das auch nicht unbemerkt blieb. So. Also, es gab eine gewisse Konsolidierung, auch innenpolitisch, der SED, aber alles deutete durch diese völlig überzogenen ökonomischen Zielsetzungen letztendlich - retrospektiv betrachtet - auch schon auf die Krise hin, die dann 1960/61 einsetzte.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Maximilian Schönherr: Ich hab immer wieder mal als Journalist und fürs Archivradio im SWR Prozesse in den vor allem frühen 1950er-Jahren ausgegraben aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv und gesendet, also O-Töne, die die Stasi mitgeschnitten hat.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Mh-mh.
Maximilian Schönherr: Ich glaube, von Arne Benary ... Spricht man ihn so aus?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ja.
Maximilian Schönherr: ... gibt es keinen Mitschnitt. Vielleicht doch, ich müsste nur mal suchen. Können Sie über diesen Schauprozess von 1959 was sagen? Wie passt der in den politischen Kontext?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Na ja, es war ja ein Prozess, der relativ spät stattfand. Harich war längst verurteilt, seine Mitstreiter auch.
Maximilian Schönherr: Wer war Harich?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Wolfgang Harich war Philosoph und Philosophie-Professor in Leipzig gewesen und dann Cheflektor im Aufbau-Verlag und war bei Ulbricht in Ungnade gefallen aufgrund seiner reformsozialistischen Ideen, war dann verhaftet worden. Was man ihm vor allen Dingen auch vorwarf: einen Kreis um sich geschart zu haben, einen Kreis Intellektueller, dem unterstellt wurde, letztendlich die Regierung zu untergraben und ihre reformsozialistischen Ideen verwirklichen zu wollen. Dazu gehörte auch der Leiter des Verlages Walter Janka und noch einige andere Intellektuelle. Und Arne Benary hatte Ähnliches "verbrochen", in Anführungsstrichen. Er hatte sich diesen reformsozialistischen Ideen angeschlossen.
Maximilian Schönherr: Ich kann den Titel mal gerade nennen von der Broschüre: " Zur ökonomischen Theorie und Politik in der Übergangsperiode."
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Genau. Benary war Wirtschaftswissenschaftler und träumte von einer funktionierenden Planwirtschaft letztendlich. Also, er wollte die Planwirtschaft nicht abschaffen, sondern er wollte wirklich was draus machen, etwas, was wirtschaftlich dann tatsächlich auch die Kraft hatte, den bundesdeutschen Kapitalismus zu überholen, im wahrsten Sinne des Wortes, ging da aber andere Wege, als die SED im Schilde, im Blick hatte. Der war Mitglied der Akademie der Wissenschaften in der DDR, verlor diesen Posten und musste sich eine Weile im Kabelwerk Oberspree in der Produktion sozusagen bewähren. Was so bedeutsam war oder was ich zumindest so bedeutsam fand oder so bezeichnend fand - das ist vielleicht besser gesagt -: dass Arne Benary ein Weilchen nach allen anderen Reformsozialisten dann wirklich so weit gebracht wurde, dass er, wie wir das aus den stalinistischen Schauprozessen der 1930er-Jahre kennen, wirklich diese Form von Selbstkritik üben musste, die so furchtbar erniedrigend ist. Er hat sich dann tatsächlich hingestellt und gesagt, dass er sich geirrt hat, dass er zurücktritt von seiner Publikation und dass er seine Versetzung ins Kabelwerk Oberspree tatsächlich als Bewährungsprobe ansieht und so weiter und so fort, also unter Druck sich da letztendlich verleugnet hat. Und das ist bezeichnend und das ist auch so schlimm für diese Zeit.
Maximilian Schönherr: Benary hat sich dann selbst umgebracht, also der kam mit der Situation überhaupt nicht zurecht.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ja.
Maximilian Schönherr: Ich hab noch einen anderen Wissenschaftler aus der Zeit, fand ich sehr interessant: einen Professor Dr. Rüdiger, also Nachname Rüdiger. Ich hab seinen Vornamen gerade nicht parat, aber er steht in Ihrem Buch.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ja.
