[Jingle]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Willkommen zu einer neuen Folge. Ich bin Dagmar Hovestädt und leite die Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv. Mein Co-Host hier im Podcast ist der Rundfunk-Journalist Maximilian Schönherr.
Maximilian Schönherr: Im April 2022 besuchte ich im Berliner Stadtteil Tempelhof das gleichnamige Museum, denn dort wurde eine Ausstellung eröffnet, die Fotos zeigt, die die Stasi rund um den Flughafen und das Grenzgebiet zu Ost-Berlin aufgenommen hat. Tempelhof gehörte nämlich zum Westen der geteilten Stadt, in dem sich die Stasi auch viel tummelte. Die Ausstellung ist klein. Sie umfasst einen großen Raum. Die meisten Fotos sind schwarz-weiß und leben aus ihrem Kontext.
Dagmar Hovestädt: Das Titelbild zur Ausstellung zeigt im Vordergrund unscharf ein Lenkrad. Durch die Windschutzscheibe hindurch ist die Mauer zu erkennen - also von der Westseite aus - links einige West-Autos geparkt und Schnee. Der Fotograf oder die Fotografin sind unbekannt. Von solchen quasi undercover aufgenommenen Schnappschüssen oder Beobachtungsfotos wimmelt es ja in der Fotosammlung des Stasi-Unterlagen-Archivs. Um die 2 Millionen Fotos sind außerhalb von Akten gefunden worden, etliche mehr sind zusätzlich ja in die Akten eingebunden und jede Aufnahme erzählt eine Geschichte. Hier eben eine von der Teilung Deutschlands mitten durch Berlins Süden.
Maximilian Schönherr: Ich als Nicht-Berliner wusste bei vielen Bildern der Ausstellung nicht: Gucken wir jetzt in den Westen oder in den Osten? Und wo ist denn die Tutzinger-, wo ist Kamberg- und wo ist die Groß-Ziethener Straße? Marienfelde ging gerade noch, liegt südlich von Tempelhof, bin ich schon mal durchgefahren, war ein Stadtteil West-Berlins. Aber ich hatte den Komfort, dass mir bei der Ausstellungseröffnung die Kuratorin Heike Stange und die Museumsleiterin Dr. Irene von Götz zur Seite standen und mich quasi persönlich durch den Raum führten.
Dagmar Hovestädt: Die Fotoausstellung besteht also ausschließlich aus Dokumenten aus unserem Archiv. Das finde ich immer sehr klasse, wenn Unterlagen und ganz besonders Filme oder Fotos, die von der Stasi gemacht wurden, in ganz neue Kontexte gestellt werden. Also Geschichte in dem Sinne sichtbar wird, die für diesen geheimpolizeilichen Zweck aber eigentlich ursprünglich mal festgehalten wurde. Wir hatten das ja 2020 mal in einem Gespräch mit Philipp Springer über seine Untersuchung der gesamten Fotosammlung im Archiv, die er unter dem Titel "Der Blick der Staatssicherheit" gestellt hatte. Das war Folge 18, habe ich vorher nachgeschaut. Und man kann eben auch regionale Geschichten über so einen Forschungsauftrag im Archiv finden. Ich bin nicht ganz sicher, wie viele andere Städte im Westen hier fündig werden würden, wenn sie das auch mal ausprobieren. Das ist auch nicht ganz wenig. Die Stasi hat wirklich viel fotografiert, hat viele Menschen, die im Westen unterwegs waren, gebeten zu fotografieren. Und sie hat tatsächlich extrem viel in West-Berlin fotografiert, weil der Zugang für die Stasi ja auch sehr einfach war, selbst nach dem Mauerbau. Und das beschreibt ihr im Gespräch eigentlich ganz gut, wie die Stasi und was sie alles in Tempelhof fotografiert hat.
Maximilian Schönherr: Also ich schätze mal, je weiter wir nach Westen und vielleicht Südwesten Deutschlands gehen - Tuttlingen zum Beispiel -, wird man wenig finden, aber, sagen wir mal, von Lübeck deutlich mehr. Wissen wir nicht. Müssten wir recherchieren.
Dagmar Hovestädt: Das kann man so nicht sagen, weil Gelegenheit schafft Fotografiegelegenheit. Also, die Stasi hat ja sehr viele Menschen, die als Reisekader oder auch für Verwandtschaftsbesuche in den Westen durften, mit solchen Fotoaufträgen durchaus sozusagen ausgestattet. Man ist da ganz überrascht, was es da gibt. Wir haben ja so Kanalfotos von Wolfsburg da, weil jemand auf dem Handelskarren war und hat da sozusagen immer munter fotografiert entlang des Volkswagen-Werks und so, da sind dann auch kleine Dörfer mit dabei. Dann ist jemand mit der Bahn gefahren und war irgendwie in Aachen. Also, es ist nicht systematisch ausgewertet, das ist auch einfach sehr viel. Das sind manchmal auch nur Sachen in den 50er- oder 60er-Jahren und die Qualität ist nie so richtig gut und manchmal ist es nur ein Foto, aber man weiß es ja letztendlich nicht. Aber West-Berlin, das weiß man, oder - würde ich jetzt schon sagen - auch durch die vielen Anträge, die über die Jahrzehnte dann gekommen sind, da ist auch relativ viel an Fotografie zu finden.
Maximilian Schönherr: Liebe Forscherinnen und Forscher, erforschen Sie das doch mal! Würde mich interessieren: Tuttlingen, Aachen, Wolfsburg in Fotografien der Stasi. Wenn Sie diesen Podcast im Frühjahr/Sommer 2022 hören, besuchen Sie doch die kleine Ausstellung oder bestellen Sie den Katalog. Das Tempelhof Museum ist fünf Minuten zu Fuß vom U-Bahnhof Alt-Mariendorf zu erreichen. Es liegt etwa drei Kilometer südlich vom Tempelhofer Flugplatz.
