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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Hallo und Willkommen zu einer neuen Folge. Mein Name ist Maximilian Schönherr. Ich bin Journalist und Gastgeber des Podcasts zusammen mit-
Dagmar Hovestädt: Dagmar Hovestädt, zweite Gastgeberin im Podcast und Leiterin der Abteilung Kommunikation und Wissen im Bundesarchiv Stasi-Unterlagen-Archiv. Das Stasi-Unterlagen-Archiv arbeitet ja nach wie vor auf Basis des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, hat also eine eigene rechtliche Basis auch im Bundesarchiv, das ansonsten nach dem Bundesarchivgesetz arbeitet. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz, das wir bei uns im Alltag auch immer gerne StUG nennen, wurde im November 1991, also vor ziemlich genau 30 Jahren verabschiedet und hat sich seither enorm bewährt. Das kann man schon so sagen. Eine ganz eigene Erfolgsgeschichte.
Maximilian Schönherr: Also ich habe als Archivnutzer dieses Gesetzes erst später kennengelernt. Du bewunderst es offenbar. Was gefällt dir so gut daran?
Dagmar Hovestädt: Also ein Teil der Geschichte des Stasi-Unterlagen-Archivs, das ist ja die Auseinandersetzung um die Öffnung der Akten. Die Daten, die die Stasi gesammelt hat, die sind einfach sehr oft menschenrechtswidrig gesammelt worden. Und sie enthalten viele persönliche und oft auch intime Daten von Menschen. Insofern brauchte man im vereinten Deutschland, in der Demokratie, eine solide Lösung, die den Zugang belastbar und nach den Kriterien eines Rechtsstaats ermöglichen würde. Und das war das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Das war auf der einen Seite ein Datenschutzgesetz im Sinne der Opfer der Stasi. Deren Daten sollten geschützt werden und ein Informationsfreiheitsgesetz für den Zugang zu den Daten und Informationen für diejenigen, die im Auftrag des damaligen Staates gehandelt hatten, damit das transparent wird, wie Diktatur funktioniert. Und das konnte man ja im Vorhinein gar nicht wissen, ob das wirklich gelingt. Und das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist da seither mehrfach novelliert worden an kleineren Details, aber im Grunde genommen hat es wirklich herausragend funktioniert mit diesem Gesetz dieses schwierige Archiv zu öffnen und für die Gesellschaft nutzbar zu machen.
Maximilian Schönherr: Das Gesetz hat auch etwas zu tun, wenn ich das mal in Klammern fragen darf, ich habe es nämlich wieder vergessen, mit einem früheren Bundeskanzler?
Dagmar Hovestädt: Das Gesetz hat mit einem früheren Bundeskanzler zu tun. Wenn du damit Helmut Kohl meinst, der im Jahr 2000 genau diese Abwägung zwischen: Was dürfen Außenstehende, auch Journalisten, wissen aus den Akten, wenn denn Personen der Zeitgeschichte oder auch damalige Bundeskanzler der Bundesrepublik durch Stasi Aktivitäten in den Akten auftauchen, haben die ein Recht darauf zum Beispiel abgehörte Telefonate, wo sie sich im Schutze ihrer Privatheit wähnten, dass diese einfach heute zugänglich sind, auch von Journalisten. Und das war zu dem Zeitpunkt, bis zu dem er da geklagt hat möglich und hat dann vor Gericht erstritten, dass die Betroffenen, also die von Stasi Handlung betroffenen Personen ein größeres Mitspracherecht haben wer Zugang hat zu ihren privaten und auch intimen Daten. Und da geht es jetzt nicht um den einfachen oder normalen Bürger ohne herausgehobene Position, sondern es geht um Personen der Zeitgeschichte, also auch Funktionsträger der damals westlichen Bundesrepublik.
Maximilian Schönherr: Dieser Fall hat das Gesetz noch mal zugespitzt. Kann man es so sagen?
Dagmar Hovestädt: Das hängt wirklich davon ab, auf welcher Seite des Konfliktes du stehst. Man kann auch sagen, es hat die Rechte der Betroffenen, den Schutz der Daten der durch Stasi Handlung Betroffenen gestärkt. Ich glaube, im Kern der Sache war natürlich der Versuch von Journalisten, an Unterlagen oder Informationen zu kommen, die einen Konflikt in der Bundesrepublik aufklären sollten, nämlich den Parteiskandal, die Parteispendenaffäre der CDU, aber dafür hat das Stasi-Unterlagen-Gesetz gar keinen Fall dafür vorgesehen. Das Ziel ist es diese Akten einzusehen, um zu verstehen wie die Stasi gearbeitet hat und gewirkt hat, um zu verstehen, wie Diktatur funktioniert, aber nicht, um diese Quellen zu nutzen, wie die Stasi sie genutzt hat, um das herauszufinden, was man anders nicht herausfinden könnte. Da gibt es also tatsächlich so eine Zweckbindung. Die macht das Stasi-Unterlagen-Gesetz auch ein bisschen ungewöhnlicher für ein Archivgesetz, weil wir eben fragen: Was willst du eigentlich damit? Und wenn du eben nicht in die Richtung der Aufklärung gehst und ganz andere Sachen vorhast, müssen wir erst mal "Halt Stopp" sagen, weil wir die Daten der Betroffenen schützen müssen.