Maximilian Schönherr: Er war Professor an der Bergakademie in Freiberg. Da kenne ich einen anderen Professor, eine halbe Generation vorher: Otto Fleischer. Mit dem hab ich mich intensiv beschäftigt. Otto Fleischer hat man einen Schauprozesse gemacht wegen seiner Verbindung zum Westen, aber Professor Rüdiger hatte ein ganz anderes Problem gehabt. Er hat nämlich festgestellt, dass in seine Wohnung eingebrochen wurde. Und woran stellte er es fest? Dass da zum Beispiel eine Strickjacke herumlag, die definitiv nicht von ihm war. Und seine Nachbarin, die diese Problematik kannte, hat dann irgendwann, als er nicht da war, einen Mann kommen sehen und der Mann sagt zu ihr, weil sie sich beharrlich dagegen wehrt, ihm den Schlüssel zu geben zu der Wohnung, wo inzwischen ein zweites Schloss angebracht war-- "Männliche Person:" - steht jetzt in den Akten, ich zitiere - "Sie sind ja raffinierter als wir." Ich frage Sie gleich, ob das die Stasi ist, dieses "wir". Dann sagt die Frau: "Ach so, Sie sind wohl einer von der Clique!" Ist das die Stasi? Und dann sagt die männliche Person: "Sie werden wohl gut bezahlt, aber wir bezahlen auch nicht schlecht." Es ist ein Anwerbungsversuch. Erst mal zu diesem Zitat: Ist die Stasi gemeint? Von der Frau zumindest?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ich denke, die war im Bilde. Als ich das gelesen hab, dachte ich: Ja, die weiß schon, wo die herkommen. Und Herr Rüdiger wird sich mit ihr auch unterhalten haben. Ich war nicht dabei [lacht leicht], also ich kenne tatsächlich nur das, was in den Akten steht, aber es liegt nah, dass sie weiß, wer das war. Und es liegt auch nah, dass die Stasi dieses - in Anführungsstrichen - "Spiel" mitspielte und sagte: Ja, also wenn Sie-- Offenbar haben sie ihr ja unterstellt, sie würde eventuell für westliche Geheimdienste da an der Stelle sitzen. Zumindest, denke ich mal, haben sie es provozierend gefragt, um eine Reaktion von ihr in diese Richtung zu erzwingen. Dann die Reaktion kann man als Anwerbungsversuch verstehen.
Maximilian Schönherr: Rüdiger hat sich beim MfS gemeldet, hat gesagt: In meine Wohnung wurde eingebrochen. Das fand ich ja schon mal erstaunlich. Da kam man noch nicht auf die Idee, dass es die Stasi selber sein könnte, die da eingebrochen war. Wovon ich eigentlich, wenn ich das lese, ausgehe. Wer sonst?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: [zustimmend: Mh-mh.]
Maximilian Schönherr: Er hat dann später gesagt: Ich glaube, die Stasi steckt dahinter. Das hat er mit seinem Kollegen, auch einem Akademiker, besprochen und sie haben dann so ein paar Tests gemacht. Sie sind in andere Städte gefahren, haben sich dann an einen Tisch gesetzt und plötzlich setzte sich jemand dazu. Dann sind sie in ein anderes Lokal gegangen, da stand am Eingang schon wieder jemand anders. Und da war es eigentlich beiden klar: Das ist die Stasi, das heißt, die Stasi war auch in der Wohnung. Die Stasi hatte ihm auch den Tipp gegeben: Machen Sie doch ein zweites Schloss ran. Also, es ist bizarr, wie es hier offenliegt, wie ein Geheimdienst arbeitet, also wie verlogen. Das ganze Konzept ist einfach fürchterlich.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ja, natürlich. Also, auch dieses Spiel, das die Stasi letztendlich-- Ich glaube nicht, dass sie damit gerechnet haben, dass die Nachbarin jetzt sofort auf diesen Anwerbungsversuch eingeht, weil es ist ja auch eine Form der Einschüchterung. Und dann auch bei Herrn Rüdiger ist es eine Verunsicherung. Letztendlich wissen alle, wer mitspielt, aber es bleibt vage und ein Verunsichern, Zersetzen. Das war die Strategie.