Dagmar Hovestädt: Der aber heute ja keiner mehr ist. Der ist schon länger stillgelegt. Aber während der vier Jahrzehnte der Teilung der Stadt war das eine sehr zentrale Möglichkeit, über die drei Luftkorridore gen Westen zu fliegen oder eben nach West-Berlin zu fliegen. Und der Flughafen war eben im amerikanischen Sektor, also das war der Flughafen der Amerikaner, und Tempelhof war auch ein Militärstandort der Amis. Von dort gibt es auch ein paar Spionagegeschichten zu erzählen, die ganz interessant sind, aber davon ist natürlich nicht so sehr viel auf Fotos gebannt und festgehalten worden. Der Flughafen ist übrigens schon 1923 als einer der ersten Verkehrsflughäfen in Deutschland eröffnet worden und dann in den 1930er Jahren von den Nazis komplett neu gebaut. Und das sieht man diesem doch recht martialischen Gebäudekomplex sehr deutlich an.
Maximilian Schönherr: Ich bin mindestens zweimal dort gelandet, aus München kommend. Du auch?
Dagmar Hovestädt: Mehrfach. Ich weiß es gar nicht. Ich glaube, ich bin irgendwann mal - frag mich nicht mehr warum - nach Saarbrücken mal von da aus geflogen und zurück, vielleicht nach Paris oder so. Pan Am ist damals dahingeflogen. Mich hat das immer an irgendwelche Filme aus den 50er-Jahren erinnert, nicht zuletzt an Billy Wilder, weil der Flughafen ja durchaus häufiger mal Kulisse war. Was weiß ich, wenn John F. Kennedy in die Stadt kam, ist er natürlich in Tempelhof gelandet. Und da gibt es natürlich auch sehr, sag ich mal, weltberühmte Fotos von diesen Szenen.
Maximilian Schönherr: Es war enorm praktisch, mitten in der Stadt zu landen, und weil ich Verwandte habe ganz in der Nähe von Tempelhof, ist es wunderbar ruhig jetzt. Also ich kenne beide Seiten ganz gut. Heute ist der Flugplatz, also wirklich der Landeplatz der Flugzeuge, ein riesiger öffentlicher Park, das Tempelhofer Feld, auf dem die Berlinerinnen und Berliner spazieren, inlineskaten, Rad fahren, grillen. Ich habe da auch mal meine Drohne steigen lassen, als es noch erlaubt war, um meine Tochter beim Fahrradfahren zu filmen. Da habe ich geübt, wie die Drohne Tracking macht. Aber das führt jetzt wirklich wo ganz anders hin.
Dagmar Hovestädt: Ich war jedenfalls - um wieder zurückzukommen zu unserem eigentlichen Thema - doch sehr überrascht, dass es noch so viele Fotos gibt, die doch auch eigentlich sehr interessante Einsichten bieten über einen West-Berliner Stadtteil in der Zeit vor der Mauer, zwischen den 50er- und 80er-Jahren. Ich muss bei Tempelhof und Stasi übrigens immer auch an Jürgen Fuchs denken, den DDR-Dissidenten, der 1976 nach Haft aus der DDR weggegangen wurde und dann in West-Berlin in die Nähe des Flughafens und dieses Flugfeldes zog und dort wohnte. Die Stasi hat ihn auch dort weiterhin beobachtet, weil er ja auch als "Feind des Staates im Ausland" in West-Berlin dann galt, und - soweit ich das in Erinnerung habe - sehr wahrscheinlich auch ein Anschlag auf sein Auto da verübt. Da gibt es jedenfalls Akten dazu, die das nahelegen. Und dann gab es in Tempelhof am Flughafen ein Hotel, das die Stasi betrieb in den 1970er-Jahren mit einigen IM, die doch sehr halbweltmäßig waren. Aber auch das ist für die Ausstellung vielleicht ein bisschen zu wenig gut fotografisch dokumentiert worden. Jedenfalls jetzt zu deinem Gespräch mit Heike Stange, die beginnt, und Irene von Götz und zum Katalog der Ausstellung, den ihr alle vorliegen habt, um die Fotos gut zu beschreiben, während ihr darüber redet.
[Jingle]
Heike Stange: Meine Aufgabe war, eine Fotoausstellung über Stasi-Fotografie in Tempelhof zu machen, also ein topografischer Zugang. Und meine Aufgabe war eben, nach Fotos zu suchen, die Tempelhof spiegeln. Und da war ich darauf angewiesen auf die Kooperation mit einem Kollegen aus dem Bundesarchiv, der mir die Fotos dafür raussuchte und die Fotos dann quasi zu Narrativen zu bündeln, um die dann in einer Ausstellung präsentieren zu können.
Maximilian Schönherr: Und Frau von Götz, was ist Ihre Funktion mit dieser Ausstellung?
Dr. Irene von Götz: Ja, ich bin als Leiterin der Museen Tempelhof-Schöneberg für das Tempelhof Museum zuständig, wo die Ausstellung gezeigt wird. Und meine Rolle war eigentlich mehr die der Ideengeberin und die der Begleitung von Frau Stange bei Fragen, Hinweisen, Absprachen und so weiter.
Maximilian Schönherr: Wir haben uns am Tag der Eröffnung der Ausstellung dort getroffen. Eher zufällig, also wir kannten uns vorher nicht, und ich war erstaunt über diesen dicht mit Fotos gefüllten Raum. Und eines der mir schon da auffallenden - und jetzt im Katalog sehe ich das wieder - Fotos ist auf Seite 84/85 im Katalog. Können Sie es gerade mal aufschlagen? Da sehen wir einen Ford Transit von innen. Das weiß ich deswegen, weil ein Bild vorher ist der Ford Transit zu sehen mit abgedunkelten Hinterscheiben. Können Sie was zu dem Bild sagen? Woher kommt es und was hat es für einen Sinn?
Heike Stange: Ja, also, das ist ein Foto aus einer Akte gewesen und in dieser Akte ging es darum oder bei diesem Vorgang ging es darum, dass gezeigt werden sollte, wie ein Bus, der vom West-Berliner Zoll ausprobiert wurde einzusetzen an der Grenze, zu dokumentieren, wie der eingesetzt werden sollte. Deshalb gibt es da ein Schreiben dazu mit drei fotografischen Aufnahmen und eins davon ist eben diese Innenaufnahme, die ja sehr nah an dem Bus dran ist. Wer das Foto jetzt genau gemacht hat, das weiß man nicht. Aber es ist auf jeden Fall jemand gewesen, der sehr nah an die Leute herankam, die den Bus ausprobiert haben und getestet haben, und der auch mit ihnen sprechen konnte und herausbekommen konnte, wie viele Leute da eingesetzt werden sollten, wie viele Zöllner den bespielen sollten, wie die technischen Voraussetzungen waren und was damit ausprobiert werden sollte.