Maximilian Schönherr: Wir machen jetzt die Klammer wieder zu. Heute geht das Gespräch, das du geführt hast, um den Zugang durch Presse und Medien zum Stasi-Unterlagen-Archiv. Auf eurer Webseite kann man das ja immer Jahres aktuell nachschauen, wer für welchen Zweck einen Antrag gestellt hat. Natürlich ohne Namensnennung. Im letzten kompletten Jahr 2020, dem ersten Jahr der Corona Pandemie, wurden 1.230 Anträge aus Forschung und Medien gestellt, 300 davon, da gehöre ich auch dazu, von Journalistinnen und Journalisten und was eine meiner Kolleginnen davon so recherchiert hat, erzählt sie dir im Gespräch.
Dagmar Hovestädt: Genau. Und das ist vielleicht auch ganz hilfreich, um sich das einmal vorzustellen. So ein Antrag im Bereich Forschung und Medien ist nämlich oft eine Sache, die sehr zeitintensiv ist. Also "ein Antrag" hört sich eben nicht so wahnsinnig aufregend an, aber in den meisten Archiven, Landesarchiven, Bundesarchiv, auch kommunale Archive ist der Nutzende, der sozusagen an das Archiv herantritt, hat die Aufgabe, sich über die Darstellung der sogenannten Bestände - also Archivarin und Archivare nennen die Sammlungen von Dokumenten eben Bestände - Da muss man sich selber vorher informieren. Und dann liest man eben, in welchem Jahr beispielsweise in einem Ministerium eine bestimmte Sitzung zu meinem Thema, das ich recherchieren will, stattgefunden hat. Und dann suche ich mir dazu Fundstellen und Signaturen für Protokolle oder Entwürfe oder Abhandlungen und gehe dann dann an das Archiv ran und sage: Hier sind die Signaturen. Ich will mir diese Bestände und Dokumenten-Sammlungen durchsehen. Und das geht bei uns eben nicht so einfach. Aber du weißt ja, wie das dann geht bei uns. Du hast ja einen Antrag gestellt, mehrere, schon viele.
Maximilian Schönherr: Also mein erster Antrag dürfte so um 2007 gewesen sein. Der Südwestrundfunk und ich wussten damals nicht, wie lang so eine Bearbeitung dauern würde und ob es überhaupt zu einem Ziel führt. Als der Bescheid dann kam, ich weiß nicht nach wie viel Zeit, hatten wir die Antragstellung längst vergessen, waren echt überrascht. Und mein erster Besuch in dem Archiv war für mich ein Lehrstück in Sachen Stasi-Unterlagen-Gesetz. Ich durfte bei diesem oder jenem O-Ton nicht genau hinhören, weil Personennamen geschützt werden mussten. Es war noch nicht ausgepiepst, das war sozusagen "Primärhören" und es waren manchmal zwei bis drei Archiv-Mitarbeiter*innen mit im Raum, um zu schauen, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Das fand ich ein bisschen stressig, aber ich hab mich dran gewöhnt und ich sehe ja inzwischen, woran es liegt. Und ich habe dabei einen Schneeballeffekt erlebt, den ich auch aus klassischen Archiven kenne, wo solche harten Gesetzesvorlagen nicht rumschwirren. Wir stießen beim Abhören von Bändern oder Lesen von Akten auf Aspekte, die dann in den nächsten Forschungsauftrag rein ging.
Dagmar Hovestädt: Und ich meine eben auch, dass man sehr stark mit unseren Mitarbeitenden zusammenarbeitet, weil die ja im Grunde genommen die Recherche dann für dich im Archiv vornehmen und du ein bisschen davor sitzt, weil eben durch den hohen Datenschutz man nicht selber sich durch unbegrenzte Bestände lesen darf, sondern die gucken erst vorher, ob darin Daten sind, die zu schützen sind, wie bei dir bei Audiodaten eben durch den Raum verlassen oder wegpiepen und darauf aufpassen.
Maximilian Schönherr: Also wir haben jetzt gerade über Medien und Journalisten und wissenschaftliche Anträge geredet. Nur ganz kurz: Sind die Bearbeitungszeiten von einem privaten Antragsteller, der über seinen Großvater was wissen möchte in eurem Archiv, länger oder umständlicher? Weil du hast es so rausgestellt, dass es diese Wissenschaftsrecherchen sehr aufwendig sind.
Dagmar Hovestädt: Das habe ich deswegen herausgestellt, weil das eben unterschiedlich ist. Wenn ich zu mir selber oder zu meinem Großvater recherchiere, suche ich ja nach Unterlagen zu einer Person. Und da haben wir relativ klare Recherchevorgaben, sodass das in der Regel gar nicht so lange dauert, weil wir nicht anfangen zu recherchieren, wenn diese Person zu einem bestimmten Thema verankert ist, dass wir noch zu dem Thema suchen und so weiter. Aber der Recherchevorgang dauert nicht ganz so lange, nur wir haben ja nach wie vor einen relativ hohen Rückstau, sodass bis dein Antrag drankommt, mal schnell ein Jahr vergeht. Bei Forschungsanträgen mehr noch als bei journalistischen Anträgen kann das manchmal über Jahre dauern. Ich sag mal, wenn man die Todesopfer an der innerdeutschen Grenze erforschen möchte oder wenn man das Wirken der Stasi in Bezug auf Universitäten, auf eine Universität über vier Jahrzehnte erforschen will, da sind wir ganz schön mit der Recherche beschäftigt, mit dem Überlegen, ob der Datenschutz gewährleistet ist. Seit 2007 dürfen Mitarbeitende von Universitäten in ungeschwärzte Akten gucken, weil sie verpflichtet werden, nichts der Personendaten da preiszugeben. Insofern macht das das schon ein bisschen einfacher. Aber das ist auch eine kleinere Personengruppe aus dem Forschungsbereich, wo wir eben gar nicht diesen hohen Arbeitsanteil haben, dass vorher alles schützen zu müssen.