Maximilian Schönherr: Also, ich fand auch interessant eine Sache vom 10. Jahrestag. Da berichtet die Stasi, dass bestimmte Gruppen in der Bevölkerung über die Herabsetzung des Rentenalters diskutieren.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: [zustimmend: Mh-mh.]
Maximilian Schönherr: Die gingen davon aus, dass zehn Jahre nach Gründung der DDR das Rentenalter für Männer auf 63 Jahre - ich schätze, es lag bei 65 - und für Frauen auf 58 Jahre abgesenkt wurde. Wie kamen die dadrauf?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Es kursierten in der Zeit alle möglichen Gerüchte. Ich glaube, da war der Wunsch der Vater des Gedanken. Es kursierte auch das Gerücht, dass eine Amnestie stattfinden würde. Diese leichte wirtschaftliche Erholung - Aufschwung ist zu viel gesagt, aber eine gewisse wirtschaftliche Entspannung - und man wusste auch, dass die DDR-Führung sehr bemüht war, die Leute im Land zu halten. Also, möglicherweise hat man diese Punkte zusammengenommen und gedacht: Jetzt haben wir die zehn Jahre und den Festtag. Ja, und daraufhin entstanden solche Gerüchte. Aber das ist Spekulation.
Maximilian Schönherr: Ich fand's nur interessant, dass dieses Gerücht existiert. Es wurde natürlich dann nicht durchgeführt. Also, das Rentenalter blieb, wo es war.Ich hab ja auch viele Akten gelesen und in dem Vorwort - ich weiß nicht, ob Sie oder Frau Münkel das geschrieben haben - steht der Satz: "In der Frühzeit waren die Berichte viel weniger ideologisch überformt und damit authentischer als in den 1970er-Jahren."
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Das ist in dem Vorwort von Frau Münkel.
Maximilian Schönherr: Ja. Diesen Eindruck hab ich auch. Also, Ihr Buch besteht ja gefühlt zu zwei Dritteln aus den Akten, also Faksimiles und so weiter, und aus einem ausführlichen Teil am Anfang über die Situation 1959. Warum ist es so gewesen? Alles, was wir bisher gehört haben, was ich zitiert habe, auch mit dem Schweinefleisch und den Eiern, das ist ja sicherlich nicht ideologisch überformt. Natürlich stand dazwischen immer wieder: Das ist nicht dem Sozialismus zuträglich, das sind westliche unterwandernde Bemühungen und so weiter. Aber ist das auch Ihr Eindruck, dass es ideologisch stärker wurde in den 1970er-Jahren, vielleicht auch schon in den 60er-Jahren?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ehrlich gesagt, ich kann diesen Eindruck nicht so wirklich teilen. Meiner Meinung nach gab es ein "Sowohl als auch", was die ideologische Überformung anbelangt. Es gab 1959 Berichte, wo man dachte, das war ideologisch überformt, und wo es naheliegt, dass man auch schreibt, was die MfS-Leitung hören will. Also, ich meine, das stand ja auch oft dahinter. Deshalb ist die Stasi ja, gerade was Zahlen und so weiter anbelangt, total unzuverlässig oder mindestens mit Vorsicht zu genießen, da man geschönte Informationen auch in innerhalb des MfS weitergab.
Maximilian Schönherr: Zahlen - damit meinen Sie aber nicht Daten? Also, hier steht zum Beispiel: 03.10.1959 soll an der Staatsgrenze West in Steinbach am Wald eine Versammlung stattfinden, die--
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Nein, Mengenangaben und sowas.
Maximilian Schönherr: Also, man kann den Zahlen nicht so trauen und Sie haben diesen Unterschied, diese ideologische Überformung nicht so stark gemerkt?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Kann ich in dem Sinne nicht so nachvollziehen.