Maximilian Schönherr: Das heißt, es hat ein IM zum Beispiel, eventuell, wir wissen es nicht genau, aufgenommen.
Heike Stange: Ja, ja.
Maximilian Schönherr: Und deswegen sind auch die Gesichter verpixelt, weil es sind West-Beamte vermutlich?
Heike Stange: Nicht vermutlich, ganz sicher. Es geht einfach darum, dass noch bevor diese Busse eingesetzt wurden, also diese Kleinbusse, wurde ausprobiert, inwieweit die funktionieren. Und das ist eine Testfahrt gewesen an der Grenze, also auf West-Berliner Seite, und man hat das ganz genau beobachtet, wie das versucht wurde.
Maximilian Schönherr: In der Ausstellung, Frau von Götz, weiß ich als Kölner nur in den seltensten Fällen, wo jetzt das Objekt, was wir sehen in den Bildern, genau ist. Ist es Osten? Ist es Westen? Und das ist ja entscheidend eigentlich für diese Ausstellung. Ist es eine Ausstellung primär für die Locals?
Dr. Irene von Götz: Ja, mehrheitlich, würde ich sagen. Wir machen ja in unseren bezirklichen Museen vor allem Ausstellungen für die Menschen aus den Kiezen und Stadtteilen, die wir für die Geschichte, für die Bezirks- und Ortsgeschichte interessieren wollen. Aber bei dem Thema haben wir gedacht, das ist eigentlich schon ein stadtgeschichtliches, berlinweites Thema mit Tempelhofer Feld, Grenzanlagen, sodass wir hier auch Menschen aus ganz Berlin interessieren könnten. Frau Stange und ich, wir hatten vorhin schon kurzes Vorgespräch vor dem Treffen, und da hat sie das auch noch mal bestätigt, dass zu Ausstellungsführungen oder auch Führungen entlang der ehemaligen Mauer, die wir anbieten, viele Menschen kommen, die sich vor allem auch für die Geschichte des Tempelhofer Feldes und dann des Tempelhofer Flughafens und der damaligen Zeit interessieren. Und das ist ja auch ein Schwerpunkt unserer Ausstellung: der Flughafen Tempelhof.
Maximilian Schönherr: Weil der Flughafen den Stadtteil auch prägt, und zwar schon lange vor der DDR-Zeit.
Dr. Irene von Götz: Ja, das stimmt, schon weit davor. Auch noch vor Flughafen-Zeit war das ein sehr prägender Ort, dieses Tempelhofer Feld, für die Stadt.
Maximilian Schönherr: Was war das DDR-Interesse an dem Flughafen Tempelhof?
Heike Stange: Ja, das DDR-Interesse war sicherlich, dass das unter Leitung des US-amerikanischen Militärs stand und man da natürlich wissen wollte, was da abgeht und abläuft, und da deshalb eben auch IMs drauf angesetzt hat, um das genau zu protokollieren und zu fotografieren. Am Flughafen Tempelhof war gleichzeitig auch noch der Zoll und die Polizei stationiert. Also, das war einfach ein ganz zentraler Ort, den es galt zu beobachten.
Dr. Irene von Götz: Ja, und - wenn ich noch ergänzen kann vielleicht? -
Heike Stange: Gerne.
Dr. Irene von Götz: -ist der Flughafen ja auch für viele BerlinerInnen, die nicht durch die DDR reisen wollten, wie eine Art Tor zur Freiheit oder Tor in den Westen gewesen. Es gab ja auch sehr viele Personen, ehemalige DDR-BürgerInnen, die dann in West-Berlin lebten, die aber nicht durch die DDR reisen wollten. Und die sind dann häufig natürlich über die Berliner Flughäfen nach Westdeutschland oder in andere Länder gereist.
Maximilian Schönherr: Zum Beispiel Menschen, die den Transit nicht riskieren wollten aus irgendwelchen Gründen, sind halt geflogen und sind dann in Tempelhof gelandet und nicht in Tegel.
Dr. Irene von Götz: Auch in Tegel. Das hing, glaube ich, einfach von den Flugverbindungen ab, je nachdem, was für einen Flugplan es gab, Tegel oder Tempelhof.
Maximilian Schönherr: Können wir was über die Geometrie von Ihrer Ausstellung sagen? Also die Tempelhof-Fotos, ich habe es jetzt nicht mehr genau in Erinnerung, sind die auf einer Wand zusammengefasst? Also vom Flugfeld? Es gibt ja eine ganze Reihe von Aufnahmen vom Flugfeld, vom "Tag der offenen Tür" und so weiter. Sind die an einer Wand zu sehen oder wie haben Sie das kuratiert?
Heike Stange: Also, die Ausstellung hat zwei Schwerpunkte. Der eine Schwerpunkt ist der Flughafen Tempelhof und das Umfeld und das andere ist der Grenzverlauf, der südliche Grenzverlauf. Und wenn man in die Ausstellung reinkommt, ist die Stirnwand die Einleitung und die ist geteilt: links Flughafen Tempelhof und rechts der südliche Grenzverlauf. Das zieht sich dann auch an den Längswänden entsprechend entlang. Die zweite Wand, die gegenüber der Stirnwand liegt, ist auch noch mal Flughafen Tempelhof.
Maximilian Schönherr: Und die Besucher, also Berliner Besucher, die kriegen dann so Aha-Erlebnisse: Stimmt, da war die Kläranlage, das war der Übergang, den ich-, ich kenne die Straße und da kamen wir früher nicht weiter. Das sind ja so die typischen Reaktionen, die Sie dann bekommen?
Heike Stange: Ja, also gerade beim "Tag der offenen Tür" kommen sehr viele Geschichten hoch, wo Leute erzählen: Ach, da war ich mit meinem Vater dort oder mit meiner Mutter dort. Oder: Ja, das haben wir auch besucht.
Maximilian Schönherr: Denn die Fotos sind von der Ästhetik her alt und beziehen daher ihren Charme. Also, 1960er-Jahre, die Autos, die um Tempelhof herumfuhren, das ist schon was Besonderes. Aber an sich sind es keine klasse Fotos. Also, man geht nicht hin wegen: Wir gehen heute in eine tolle Fotoausstellung. Darum geht es nicht, sondern es geht ums Wiedererkennen von Örtlichkeiten und ums Einordnen in diese geschichtliche Dimension der Teilung der Stadt.