Maximilian Schönherr: Ja, jetzt erzähl was über deine Gesprächspartnerin Sylvia Nagel.
Dagmar Hovestädt: Sie macht schon seit vielen, vielen Jahren Filme, also sie ist eine Filmemacherin im Dokumentarfilm-Bereich. Und sie erzählt von zwei ihrer Recherchen bei uns im Archiv. Die erste, das ist eine sehr dramatisch und auch sehr traurige Recherche. Dazu hat sie 2019 mit einem Co-Autoren einen Film veröffentlicht, der sich mit den minderjährigen Opfern der Mauer und der innerdeutschen Grenze beschäftigt. Das sind besonders tragische Todesfälle, die den ganzen Irrsinn und die Unmenschlichkeit der Grenze zeigen.
Maximilian Schönherr: Dafür ist das zweite Thema etwas entspannter. Es geht nämlich um Flohmärkte in der späten DDR, also bis 1989. Dann legt mal los.
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Dagmar Hovestädt: Bevor wir in die Thematik einsteigen, in die Unterlagen und was Sie ins Stasi-Unterlagen Archiv geführt hat, würde ich mich freuen, wenn Sie uns kurz mal erklären, was Sie sozusagen beruflich machen und wie Sie dazu gekommen sind, irgendwann auch im Stasi-Unterlagen-Archiv aufzuschlagen.
Dr. Sylvia Nagel: Ich habe ganz früh mal angefangen bei der Zeitung, dann Radio gemacht, dann Fernsehen, war dann stellvertretende Redaktionsleiterin in der Arte Redaktion des MDR und habe aber immer Filme gemacht. Das ist so mein Thema irgendwie, das musste ich dann irgendwie wieder weitermachen und bin dann da auch ausgestiegen. Seitdem arbeite ich wieder als Filmemacherin und auch als Produzentin. Früher war ich eigentlich in der Kultur unterwegs, ganz früher mal sogar beim Sport und habe mich dann aber mehr und mehr auf gesellschaftspolitische und historische Themen konzentriert, weil die mich immer wieder angefasst haben und mich interessiert haben. So bin ich auch 2017 zu dem Thema gekommen, über das wir jetzt sprechen, wo es um jugendliche Maueropfer geht. Das ist eigentlich aus einem anderen Projekt sozusagen entstanden.
Dagmar Hovestädt: Ich hake nur kurz ein, weil so haben wir uns ja eigentlich kennengelernt, da war ich in der Pressestelle noch beschäftigt und es gab ein Thema, das Sie ins Archiv geführt hat, nämlich die Maueropfer über die man noch nie so viel gehört hat, die tatsächlich minderjährig waren.
Dr. Sylvia Nagel: Genau, das hat mich interessiert, dass ich das nicht wusste, dass so viele Kinder und Jugendliche an der Sektorengrenze und auch an den innerdeutschen Grenzen zu Tode gekommen sind. Und dann habe ich angefangen zu recherchieren und habe eine ganze Liste sozusagen gemacht. Die sind insofern recherchiert, weil sich da Historiker und Wissenschaftler damit beschäftigt haben, dass auch Literatur dazu gibt, aber es gab filmisch eben so gut wie gar nichts. Und da habe ich gedacht, das ist eigentlich eine unerzählte Geschichte, die ich nicht erzählen möchte. Genau, und so habe ich einen Antrag gestellt, 2017. Ich habe es tatsächlich nachgeguckt. Der Film war dann zwei Jahre später fertig. Und da haben wir uns dann näher kennengelernt. Speziell angefangen hat es mit den Kindern, die hier in Berlin an der Sektorengrenze zu Tode gekommen sind. Da habe ich ganz viel Akten hier einsehen können. Und dann bin ich aber natürlich auch noch in andere Archive gegangen und habe noch Jugendliche sozusagen gefunden, die dann zum Beispiel im Landesarchiv oder so was, wo Unterlagen dann lagen oder im Bundesarchiv oder so.
Dagmar Hovestädt: Das waren aber alles Kinder, die auf der westlichen Seite irgendwie in das Grenzgebiet gekommen sind oder waren es auch Kinder, die aus DDR-Seite in die Grenzanlagen gerannt sind?
Dr. Sylvia Nagel: Also unterschiedlich. Die Kinder, die hier speziell in der Spree beim Spielen ertrunken sind, was ich ganz schrecklich finde immer noch, das sind alles Kinder gewesen, die aus dem Westen gekommen sind. Das meiste spielte sich in Kreuzberg am damaligen Gröbenufer ab. Die haben halt dort gespielt und sind beim Spielen ins Wasser gefallen und sind weder von der West noch von der Ostseite gerettet worden. Und so ein Kind geht innerhalb von drei Minuten, also es ist einfach tot. Also wenn da nicht sofort jemand rein springt und es rettet.
Dagmar Hovestädt: Und diese Umstände des Todes konnte man in den Stasi-Unterlagen tatsächlich nachvollziehen?