Maximilian Schönherr: Können wir noch drüber sprechen, was sich um 1959 herum getan hat in Sachen, wohin diese Informationen der Stasi kamen? Also, die Kritik an Wollweber war ja, dass es allgemein zu weit verbreitet wird und deshalb die Bevölkerung verunsichert wird. Ich drücke das jetzt mal milde aus. Und unter Mielke sollte es dann anders werden. Also das, was Sie in Ihrem Buch als Dokumente versammelt haben: Wer las die oder wer sollte sie lesen? Vermutlich wurden die nicht gelesen, weil sie zu lang waren. Aber das ist Spekulation. Wohin gingen die?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: [lacht] Ja, das ist Spekulation. Ich denke, der eine oder andere Bericht wurde tatsächlich auch gelesen. Also, die Berichte, die wirtschaftliche Probleme thematisierten, die gingen tatsächlich an die Wirtschaftsfunktionäre. Die verließen das MfS auch tatsächlich. Manche Berichte blieben in den eigenen Mauern. Das sind vor allem die Berichte über Spionage im weitesten Sinne. Also, dieser Spionage-Begriff wurde von der Staatssicherheit ja sehr weit gefasst und schloss alle subversiven Tätigkeiten, die man diversen westlichen Stellen und Organisationen unterstellte, mit ein. Berichte, die darüber informierten, die blieben meistens in den Mauern des MfS, erreichten allenfalls Erich Honecker, den ZK-Sekretär, der für die Sicherheit zuständig war. Und Berichte über Versorgungsschwierigkeiten und so gingen teilweise dann auch tatsächlich nach draußen. Interessanterweise wurde ja in Vorbereitung des 10. Jahrestages der DDR 1959 auch sehr ausführlich und dann in der letzten Woche vor den großen Feierlichkeiten auch wirklich täglich berichtet aus den Bezirken. Die Stasi hatte eine eigene Aktion, also einen eigenen Vorgang dazu angelegt. Aber auch diese Berichte blieben zumeist in den Mauern des MfS und erreichten die Leute, die es vielleicht hätten auch noch lesen müssen, offenbar nicht. Weshalb auch immer. Über diese Gründe kann man nur spekulieren.
Maximilian Schönherr: Und man kann auch nur spekulieren, ob da jemals ein Feedback kam. Also, Honecker bekommt eine Nachricht oder einen Bericht über Versorgungsschwierigkeiten da und da oder über Leute, die Kulturdiskussionen machen, die sich mit dem Sozialismus kritisch beschäftigen, und Honecker meldet dann zurück: Geht mal der Sache näher nach. Haben Sie so etwas gefunden?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: In den Berichten selber nicht. Aber das ist eine interessante Sache und da müssten jetzt weitere Forschungen ansetzen. Ich denke, das müsste man mal in Angriff nehmen und wäre auch eine Fundgrube. Dazu muss man aber dann nicht nur die Stasi-Berichte in die Hand nehmen, sondern auch die Berichte aus dem ZK, und müsste die Verbindungen nachverfolgen, dann auch im Bundesarchiv, in der SAPMO-Abteilung. Also, das ist tatsächlich ein Forschungsdesiderat, was für meine Begriffe unbedingt in Angriff genommen werden sollte, gerade in Verbindung mit dieser Edition. Da gibt es noch viel Spielraum, ja.
Maximilian Schönherr: Haben Sie bei Ihren Forschungen einen Eindruck bekommen, dass die Mauer gebaut werden würde zwei Jahre später? Also, zeichnete sich das 1959 schon ab?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Wenn wir das Ganze aus der Retrospektive betrachten [belustigt], als Historiker*innen oder Journalist*innen oder wer alles an solchen Sachen beteiligt ist. Wir sehen da Anzeichen und wir lesen die Akten natürlich auch mit einem anderen Hintergrund. Wenn ich versuche, diesen Hintergrund mal auszuschalten und tatsächlich "nur" - in Anführungsstrichen - die Berichte der ZAIG bzw. ZIG, wie es damals - 1959 - noch hieß, nehme, dann finde ich da keine Hinweise, dass eine Mauer gebaut werden sollte. Da finde ich Hinweise, dass man die Fluchtbewegung eindämmen will, aber das deutet nicht unbedingt auf den Bau einer Mauer hin.