Heike Stange: Ja, zum größten Teil schon. Aber ich würde Ihnen doch widersprechen. Ich finde, diese Fotos entwickeln doch einen ganz eigenen Charme, und zwar nicht nur wegen der zeitlichen Distanz, sondern gerade die Luftaufnahmen oder auch die Panoramafotos von der Grenze aus der Vogelperspektive entwickeln eine eigene Dynamik und auch eine eigene Ausstrahlung. Das ist mir auch von einzelnen Besuchern bestätigt worden.
Maximilian Schönherr: Können Sie mal so ein Bild beschreiben, so eine Luftaufnahme?
Heike Stange: Also, jetzt gerade vom Grenzverlauf sind das sieben Panoramafotos, die von oben fotografiert sind und die aber auch zum großen Teil die Weite der Landschaft zeigen. Und man sieht natürlich auch den Grenzverlauf, aber der wirkt so klein und distanziert und entrückt, sodass dadurch gar nicht mehr so dieses Bedrückende im Mittelpunkt steht, sondern vielmehr eben diese Weite und Freiheit und eigentlich so einen ganz eigenen Widerspruch auch aufbaut, ja. Und vielleicht als Gegensatz noch mal eine Luftaufnahme von dem Flughafen, die den Radarturm vor allem zeigt, aber dann in so einem Nebel in der Winterlandschaft. Also es zeigt keine Person, sondern es zeigt einfach so eine Stimmung auch der Stadt. Und das finde ich, das ist etwas, was die Fotos hinausbringt über die DDR-Geschichte und nicht Stasi-Geschichte.
Maximilian Schönherr: Obwohl alle Fotos im Stasi-Archiv zu finden waren?
Heike Stange: Ja.
Maximilian Schönherr: Sehen Sie diese Ästhetik auch so, Frau von Götz?
Dr. Irene von Götz: Ja, ich finde das toll, was Frau Stange gesagt hat, und sehe das auch so und finde, es sind wie so kurze Blicklichter auf die Stadtgeschichte, die damalige. Es sind ja nur ganz kurze Aufnahmen und die sind ja gemacht worden nicht mit dem Hintergrund, dass sie jemals irgendwem gezeigt werden sollten, sondern sie sind dann, weiß ich nicht, zur Dokumentation oder eben internen Beobachtungen gemacht worden. Aber deswegen finde ich, ist es so ein besonderer Moment. Der Fotograf oder die Fotografin hat nie darüber nachgedacht, dass wir heute darüber sprechen. Es war keine besondere Ästhetik, sondern es ging wirklich nur darum, etwas kurz zu dokumentieren, teilweise ja auch im Geheimen, oder es war ein ganz kurzer Knipsmoment. Und das, finde ich, macht die Fotos auch noch mal so besonders und spannend, weil es keine Fotokomposition ist, wie etwas, was wir heute machen, wo man bestimmte Situationen stellt oder guckt, wie soll das Licht sein, damit es besonders instagramable ist. Das ist ja bei diesen Fotos gar nicht der Fall und das, finde ich, macht sie auch noch mal interessant.
Maximilian Schönherr: Aber zum Beispiel vom Tempelhofer Flugfeld - 1960er-Jahre - gibt es doch sicher auch Aufnahmen von West-Kollegen, die einfach das Flugfeld mal aufgenommen haben, die da in einem Hubschrauber hochgingen. Also, die waren vielleicht ein bisschen schärfer aufgenommen, weil man nicht so in Hetze war wie der IM, der schnell mal ein Foto schießen musste. Das ist ja dieses Flüchtige. Das hat, finde ich, auch diesen Charme von diesen Fotos. Es konkurriert nicht mit irgendwelchen West-Berliner Fotos aus der Luft oder vom Boden und so weiter, sondern es ist wirklich eine andere Dimension. Zum Beispiel dieses Gebäude. Ich kenne es gut. Es sieht heute immer noch genauso aus. Mehringdamm fährt man hoch Richtung Tempelhof, Eingang vom klassischen Flughafengebäude. Da ist auf der rechten Seite dieser halbrunde Bau und da drin war "Der Tag". Das habe ich jetzt durch Ihre Ausstellung erfahren. Was war "Der Tag" und warum war der da? Zufällig Tempelhof? Oder?
Heike Stange: Ja, der war zufällig dort, weil vorher saßen die in Charlottenburg, also im Westend. Deshalb denke ich, dass die da Räume bekommen haben. Also, das wird schon Zufall gewesen sein. Aber das Besondere an diesem Foto ist auch, dass man eben nicht nur sieht, dass "Der Tag" da im zweiten Stock sitzt, also der wurde observiert, sondern wir sehen eben auch die Straße, wir sehen den Verkehr, wir sehen Fahrradfahrerinnen und wir sehen aber auch die Aufschrift "Der Tag" ganz klein oben. Wenn man genau guckt, kann man das sehen.
Maximilian Schönherr: Moment, jetzt muss ich mal genau gucken.
Heike Stange: Ja, ich habe das auch nur entdeckt, weil mir das Frau Götz mal gezeigt hat.
Maximilian Schönherr: Äh - Seite 54.
Heike Stange: Das war für mich auch eine Neuentdeckung. Sehen Sie es? Ich habe das Bild gerade nicht. Ich gucke mal gerade. Nee, Sie müssen das auf der Seite 53 sich angucken, da können Sie es sehen.
Maximilian Schönherr: Okay.
Heike Stange: Und zwar ganz oben, da auf der Balustrade.
Maximilian Schönherr: Und von rechts fährt ein sehr teures Auto in das Bild rein, nämlich ein schwarzer Mercedes, und links fährt ein sehr kleines Auto, nämlich Fiat 500, aus dem Bild raus und in der Mitte ist ein Radfahrer.