Dr. Sylvia Nagel: Ja. Also ein Fall hat mich besonders beschäftigt. Vielleicht kann ich es daran am besten erzählen. Giuseppe Savoca, ein Kind von italienischen/griechischen Eltern. Der war sechs Jahre alt und der war mit einem Freund an der Spree. Also wie gesagt, da war ja direkt die Sektorengrenze, an der Kaimauer, und auf der Oberbaumbrücke standen die Grenzer und einer hat es beobachtet und hat es fotografiert. Aber sie haben eine Dreiviertelstunde bis zu einer Stunde gebraucht, bis überhaupt mal mit ihrer ganzen Befehlskette sozusagen jemand hingefahren ist und dann das Kind natürlich nur noch tot aus dem Wasser ziehen konnte. Und was ich dann noch besonders schrecklich fand, das haben sie immer so gemacht: Sie haben das Kind dann auf ein DDR-Boot geladen, also mitgenommen und in die Gerichtsmedizin in Ost-Berlin gebracht. Das heißt, die Eltern waren am anderen Ufer und wussten nicht was jetzt ist. Sie haben ihr Kind erst später zurückbekommen, teilweise gegen Geld sogar.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, auf der Westseite hat das niemand schnell genug gemerkt und auf der Ostseite ist es von Anfang an bemerkt worden, aber niemand hat sich bemüßigt gesehen.
Dr. Sylvia Nagel: Eher nicht bei allen Fällen. Ich konnte es nicht bei allen Fällen recherchieren. Aber in diesem Fall ist es beobachtet worden. Genau. Und auf der Westseite, da hat es wohl Spaziergänger gegeben, da gibt es keine konkreten Unterlagen dazu. Also das wird auch in den Stasi-Akten erwähnt. Aber das konnte ich nicht überprüfen. Aber auch dort wäre niemand ins Wasser gesprungen, weil sie alle Angst hatten, erschossen zu werden. Wie gesagt, da war die Sektorengrenze.
Dagmar Hovestädt: Wann war das?
Dr. Sylvia Nagel: Das war '74.
Dagmar Hovestädt: '74, genau, da war ja gerade erst, glaube ich, erst das Viermächteabkommen überhaupt, das ein bisschen durchlässiger gemacht hat, von West nach Ost zu gehen. Und da war wahrscheinlich für Westberliner, die das schon sehr lange kannten, eine gehörige, auch realistische Portion Furcht da in dieses Wasser zu steigen.
Dr. Sylvia Nagel: Genau. Und ich meine, was man auch dazu sagen muss auf der Westberliner-Seite, also am Gröbenufer, standen keine Zäune. Das heißt für Kinder, oder sie waren jedenfalls nicht wirklich als Abgrenzung und ich meine Kinder kann man ja keinen Vorwurf machen. Die denken nicht dran, die spielen einfach, die sind entweder irgendwie unter den Zaun durchgekrochen oder es gab gar keinen und sie sind die Böschung runter und dann lag der Ball im Wasser und dann wollten sie den Ball rausfischen und dann war es zu spät.
Dagmar Hovestädt: Ja, das Wasser ist ziemlich tief da. Das heißt, das ist einer der eindrücklichsten Fälle. Was passiert eigentlich, wenn man sich so eine dramatische Geschichte aus dieser bürokratischen Abhandlung anschaut?
Dr. Sylvia Nagel: Also ich fand es beim ersten Lesen schrecklich. Also es war mein erster Kontakt mit mit Stasi-Unterlagen für dieses Filmprojekt. Und wenn man sich die Unterlagen anguckt, dann denkt man das ist irgendwie- Also das ist ja so ein Bürokraten-Deutsch, okay, aber es wirkte auf mich so menschenverachtend, so distanziert irgendwie. Da wird einfach wie ein Fall beschrieben. Da geht es aber um Menschenleben, um ein Kind, was ertrunken ist und niemand hat es gerettet. Und ganz am Ende, es gibt dann ja immer noch so ein Schlussbericht zu diesem Fall von Giuseppe Savoca, da steht dann: Mann kann davon ausgehen, dass das ein selbstverschuldeter Unfall ist. Also das fand ich dann besonders echt ein Schlag ins Gesicht. Und ich habe dann ja in der Folge der Dreharbeiten die Schwester von Giuseppe Savoca kennengelernt und die hat das auch noch mal zitiert, wie schrecklich das für sie war, diese Unterlagen zu lesen.
Dagmar Hovestädt: Die hat die dann auch 20 Jahre später, die Stasi-Unterlagen wurde 1992 mit dem Gesetz ja zugänglich, also die hat das auch noch mal notwendig gefunden die Unterlagen dann noch zu lesen.
Dr. Sylvia Nagel: Ja, sie wollte das gerne wissen, was da drin stand.
Dagmar Hovestädt: Wenn Sie die Unterlagen anderer Archive dazu oder die Westseite gesehen haben, Landesarchiv Berlin, da ist natürlich trotzdem auch bei tragischen Fällen immer eine gewisse bürokratische Sprache, um das einfach nur festzuhalten. Das ist ja in dem Sinne nicht zu vermeiden, dass das da sozusagen drin ist. Hat das Sie trotzdem noch mal auf eine andere Art und Weise berührt? Weil ich stell mir die Westberliner Unterlagen auch nicht sehr viel lyrischer oder einfühlsamer vor.
Dr. Sylvia Nagel: Nein, das sind sie natürlich nicht. Aber es spricht zumindest in meiner Wahrnehmung aus diesen Zeilen, die ich hier gelesen habe. Ja, das ist mehr als Bürokratie, das spürt man irgendwie. Republikflüchtlinge, ja, die wurden verfolgt, auch mit der Schusswaffe. In diesem Fall waren es ja aber gar keine. Es war ein Kind, was rein gefallen ist und trotzdem hat es diesen gleichen Duktus. Und bei den bei den Unterlagen, die ich im Landesarchiv auch zu einem Berliner Fall, der dann dort liegt, sehen konnte, waren das halt die Untersuchungen, die nach der Wende stattgefunden haben, weil ja recherchiert worden ist, ob das irgendwie ein Mord ist, der nicht verjährt ist und wer der Schuldige ist. Die sind halt typisch verwaltungsbürokratisch geschrieben, aber die haben diesen anderen Duktus, den ich bei den Stasi-Unterlagen gespürt habe, gelesen habe, die haben den so nicht.