Maximilian Schönherr: Mh-mh. Hat Ihnen die Arbeit Spaß gemacht?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ja, die hat Spaß gemacht. Die war neu für mich und ich war am Anfang etwas verhalten, weil ich a) nicht ganz genau wusste, was auf mich zukommt, und b) ich dieses Jahr 1959 erst mal als sehr unspektakulär empfand und dachte: Na gut, dann mach ich 1959. Aber ich habe mich dann im Laufe der Zeit sehr reingearbeitet in dieses Jahr und fand das eigentlich immer spannender und immer spannender, gerade so dieses Zwischenstadium zwischen einer Art von Konsolidierung - innenpolitisch, wirtschaftspolitisch -, dann diese außenpolitischen und innerdeutschen Spannungen und die Krise, die sich dann letztendlich schon andeutete, im Nachhinein betrachtet. Also, so dieses Jahr dazwischen fand ich dann immer spannender. Und letztendlich - und darüber berichten die Stasi-Berichte ja gar nichts - geschah ja in den Jahren noch viel mehr. Der 5. Parteitag hatte vorgegeben, den Aufbau des Sozialismus nicht nur voranzubringen, sondern dann auch zu vollenden. Und darauf wurde diese ganze Gesellschaft hinorientiert. Das heißt, die Wirtschaftspolitik stand im Vordergrund, weil man die materielle Situation verbessern wollte, um die Fluchtbewegung nach Westen einzudämmen, aber es passierte ja noch viel mehr. 1959 fand diese programmatische, kulturpolitische Bitterfelder Konferenz statt, in der der Bitterfelder Weg beschlossen wurde, also mit der man versuchte die ganze künstlerische und literarische Szene auf den Realsozialismus einzuschwören. Und das Bildungswesen wurde verändert, 1959. Ende des Jahres wurde die zehnklassige Oberschule eingeführt und mit diesem besonderen Merkmal des polytechnischen Unterrichts, also man orientierte sehr auf eine naturwissenschaftliche, ideologisch überverformte Bildung. Man bezog alle Bereiche ein in diese gesellschaftliche Verwandlung, Umwandlung. Wie gesagt, diese einschneidenden Veränderungen im Bildungsbereich und in der Kulturpolitik das nimmt die Stasi in ihren Berichten in diesem Jahr überhaupt nicht auf, was ja auch ein Hinweis ist, wo die Schwerpunkte lagen, wo die SED die Schwerpunkte legte. Und ja, 1959 spielte der kulturelle Bereich und der Bildungsbereich spielten noch nicht die Rolle, die sie dann später in der späteren DDR, in den 1970er und 1980er Jahren bildete. Und man glaubte, glaube ich noch, dass dieser Bereich relativ einfach einzuhegen ist, was sich dann später als Irrtum herausstellte. Mit Bildung der Hauptabteilung XX dann Ende der 1960er Jahre, kann man dem dann entgegnen. Und dann geriet auch der, vor allen Dingen der künstlerische Bereich, viel mehr unter Kontrolle des MfS. Aber 1959 war es halt noch nicht so weit. Das sind alles so Hinweise, die man dann auch aus dem Nichtvorhandensein von bestimmten Berichten entnehmen kann und die man entsprechend einordnen kann und die dieses Jahr dann auch interessant machen.
Maximilian Schönherr: Sie sind Historikerin. Wo arbeiten Sie im Moment und woran arbeiten Sie?