Heike Stange: Aber das war nicht Gegenstand des Interesses der Stasi, sondern Interesse war wirklich, "Der Tag" zu beobachten. Und vielleicht noch mal zurückkommend zu Ihrer Frage nach: Was war "Der Tag"? "Der Tag" war eine Zeitschrift der Ost-CDU und die Ost-CDU war quasi der Ableger von CDU-Leuten, die vom Osten nach West-Berlin geflüchtet sind und dort ein Ost-Büro aufgemacht haben. Das Interesse dieser Ost-Büros war vor allem die Information von Menschen in der DDR über das, was sie im Westen machen, und auf der anderen Seite auch die Aufklärung des Westens darüber, wie es den Menschen in Ost-Berlin oder in der DDR geht. Und diese Ost-Büros gab es auch von anderen Parteien, also nicht nur von der CDU.
Maximilian Schönherr: Also kann man gut verstehen, warum die DDR das beobachten wollte. Das waren natürlich Erzfeinde. Das wollten die ja überhaupt nicht haben: so Leute, die sich auch noch auskennen mit der DDR.
Heike Stange: Ja, genau.
Maximilian Schönherr: Und dann im Westen publizieren und das dann auch noch vielleicht in den Osten rüberbringen. Also, das war ja der Ansatz davon.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Sprechen wir über den Müll.
Heike Stange: Tja, der Müll. [lacht] Der Müll war natürlich in West-Berlin ein ganz großes Problem. Dadurch, dass die Mauer um West-Berlin drum herum war, war immer die Frage: Was machen wir mit dem Müll?
Maximilian Schönherr: Den fahren wir nach Hannover.
Heike Stange: Ja, aber das war doch sehr aufwendig und sehr umständlich. Und dann dachte man natürlich, vielleicht kann man den Müll auch anders entsorgen. Es war noch nicht so, sagen wir mal, wie die Überlegungen heute sind mit dem Müll, dass man auch für seinen eigenen Müll verantwortlich ist oder den auch reduzieren könnte, sondern man nahm dann eben Kontakt mit der DDR auf, also mit Schalck-Golodkowski, und versuchte da eben auszuhandeln, ob man den Müll nicht in die DDR bringen konnte.
Maximilian Schönherr: Kurze Zwischenfrage. Das war eine Idee des Westens quasi? Wir haben so einen Müllentsorgungsdruck, dass wir jetzt sozusagen die DDR-Führung kontaktieren: Könnt ihr uns helfen? Oder war das die DDR, die sagte: Wir brauchen Devisen, wir entsorgen euch gern den Müll?
Heike Stange: Es kann beides sein. Ja.
Maximilian Schönherr: Beides würde passen?
Heike Stange: Beides würde passen, und zwar von beider Interesse. Ja.
Maximilian Schönherr: Und was passiert denn nun mit dem Müll? Und was hat Tempelhof damit zu tun?
Heike Stange: In Lichtenrade, das zu Tempelhof gehört, wurde die einzige Grenzübergangsstelle ausschließlich für Müll gebaut.
Maximilian Schönherr: Es ist heute lustig, aber es war damals nicht lustig.
Heike Stange: Es klingt sehr absurd, aber das ist so und da wurde auch sehr viel Aufwand betrieben. Und was hatte die DDR davon? Also, die DDR bekam sehr viel Geld dafür und deshalb wurde dann eben eine lange Strecke, also so eine Grenzübergangsstelle gebaut und dann eine sehr lange Strecke, die links und rechts von Mauer umgeben war, wie man das auf den Fotos auch ganz gut sehen kann.
Maximilian Schönherr: Von Beton, hohen Betonmauern?
Heike Stange: Hohen Betonmauern, ja. Die fuhr dann eben dieses Fahrzeug entlang und brachte dann den Müll nach Schöneiche.
Maximilian Schönherr: Okay, das heißt, der Müllwagen, Müll-Lkw oder eine ganze Kolonne fuhren da zu einem bestimmten Zeitpunkt entlang? Weil das sieht man auf ihrem Foto.
Heike Stange: Ja, die fuhren da entlang und kamen dann zu einer Grenze und wurden da von dem West-Berliner Zoll kontrolliert. Dann fuhren sie eben durch die Grenze durch und dann wurden sie aber auf Ostseite auch noch mal kontrolliert. Und besonders entscheidend war natürlich die Rückfahrt, weil da waren die Transportautos leer. Da bestand natürlich die Gefahr, dass da vielleicht auch andere Sachen wieder raustransportiert werden. Und deshalb wurde das ganz streng kontrolliert.
Maximilian Schönherr: Gibt es von dieser Kontrolle ein Foto? Ich glaube nicht.
Heike Stange: Also, vielleicht gibt es im Archiv noch welche, aber ich habe die nicht gesehen.
Maximilian Schönherr: Jetzt habe ich gerade das Nebel-Panorama, von dem Sie vorhin gesprochen haben, wo im Hintergrund ein Bus fährt, da sieht man den Nebel so gut. Also, im Vordergrund sieht man so Sperren, wie man die jetzt im Ukraine-Krieg mitten in Kiew sieht. Also quasi etwas, wo man mit dem Auto nicht durchfahren kann, weil das sieht hier nach Holz aus.
Heike Stange: Es ist Eisen. Panzersperren.
Maximilian Schönherr: Dann ist ungefähr ein Gebiet von vielleicht 30 Metern Feld und Wiese.
Heike Stange: Ja.
Maximilian Schönherr: Und dann ist die Mauer, wie man die klassisch kennt, also die Mauer eben aus Beton. Und dahinter sehe ich einen VW Käfer geparkt und einen Bus fahren und rechts im Hintergrund sehe ich im Nebel eine Funkstation, würde ich mal sagen.
Heike Stange: Ja, genau. Das war eine US-amerikanische Funkstation, die auch ganz gezielt dafür eingesetzt war. Ja.
Maximilian Schönherr: Wofür eingesetzt war?
Heike Stange: Um Funk abzufangen, auch von der DDR.
Maximilian Schönherr: Das war eine erhöhte Stelle und da konnte man schon ganz gut horchen.
Heike Stange: Diese drei Fotos, also die beiden auf der vorhergehenden Seite und dieses, die haben im Original die gleiche Größe und sind in einer Akte aufgeklebt und darunter beschrieben, was darauf zu sehen ist. Marienfelder Allee, das ist eine der wichtigsten Verbindungsstraße, auch heute. Also, das kann man sich gar nicht vorstellen, weil es sieht so aus, als ob diese Straße in West-Berlin so im Nirgendwo endet, an der Mauer.