Dagmar Hovestädt: Wie viel Fälle haben Sie sozusagen in der Recherche feststellen können?
Dr. Sylvia Nagel: Von Kindern und Jugendlichen?
Dagmar Hovestädt: Genau, ja.
Dr. Sylvia Nagel: Also Minderjährigen, die gestorben sind? Über 30.
Dagmar Hovestädt: Über 30?
Dr. Sylvia Nagel: Ja.
Dagmar Hovestädt: Jetzt muss ich gerade selber überlegen. Die Todeszahlen an der Berliner Mauer liegt bei 130, glaube ich, mittlerweile bei festgestellten Fällen. An der innerdeutschen Grenze, so um die 220/230 festgestellte tatsächliche Fälle, die mit Flucht zu tun haben. Das ist ein relativ hoher Anteil eigentlich, oder?
Dr. Sylvia Nagel: Ja, ich konnte natürlich jetzt für die filmischen Arbeiten nicht allen Fällen nachgehen. Das müsste man wahrscheinlich noch machen, aber ich hab irgendwann mal eine Liste gemacht von den Fällen, die bekannt sind und da bin ich schon auf über 30 gekommen.
Dagmar Hovestädt: Der Film ist vor 2 Jahren ausgestrahlt worden?
Dr. Sylvia Nagel: 2019.
Dagmar Hovestädt: 2019, ja, im August zum Mauerbau im Monat wahrscheinlich. Was war eine Reaktion darauf? Gab es Reaktion?
Dr. Sylvia Nagel: Ich habe viele Reaktionen von Leuten bekommen, die gesagt haben, sie finden das gut gemacht und sie haben das nicht gewusst. Das war ja auch unser Grund, also mit meinem Kollegen Carsten Opitz zusammen, warum wir diesen Film gemacht haben, dass sie noch mal auf mit einem anderen Blick sozusagen auf die Mauertoten, auf die Maueropfer oder die Opfer des Regimes sozusagen geguckt haben. Und sie fanden dann die einzelnen Geschichten berührend. Also da ist eben die Geschichte von Giuseppe Savoca, die ich schon erwähnt habe. Dann habe ich von den vielen Fällen, die ich recherchiert habe, noch eine Geschichte erzählt oder haben wir erzählt von Gert Könenkamp, der 1962 schon, also ganz früh, durch die Elbe geschwommen ist in Niedersachsen und dabei ertrunken ist und von seinem Freund nicht gerettet werden durfte, weil ein Grenzer ihn bedroht hat. Nach dem Motto: Wenn du jetzt ins Wasser springst, bist du tot. Jugendliche, 15. Und dann gab es noch eine Geschichte, die ich besonders krass auch fand von einem Jugendlichen, Heiko Runge, der aus Halle kommt und mit seinem Freund in Sorge im Harz über die Grenze wollte. Und der ist von hinten erschossen worden und sein Freund ist festgenommen worden und wurde verhaftet. Also das sind diese drei Fälle, die ich erzählt habe, als Beispiele für die Minderjährigen, die zu Tode gekommen sind.
Dagmar Hovestädt: In dem Film geht es ja auch immer darum, was es für langanhaltende Folgen hat für die, die das entweder direkt überlebt haben, wie der Freund oder auch die Familien, denen die Kinder entrissen wurden. Haben Sie den Freund damals nicht getroffen, wenn ich mich richtig erinnere?
Dr. Sylvia Nagel: Genau, Uwe Fleischhauer heißt der Freund von Heiko Runge. Mit dem habe ich gedreht. Und ich habe den Eindruck, der ist immer noch, also immer noch, dass ist sozusagen wie eingeschrieben in ihm diese Geschichte und vor allen Dingen, weil er damals seinen Freund Heiko quasi überredet hat mitzukommen, nach dem Motto: Ich will weg, kommst du mit? Und dann wird der auch noch erschossen. Das nimmt ihn heute immer noch mit, wenn er darüber erzählt. Und er ist aber trotzdem jemand, der da sehr gut reflektieren kann und der auch was aus der Haft erzählt hat und so weiter. Und bei den anderen, bei Gert Könenkamp ist es so, dass sich seine beiden Freunde oder Bekannte aus der Schule, die mit ihm fliehen wollten, kennengelernt habe. Der eine hat es dann rüber geschafft durch die Elbe in den Westen und der andere hat eben dann auch eine Bewährungsstrafe bekommen. Bei denen ist es natürlich auch immer noch präsent. Ich glaube so was kann man auch nicht, da kann man nicht einen Haken hinter machen. Das gehört zur Lebensgeschichte einfach dazu, auch eine sehr emotionale Lebensgeschichte. Ich erinnere mich gut, dass wir mit mit Johannes Richter das Interview gemacht haben. Das ist der, der es im Westen geschafft hat und der hat angefangen zu weinen.
Dagmar Hovestädt: Sie sind ja nun mal sehr jung, also als junger Mensch mit 15 und 16. Man hat sowieso eine extrem hochemotionale Phase und ich glaube, das verlässt einen nie, wenn das in so jungen Jahren so ein intensives traumatisches Erlebnis gibt.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Dagmar Hovestädt: Hatten Sie auch Gelegenheit oder den Wunsch, die andere Seite zu hören? Also die, die man in den Akten ja verschriftlicht sieht? Also gab es einen Stasi-Offizier oder einen Grenzer, mit dem man reden konnte?