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ich arbeite jetzt in der Gedenkstätte Lindenstraße, also in der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt des MfS des Bezirkes Potsdam. Ich schreibe dort ein Buch über die Geschichte dieses Gefängnisses. Es deckt die Zeit nur von 1952 bis 1989 ab, also die Zeit in der das MfS dort residiert hat. Dieses Gefängnis in der Lindenstraße ist an sich schon viel, viel älter. Das Gebäude wurde im 18. Jahrhundert gebaut und war dann in der NS Zeit erst Erbgesundheitsgericht und dann ab 1939 wurden dort auch politische Häftlinge inhaftiert. 1945 übernahm es der NKWD und übergab es 1952 an das MfS. Und diese Zeit bis 1989, also die MfS Zeit, untersuche ich jetzt. Und ja, das Ziel ist ein Buch darüber zu schreiben und "A" es gibt es dieses Buch noch nicht und "B" wurde die Situation der Häftlinge entweder quantitativ noch qualitativ bisher entsprechend ausgewertet. Insofern wird dieses Buch auch einiges an Neuigkeiten bringen und es soll nicht nur die, hauptsächlich stehen natürlich die Häftlinge im Vordergrund, aber auch die hauptamtlichen Mitarbeiter und das wurde bisher auch noch nicht behandelt.
Maximilian Schönherr: Damit sage ich vielen Dank für das Gespräch.
Dr. Ann-Kathrin Reichardt: Ja, bitte schön.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war Dr. Ann-Kathrin Reichardt über das Buch Die DDR im Blick der Stasi das Jahr 1959, dessen Bearbeiterin sie ist.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Erich Mielkes Vorstellung von Eigenschaften, die MfS Angehörige als wahre Kämpfer und Tschekisten haben sollen, waren an dieser Stelle schon einmal zu hören. Aber es gibt immer noch eine Steigerung. 1979 stellte er auf der Delegiertenkonferenz der Bezirksverwaltung Gera die nun folgende Forderung auf. Fast vier Stunden sind von dieser Konferenz überliefert. Wir hören zwei Minuten.
[Archivton Anfang]
[Erich Mielke:] Das alles setzt selbstverständlich voraus, dass man auf seinem Arbeitsgebiet auch Fachmann ist. Ohne hohe fachliche Kenntnisse ist die tschekistische Arbeit heute und erst recht in der Zukunft nicht zu meistern. Deshalb gestattet mir, dass ich eingehe auf einige Fragen, die auch im Rechenschaftsbericht eine Rolle spielten. Da heißt es an einigen Stellen von zum Beispiel Überbetonung der eigenen Verantwortung, einseitiger Volksherrschaft. Das alles ganz richtig, Genossen. Aber ich stelle die Forderung als Minister, dass jeder Einzelne ein großes Genie ist als Tschekist. Da brauche ich kein Erfolgsverschreiben, hat er sie nämlich. Also macht hier nicht ein kleines Manöverchen. Alles kollektiv, alles kollektiv. Na ja, dann suchen wir den Schuldigen, finden ihn nicht, weil dit ganze Kollektiv schuldig ist. Es muss sich jeder selbst persönlich entwickeln, Genossen. Und wir stellen die Forderung, dass wir Genies und Talente haben in der Staatssicherheit, die ein Riecher haben, förmlich, wen muss man anwerben, wer ist der Feind und was muss man tun. So steht die Frage, das muss man hinzutun, das ist ganz richtig gesagt vom Standpunkt aus, wie es hier dargelegt wurde, nicht wie er es wollte. Das ist ungenügend für uns, für uns ist ungenügend Genossen der Staatssicherheit. Wir müssen solche findigen Menschen haben, Talente haben, nicht wahr? Übrigens habe ich habe schon oft gesagt, wenn ich es hier nicht schon mal gesagt habe, die dem Feind, nicht wahr, der Bettlaken und dahinter [unverständlich] und der merkts gar nicht beim Schlafen. Ja, das versucht mal. [Lachen im Publikum] Also Genossen nicht nur allgemeine - äh - Losung aufstellen, die ja allgemeingültig und richtig sind. Sollen sich ein bisschen mehr anstrengen. Wir, Genossen, wollen kollektiv arbeiten, aber in dem Kollektiv sollen Talente, kluge Menschen sein, Tschekisten, die verstehen ihr Handwerk.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."