Maximilian Schönherr: Wir sehen ein Vorfahrtsschild. Aber heute ist es eine ganz normale Straße, die auch eine Vorfahrtsstraße ist. Das Schild existiert wahrscheinlich heute noch und macht jetzt Sinn.
Heike Stange: Ja, ja. Es ist wirklich eine ganz wichtige Verbindungsstraße auch in Berlin.
Maximilian Schönherr: Und man sieht von dem Aussichtsturm heute natürlich nichts mehr und der sieht sowieso ein bisschen bescheiden aus. Ich kenn größere aus Berlin.
Heike Stange: Ja. Also, die wurden ja teilweise dann auch abgerissen und manchmal wieder neu gebaut oder die hatten nicht unbedingt einen permanenten Bestand. Also, das muss man sich auch nochmal sagen: Das sind Fotos aus verschiedenen Zeiten. Ich habe immer versucht, die Datierung herauszufinden, wenn sie nicht vorgegeben war, weil das, glaube ich, wichtig ist. Und das spielt auch noch mal eine Rolle, was Irene von Götz gesagt hatte, dass das Momentaufnahmen sind. Also, die halten einen ganz bestimmten Eindruck fest und man kann dann immer nicht sagen, das kann dann ein paar Tage später schon wieder anders gewesen sein. Ja.
Maximilian Schönherr: Klingt ein bisschen nach: Sie hatten viel, viel mehr Fotos zur Auswahl, als was Sie nun in der Ausstellung unterbringen. War das so? Also, Sie hätten durchaus Bilder gehabt von dieser Stelle hier in der Marienfelder Allee - das Foto ist jetzt vom 15. März 1973, vielleicht vom 17. März auch noch ein Foto -, aber Sie müssen sich halt einschränken?
Heike Stange: Nee, so viel mehr Fotos hatte ich nicht. Also, ich hatte schon mehr Fotos und es wären sicherlich auch noch einige zu finden, aber wenn es Möglichkeiten gab, aus verschiedenen Zeiten zu einem konkreten Ort etwas abzubilden, habe ich das auch versucht zu machen, wie beim "Tag der offenen Tür", weil ich finde, dass Fotos aus verschiedenen Zeiten auch immer aus sich heraus was erzählen, also Narrativ quasi ergeben. Also, gerade beim "Tag der offenen Tür" mit den Fotos Mitte der 60er-Jahre und dann Anfang der 80er-Jahre zeigt das ja sehr schön.
Maximilian Schönherr: Wir müssen noch dazu sagen: Das war der "Tag der offenen Tür" in Tempelhof. Also, offiziell Leute aus West-Berlin kamen da hin und es waren halt ein paar IM-Leute auch noch dabei.
Dr. Irene von Götz: Genau und diese "Tage der offenen Tür" am Flughafen hatten eine sehr lange Tradition. Ich hatte schon Fotos für eine andere Ausstellung gesehen, wo es so Ende der 40er-Jahre Seifenkistenrennen gab, auch organisiert von den Alliierten. Also, das war immer wieder jährlich ein Ort, um zusammenzukommen, und es gab eine Tradition und das wurde dann durch diese "Tage der offenen Tür" weiterverfolgt und viele Gäste der Ausstellung haben dann auch immer wieder bestätigt, dass sie da waren, dass es ein Highlight war für sie. Lustigerweise haben wir auch am Tag der Eröffnung dann einen Mann kennengelernt, der Lackierer war und der die amerikanischen Hubschrauber und anderen Gerätschaften, die so ausgestellt wurden, immer vor dem "Tag der offenen Tür" lackiert hat, damit auch alles schön glänzte. Und dann hat er erzählt, wie alles dann auch wieder danach aussah und dass er wieder neu lackieren musste. Also, da gibt es lebendige Erinnerungen daran und das finde ich auch spannend einfach für die Stadtgeschichte.
Heike Stange: Ich würde gerne noch mal auf den Flughafen zurückkommen. Also, diese "Tage der offenen Türen" waren natürlich immer so eine Art Volksfeste. Aber es war natürlich auch immer die Demonstration von militärischer Stärke. Also, die US-Army hat dann auch die anderen Alliierten eingeladen, um ihre Sachen dort auch zu präsentieren. Und es ging immer auch um ein politisches Statement: Wir verteidigen die Freiheit West-Berlins und wir sind stark genug, um das zu machen.
Maximilian Schönherr: Wenn jetzt ein IM da fotografiert hat, wie wir das auf den Bildern sehen, dann ist es eigentlich "Tag der offenen Tür" und zeigt am wenigsten Neues. Das wussten wahrscheinlich alle im Osten längst, welche Technik da ist. Aber trotzdem hat er oder sie fotografiert.
Dr. Irene von Götz: Ja, das ist interessant. Das war natürlich ein idealer Tag zum Fotografieren, um unauffällig auch zu fotografieren, je nachdem, wer es war. Das wissen wir ja auch nicht ganz genau, ob es Person aus West-Berlin war oder jemand, der aus Ost-Berlin rübergekommen ist, um Fotos zu machen mit einer Legende oder so, wie das ja dann oft bei den IMs der Fall war. Interessant finde ich, dass das Fotografieren damals ganz anders war als heute. Man vergisst das ja. Sie hatten ja nicht beliebig viele Filme dabei. Sie hatten ja auch nicht beliebig viele Möglichkeiten, ein Foto zu machen. In der Regel einfach 24 Bilder. Keine Ahnung, ob sie da noch mal einen Film hatten, um nachzulegen. Also, es war nicht so wie heute, dass man eine Vielzahl an Fotos schießen konnte und noch mal so und so und hier noch mal. Also, das Medium Foto war einfach anders und das finde ich auch noch mal interessant, darüber nachzudenken und zu sprechen. Man hatte nicht beliebig viele Chancen. Man musste sich schon überlegen: Was fotografiere ich eigentlich? Was entwickele ich? Was übergebe ich? Das hat ja auch alles Geld gekostet, auch anders als heute Fotos zu entwickeln, auszusuchen, zu sichten.
Maximilian Schönherr: Liegen denn die Originalfotos, die Negative vor? Haben Sie mal irgendeins gesehen oder waren diese Dokumente immer schon auf Papier?