Dr. Sylvia Nagel: Ja, hätte ich gerne. Aber das war uns nicht möglich, für den Film jemanden vor die Kamera zu kriegen. Ich hätte sehr, sehr gerne die andere Seite gehört, weil ich auch gerne verstehen wollte, wie das war, als Grenzpolizist oder Grenzsoldat zu arbeiten und wie man das mit dem Gewissen macht. Also jetzt auch abstrahiert von dem- Da sieht man ein Kind, was ins Wasser fällt. Natürlich hätte ich auch gerne mit dem gesprochen, aber den habe ich nicht ausfindig gemacht. Aber von diesen vielen Fällen, die ich recherchiert habe, hätte ich gerne gewusst: Was ist in diesen Menschen vorgegangen und zwar ohne ohne Anklage, sondern einfach nur um verstehen zu können.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie denn Versuche unternommen und hatten Gelegenheit, zumindest ohne Kamera mit ehemaligen Verantwortlichen da zu sprechen?
Dr. Sylvia Nagel: Also mein Kollege Carsten Opitz, mit dem ich den Film gemacht habe, der selber aus dem Osten stammt - Das war auch eine ganz schöne Kombination. Ich bin ja aus dem Westen, weil der natürlich noch einen anderen Blick drauf hatte - Der hat über ein Forum von ehemaligen Grenzsoldaten versucht, Kontakt aufzunehmen und da hat er niemanden gefunden, der bereit war, mit uns auch ohne Kamera zu sprechen. Ich habe in das Forum auch reingeguckt, ohne dass ich jetzt registriert bin, aber man kann eben einige Sachen auch so sehen. Die haben oft auch schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht. Die fühlen sich dann schlecht dargestellt, schlecht behandelt. Ja, da haben dann einige so wie man sagt, ein bisschen verbrannte Erde hinterlassen. Und dann ist schwierig, an die heranzukommen.
Dagmar Hovestädt: Und so sprechen letztendlich nur die Akten in der damals gewünschten gewollten, verordneten Sprache. Und die sprechen eben ihre eigene Sprache in der Art, wie man damit umgegangen ist.
Dr. Sylvia Nagel: Genau, deswegen haben wir sie ja auch zitiert, weil es dann jemand sich auch einen Eindruck verschaffen kann, wie das geschrieben wurde, also ohne das jetzt zu werten. Wir haben uns einfach auf die Opfer konzentriert.
Dagmar Hovestädt: Ja, obwohl ich glaube, genau das diese Distanzierung durch Sprache macht das alles auch möglich. Wenn ich es nämlich näher an mich ran lasse und wenn ich eine andere Sprache wähle und wenn ich den Menschen sehe und nicht den Grenzverletzer oder den Unfall, der unvermeidbar war, dann bin ich nämlich selber ganz anders in der Verantwortung, als wenn ich das eben deklariere, für etwas von mir Entferntes und mit dem ich gar nicht mich in Beziehung setze, weil es einfach nur ein Fall ist und eine Problematik und ein Grenzverletzer und nicht ein Kind, das ins Wasser gefallen ist, das ich hätte retten müssen.
Dr. Sylvia Nagel: Ja, aber ich habe mich dann immer gefragt bei diesen Fällen oder eben auch bei anderen Fällen, die man ja kennt oder die man lesen kann, sehen kann: Da ist jemand, da passiert ein Unfall, da passiert eine Grenzverletzung. Der Grenzsoldat ist gezwungen zu schießen und am Abend geht er nach Hause zu seiner Frau und seinen Kindern. Was macht das mit ihm? Das hätte ich gerne mal gewusst. Und es gibt einen bei der Geschichte von Heiko Runge im Harz. Da gibt es ein ein Interview mit einem der Grenzsoldaten, der dann offensichtlich Alkoholiker geworden ist. Ich weiß nicht, ob das der Grund dafür war, aber der - das war dann irgendwie Mitte der 90er Jahre, glaube ich, dieses Interview - der dann sagt: Na ja, was hätte ich denn machen sollen? Irgendwie, entweder ich schieße oder oder mein Vorgesetzter schießt, oder ich werde dann gleich inhaftiert. Das war ja so der Hintergrund, dass sie alle dachten, sie werden dann sofort eingesperrt, was ja auch vorkam, aber ja, schwierig irgendwie. Aber da sind wir leider nicht weitergekommen, da hätte ich gerne die andere Seite gehört.
Dagmar Hovestädt: Ja, oder die Seite, die hinter den Akten steckt und genau das erzählt.
Dr. Sylvia Nagel: Ja, genau so.
Dagmar Hovestädt: Aber es hat Sie sozusagen nicht abgeschreckt, die Schwierigkeit des Aktenlesens oder das, was man in den Akten findet, denn Sie haben ja weitere Recherchen gemacht, auch hier im Archiv.
Dr. Sylvia Nagel: Hier im Archiv. Ja, irgendwie begleitet es mich seitdem, das ist schon interessant. Das hat natürlich auch was damit zu tun, dass ich immer wieder Sachen finde, von denen ich denke, die sind noch nicht so erzählt worden. Auch wenn es über die DDR in allen möglichen Varianten ja sehr, sehr viele Filme und Berichte gibt. Ja, ich habe dann mich mit Trödelmärkten und Gebrauchtwagen-Märkten beschäftigt, also was anderes. Aber es geht auch um die Überwachung durch die Staatssicherheit. Die hat Mitte der 80er Jahre stattgefunden, auf vielen, vielen Märkten in der DDR. Und ich habe dann auch darüber - und das war war wahnsinnig hilfreich - Ich habe erst mal die Sachaktenakten gelesen, im BStU in Frankfurt (Oder)-
Dagmar Hovestädt: In der Außenstelle.
Dr. Sylvia Nagel: In der Außenstelle, genau. Und war erstaunt. Also dort habe ich natürlich auch einen Antrag gestellt und ich dachte: Na ja, wenn da überhaupt was ist.
Dagmar Hovestädt: Na ja, ich hätte jetzt nicht gedacht, dass es Gebrauchtwagen- oder Flohmärkte richtig gibt. Man weiß ja, dass es in der DDR einen Schwarzmarkt gab, dass man unter der Hand relativ vieles organisieren bekommen konnte. Aber dass es im Sinne eines bemerkbaren Marktes stattfindet, hätte ich jetzt nicht ausgeschlossen. Aber hätte ich jetzt auch nicht gewusst.
Dr. Sylvia Nagel: Deswegen habe ich auch gesagt, Mitte der 80er Jahre, wo es halt, also die sogenannte Mangelwirtschaft, schon sehr verbreitet war. Und die Waren aus dem Westen wie Jeans, wie Kassettenrekorder, wie Schallplatten, wie amerikanische Filme, das gab es alles nicht. Und das haben die Leute auf diesen Märkten verkauft und eben auch Autos. Und wie gesagt, ich habe dann gedacht, da gibt es ganz wenig drüber und war dann wirklich extrem erstaunt. Es gibt Aktenberge zu diesen Märkten und ich habe, ich glaube, ich habe 300 Seiten mehr kopieren lassen und das ist nur ein Bruchteil davon. Also das fand ich sehr interessant. Und mit Hilfe des Kollegen dann vor Ort, des Leiters der BStU in Frankfurt (Oder), haben wir einen Aufruf gestartet, um dann die Menschen hinter den Geschichten zu finden. Also die Protagonisten, die Zeitzeugen, die dann auf einem Trödelmarkt irgendwie mit der Stasi zu tun hatten, oder auch welche, die inhaftiert worden sind. Und daraus ist jetzt ein neues Projekt entstanden, dass wir eine Web-only-Serie, die wir machen wollen für Menschen zwischen 15 und 29, die die DDR nicht mehr kennen. Wir wollen ihnen erzählen, wie war das damals an verschiedenen Geschichten, verschiedenen Themenschwerpunkten und auch gucken: Wie war es denn eigentlich im Westen? Also so ein Vergleich. Und das ist eigentlich aus dieser Trödelmarkt-Recherche entstanden.
Dagmar Hovestädt: Gibt es auch Fotos zu diesen Trödelmärkten?
Dr. Sylvia Nagel: Ja, es gibt gibt etliche Fotos, vor allen Dingen von diesen Gebrauchtwagen-Märkten, davon gibt es ganz viele und dann aber auch für die Leute, die ihre Waren in den Kofferraum der Autos platziert haben. Die die sind dann offen und dann sieht man, wie die Leute da rumlaufen und sich die Waren angucken. Ja, da gibt es reichlich Material.
Dagmar Hovestädt: Kofferraum heißt aber, dass sie sich nicht mit einem Stand irgendwo hingestellt haben, sondern Kofferraum heißt ja potenziell: Motor an und abhauen, wenn da irgendwas passiert.
Dr. Sylvia Nagel: Nein, das war sozusagen am Rande dann. Also es gab gab Stände tatsächlich. Zum Beispiel der Havelberger Pferdemarkt ist ein Beispiel dafür, wo es richtig Stände gab, wo es eben auch Veranstaltungen mit den Pferden gab und Verkäufer und so weiter. Aber oft war das dann am Rande, soweit ich das jetzt recherchieren konnte, dass die da auch mit ihren Autos standen. Ja, ich weiß nicht. Wahrscheinlich wollten die dann, wenn jemand gekommen wäre, wären sie abgehauen, hätten den Kofferraum Klappe zugemacht und weg wären sie gewesen. Da bin ich jetzt noch nicht weiter eingestiegen.
Dagmar Hovestädt: Aber 80er-Jahre heißt vermutlich auch, dass es da eine größere Toleranz gab, so etwas zuzulassen und das ist das in früheren Jahren Jahrzehnten gar nicht gegeben hat in dem Sinne, oder?
Dr. Sylvia Nagel: Genau, das habe ich mich auch erst gefragt, warum dann? Also zum einen, weil dann viele Waren- die Menschen in der DDR wollten bestimmte Sachen gerne haben und sie konnten sie irgendwie besorgen, aber sie wurden überwacht. Die meisten, mit denen ich jetzt gesprochen habe, wurden zwar irgendwie überwacht, ich habe bisher einen getroffen oder mit einem gesprochen, der tatsächlich auch, weil er West-Technik benutzt hat, was verboten war, der dafür ins Gefängnis gegangen ist.
Dagmar Hovestädt: Was war das Interesse dann der Stasi das zu überwachen? Man könnte ja auch sagen: Gott sei Dank können die sich ein bisschen Waren hier austauschen, dann ist eine gewisse Befriedigung da und dann gucken wir nur, dass nichts zu unruhig wird.
Dr. Sylvia Nagel: Na ja, das wurde ja immer skeptisch beäugt. Waren aus Westdeutschland oder Schallplatten oder Filme aus Amerika. Das war ja nicht gewollt und deswegen wurde das natürlich beobachtet.
Dagmar Hovestädt: Und die Technik, die er benutzt hat, was war daran so besonders?