Heike Stange: Also, die Fotos, die ich gesichtet habe, stammen ja aus unterschiedlichen, sage ich mal, aus unterschiedlichen Sammlungen, also einmal aus Aktensammlungen und dann aber auch aus der fotografischen Sammlung.
Maximilian Schönherr: Des Ministeriums für Staatssicherheit?
Heike Stange: Ja, genau. Das ist ja ein Unterschied einfach, wenn man dann die Kontexte versucht zu recherchieren.
Maximilian Schönherr: Ich sage mal in Klammern: Es war nicht das Interesse des MfS, ein sauberes Archiv zu überlassen - uns -, sondern es waren halt verstreute Karteikarten da und dann gab es andere Archivteile da, dann wurden Sachen irgendwohin transportiert. Also, es ist ein zerrissenes Archiv, deswegen sagen Sie, Sie finden im Bildarchiv was und dann in anderen Archivteilen auch was anderes.
Heike Stange: Es ist ja nicht so, dass ich das gefunden habe, sondern es wurde mir präsentiert.
Maximilian Schönherr: Sie haben einen Medienantrag gestellt, oder?
Heike Stange: Ja, genau.
Maximilian Schönherr: Wie lange hat es gedauert eigentlich?
Heike Stange: Es ging sehr schnell, also, ein Vierteljahr.
Maximilian Schönherr: Ich habe öfter Medienanträge schon gestellt, immer in Bezug auf O-Töne, und jetzt kommen wir wieder auf die Fotografietechnik zurück. Bei der Aufnahmetechnik sind zum Beispiel die Strafprozess-Mitschnitte der Stasi - ganz offizielle Mitschnitte - aus den 50er-Jahren sind qualitativ mäßig viel besser als die aus den 60er-Jahren. Das fand ich ganz interessant. Die werden ja eigentlich immer schlechter im Laufe der Zeit. Wir wissen nicht genau warum. Also, die aus den 1950er-Jahren sind wirklich bilderbuchmäßig gut aufgenommen und bei den Bändern gibt es den Säurefraß. Das war eine bestimmte Generation an Tonbändern, die sich selbst zersetzt haben. Die mussten jetzt auch im Archiv schnell digitalisiert werden. Ist schon eine ganze Weile her, die sind alle digitalisiert und die musste man dann wahrscheinlich entsorgen. Wie ist es mit den Fotos? Erkennen Sie an den Fotos: Das ist ein Foto aus den 60er-Jahren und das unterscheidet sich - jetzt nicht von der Ästhetik, sondern von der Qualität - auch von den 80er-Jahren?
Heike Stange: Also, das kann ich nicht sagen. Das ist auch, glaube ich, zu wenig, was ich da gesehen habe. Ich glaube, das hängt eher ein bisschen davon ab, ob es Farb- oder Schwarz-Weiß-Fotos sind. Ich habe zum Beispiel vom "Tag der offenen Tür" auch farbige Kleinbildfotos gesehen und die waren sehr ausgebleicht. Also, da kann man zwar sagen, die haben auch einen eigenen Charme, aber diese Schwarz-Weiß-Fotos, gerade aus den 60er-Jahren, sind schon sehr viel prägnanter dann einfach, ja. Aber das hängt auch ein bisschen vielleicht mit unserem Ästhetikverständnis oder mit meinem Ästhetikverständnis zusammen, dass ich eher einen Bezug zu Schwarz-Weiß-Fotografie habe. Aber davon hängt es sicherlich ab und das hängt auch, glaube ich, ab davon: Es gibt auch natürlich Dias, die ich mir zum Teil gar nicht angesehen habe, oder auch Negative. Da weiß ich natürlich nicht, wie ein Abzug heute aussehen würde, aber ein Abzug heute ist natürlich auch was anderes als ein Abzug aus der damaligen Zeit. Und man weiß natürlich auch nicht, ob es dann Abzüge gegeben hat. Dafür hatte ich auch keine Zeit, um das zu vergleichen, aber das müsste man dann sicherlich machen.
Maximilian Schönherr: Schlagen wir bitte Seite 76 auf.
Dr. Irene von Götz: Ja, das ist eine Fotografie auch an der Mauergrenze, Groß-Ziethener Straße, und vermutlich aus dem Auto heraus fotografiert die Mauer von Westen. Es ist eine Situation im Schnee. Man sieht noch Autos und das Besondere an diesem Foto, weshalb wir es ausgesucht haben, auch für den als Coverfoto für unsere Drucksachen und den Flyer, ist, weil es so aus dem Auto heraus fotografiert ist. Also, Sie sehen vorne unscharf noch ein bisschen den oberen Bereich des Lenkrads und der Armatur des Autos. Das ist so eine klassische schnelle Knipsfotografie. Vielleicht war es auch kalt, die Person wollte nicht aussteigen, also einmal schnell diesen Moment aufgenommen und die Mauer fotografiert von der Westseite.
Maximilian Schönherr: Ich meine, es liegt Schnee, es war bestimmt kalt. Und wenn der da stand und den Motor aushatte, lief die Heizung nicht.
Dr. Irene von Götz: Und da sieht man eben, es kam nicht so auf die Qualität an. Ich weiß nicht genau, was der Auftrag war, aber die Situation da vor Ort kurz aufnehmen. Und im Zentrum des Bildes steht ja ganz klar die Mauer, insofern war das sicher der Auftrag.
Maximilian Schönherr: Was ist das für eine Anlaufstelle?
Heike Stange: Das war eine Anlaufstelle für Zoll und Polizei, wo die Absprachen trafen und wo sie sich dann eben treffen konnten. Von den beiden Polizeirevieren in Tempelhof wurden Leute eingesetzt, Polizisten eingesetzt, die eben an der Grenze kontrollierten. Anlaufstelle bedeutet halt eben auch, dass es sowohl Zoll als auch Polizei waren, die da Absprachen treffen konnten.
Maximilian Schönherr: Und die DDR wusste, dass es da stattfindet und deswegen haben sie mal jemanden da hingeschickt und der nimmt dann aus seinem Auto ein Farbbild auf.
Heike Stange: Genau. Und das Besondere an diesem Bild ist ja wirklich diese Winterlandschaft, finde ich. Also, das ist schon wirklich so eine eigene Dynamik. Und diese Ruhe, die dieses Foto auch ausströmt. Man sieht ja auch diese Mülltonnen über dem Lenkrad, die auch so weiße Schneehäubchen quasi aufhaben. Ich finde das wirklich ganz außergewöhnlich, welche Ausstrahlungskraft dieses Foto hat.
Maximilian Schönherr: Okay, jetzt hätte ich gerne von Ihnen noch: Haben Sie ein Lieblingsbild?
Heike Stange: Also, ich habe gestern die Ausstellung noch mal durchgesehen wegen eines möglichen Lieblingsfotos und mir ist aufgefallen, dass ich zu jedem Foto einen Bezug habe - ästhetisch, aber auch kontextmäßig. Und interessant finde ich auch - muss ich auch noch sagen - die Postkarten, die das MfS gesammelt hat vom Flughafen Tempelhof, weil die sind äußerst scharf und die zeigen quasi das Gelände vom Tempelhof, also den Vorplatz vom Tempelhofer Flughafen, aber ohne Verkehr, ohne alles. Also, die wurden vermutlich Anfang der 50er-Jahre aufgenommen. Die konnten das für 25 Pfennig kaufen. Ja, das waren wirklich frisch gekaufte Karten, sozusagen.
Maximilian Schönherr: Bis wann ist die Ausstellung noch zu sehen?
Dr. Irene von Götz: Die ist noch zu sehen bis zum 9. November 2022.
Maximilian Schönherr: Und wo muss man da hinfahren?
Dr. Irene von Götz: Da können Sie zu uns ins Tempelhof Museum kommen, und zwar ist das in der Straße Alt-Mariendorf 43.
Maximilian Schönherr: Gut. Und der Katalog ist lohnenswert für alle Leute, die sich mit der Berlin-Geschichte beschäftigen und mit den Aufnahmevorhaben der Stasi-Mitarbeiter in West und Ost an diesen Grenzverläufen. Haben wir alles Wichtige besprochen? Ich denke schon, oder?
Dr. Irene von Götz: Ja, ich denke auch.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war ein Gespräch mit Heike Stange und Dr. Irene von Götz. Dr. Irene von Götz leitet das Tempelhof Museum. Heike Stange hat die Ausstellung im Stasi-Unterlagen-Archiv recherchiert und zusammengestellt. Sie trägt den Titel "Unter Beobachtung – Fotografien der Stasi aus Tempelhof" und schließt am 9. November 2022.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Der folgende Ton ist nichts für empfindliche Hörerinnen und Hörer. Es geht um ein trauriges Kapitel: Suizid in Untersuchungshaftanstalten. Die gab es in allen Bezirken der DDR und für sie war die Abteilung XIV zuständig. Gefangenentransporte, Sicherung und Unterbringung Gefangener, der Betrieb der Haftanstalten und die Organisation des Strafvollzugs gehörten zu ihren grundsätzlichen Aufgaben. Der Dia-Ton-Vortrag zu Lehrzwecken von circa 1975 beschäftigt sich mit dem Erkennen und Verhindern von Selbstmorden Strafgefangener in Untersuchungshaft. Er zeigt Hilfsmittel, informiert über mögliche Verhaltensänderungen von Gefangenen im Vorfeld, erläutert gegebenenfalls Rettungsmaßnahmen und Vorschriften. Außerdem wird auf die häufigsten Suizidarten eingegangen. Von den 40 Minuten habe ich die drei ausgewählt, in denen es um Suizid durch Vergiftung geht. Zwischen den Textzeilen ist der Schaltimpuls für den Diaprojektor deutlich zu hören. HKH ist die Abkürzung für Haftkrankenhaus.
[Archivton Beginn]
[Sprecher:] Suizid durch Vergiftung. Eine letzte Möglichkeit Beschuldigter, einen Suizid durchzuführen, ist die des Vergiftens. [Schaltimpuls Diaprojektor] Dies kann geschehen durch Einnehmen von verdorbenen Lebensmitteln oder [Schaltimpuls Diaprojektor] Einnehmen bzw. Einspritzen bestimmter Mixturen, die mithilfe von Tabak, Urin, Tabletten, Waschpulver und so weiter vom Beschuldigten hergestellt werden. [Schaltimpuls Diaprojektor] In jedem Fall braucht ein Inhaftierter zur Durchführung eines Suizids durch Vergiftung eine gewisse Vorbereitungszeit, das heißt, er muss sich die notwendigen Mittel, die er dazu braucht, erst herstellen bzw. dazu brauchbar machen. [Schaltimpuls Diaprojektor] Zum Beispiel das Aufbewahren von Lebensmittel bis zu deren Verderben, um sie einnehmen zu können. [Schaltimpuls Diaprojektor] Diese Vorbereitungsphase, die der Beschuldigte zur Durchführung eines Suizid durch Vergiften benötigt, gibt dem Wach- und Sicherungsposten die Möglichkeit, bei korrekter und gewissenhafter Dienstdurchführung solch einen Versuch frühzeitig zu erkennen und zu vereiteln. Wie ist nun das Verhalten eines Wach- und Sicherungsposten, wenn er einen Suizid durch Vergiftung entdeckt? Als Erstes muss erst einmal der Posten die Symptome, die bei Vergiftung durch Einnahme verdorbener Lebensmittel oder Einnahme bestimmter giftiger Mixturen auftreten, kennen. Folgende Symptome sind typisch für eine solche Vergiftung: veränderte Gesichtsfarbe des Beschuldigten, Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Bemerkt ein Wach- und Sicherungsposten bei seiner Kontrolltätigkeit diese Symptome einer Vergiftung bei einem Beschuldigten, so hat er als Erstes das Wasser für den entsprechenden Verwahrern abzudrehen. Damit soll erreicht werden, dass der Beschuldigte bei Erbrechen nicht die Möglichkeit hat, das Erbrochene wegzuspülen, da es vom Medizinischen Dienst für Laborproben zur Untersuchung der Ursache der Vergiftung benötigt wird. Nach dem Abstellen des Wassers ist sofort der Arbeitsgruppenleiter zu verständigen. Der entsprechende Beschuldigte wird danach vom Posten besonders kontrolliert. Vom Arbeitsgruppenleiter werden die Genossen des HKH verständigt. Diese übernehmen dann die Behandlung des Beschuldigten.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."