Dr. Sylvia Nagel: Also der war jetzt sozusagen, auf den bin ich gestoßen im Zusammenhang mit der Recherche über die Trödelmärkte, der war nicht auf einem Markt, sondern der hat über einen ungarischen Diplomaten Videotechnik aus dem Westen bekommen und hat den Discotheken gedreht und hat dieses Material dann verkauft. Und das war natürlich, da wurde nicht so gerne gesehen und dafür ist er ins Gefängnis gegangen.
Dagmar Hovestädt: Also das würde man glaube ich nicht so vermuten. Aber das ist so ein, ich sag es mal, Nebenprodukt dieser durchdringenden Überwachung aller möglichen Alltagssituationen, dass dieses Archiv, das Stasi-Unterlagen-Archiv, ja doch eine ziemlich interessante Dokumentation des Alltags der DDR ist, auch wenn es durch diesen Repressionsapparat der Stasi aufgenommen und beobachtet und dokumentiert wurde. Aber man kann da durch eben viele Dinge wieder erfahren, die wahrscheinlich sonst kaum von jemandem so aufbewahrt worden wären oder dokumentiert werden.
Dr. Sylvia Nagel: Ja, absolut. Diese Märkte sind ein gutes Beispiel dafür. Wer war denn da? Was wollten die da? Was wurde da gehandelt und wie? Wie lief das ab? Und von daher? Ja, da kriegt man ein Stück Alltag auf jeden Fall noch mal mit.
Dagmar Hovestädt: Die Idee, dass eben auch für eine jüngere Zielgruppe aufzubereiten. Wie ist die entstanden?
Dr. Sylvia Nagel: Also die Idee, dass für eine jüngere Zielgruppe zu machen, ist entstanden, weil wir eben dachten, zum Beispiel eine Geschichte über Trödelmärkte, die noch nicht erzählt ist, die liegt sozusagen jetzt auch bei uns auf Halde. Aber andere Geschichten über Flucht oder Fluchten zum Beispiel, die sind schon erzählt worden. Und wir haben uns dann gefragt: Aber was wissen denn junge Leute, die vermehrt eben auch kein Fernsehen gucken, sondern nicht mehr lineares Fernsehen gucken, sondern die in Mediatheken, auf YouTube und so weiter unterwegs sind, die aber ein Interesse haben, sich sowas anzugucken. Was wissen die denn eigentlich? Ich habe in Zusammenhang mit noch einem anderen Projekt eine Zielgruppenbefragung gemacht mit Schülerinnen und Schülern. Und da haben wir sie gefragt: Was wisst ihr denn? Und da kamen so die Stereotype: Mauerbau, wissen sie ganz wenig drüber, Mauerfall wissen sie ganz viel. Dann kamen so Kalter Krieg und also wie gesagt, so Schlagworte. Und was würde euch interessieren? Wir würden gerne mal wissen: Wie war das denn in der DDR? Wie hat man denn da gelebt? Wollten die Menschen fliehen? Haben sie sich vielleicht auch wohlgefühlt? Was waren die Vorteile, was waren die Nachteile? Und dann aber auch immer wieder die Frage zum Ministerium für Staatssicherheit, also zur Stasi. Warum haben die das gemacht? Und daraus ist letztlich - also da kommen ja immer viele Faktoren zusammen - aber daraus ist letztlich dann die Idee entstanden, dass für ein jüngeres Zielpublikum zu machen und denen die Geschichten aus verschiedenen Epochen der DDR zu erzählen, also anhand von Zeitzeugen und zu sagen: Guckt mal, so war das. Und ihnen das nahezubringen. Also weil ein Interesse für Geschichte und für Politik ist auf jeden Fall vorhanden.
Dagmar Hovestädt: Ich finde es auch gut, das sozusagen zu spiegeln in der damals westbundesrepublikanischen Alltagsgeschichte und das einfach miteinander zu vergleichen, weil es gab ja ziemlich viele Parallelitäten und es gab auch viele Beziehungen zwischen West und Ost durch die Familien. Das waren millionenfache Austausche, Besuche. Mir ist eben eingefallen, bei den Trödelmärkten, wir hatten eine Folge mal über den Ost-West-Paketverkehr und in diesen Paketen finden sich eben viele dieser VHS und Schallplatten und Zeitschriften und westlichen Konsumgüter, die zwar zu nicht geringen Teilen auch von der Stasi mal beschlagnahmt wurden, aber offensichtlich dann auch ihren Weg auf den Flohmarkt gefunden haben. Und da gibt es sozusagen schon mal in dieser Ebene ein großes Wissen übereinander und die Unterschiedlichkeiten, aber in der größeren Allgemeinheit nicht. Und da gab es halt viel Fernsehgucken mehr. Im Osten wurde Westfernsehen viel geguckt. Auch wenn man in Westberlin gelebt hat, hat man aber wenig DDR-Fernsehen geguckt und weiß eigentlich auch gar nicht so sehr viel als westdeutsch Sozialisierter wirklich über den Alltag der DDR. Und insofern ist das vielleicht auch nach 30 Jahren ein ganz guter Moment, sich auf dieser Ebene mal auszutauschen. Was war es eigentlich? Wie war es eigentlich wirklich, was ist erlebt? Und was sagt mir das heute noch?
Dr. Sylvia Nagel: Ja. Und eben kein kein DDR-Bashing zu machen. Natürlich erzählen wir Geschichten, da wollen wir Geschichten erzählen von Menschen, die geflohen sind und die auch im Gefängnis gelandet sind. Aber wir wollen eben auch erzählen: Wie war das mit der Musik, was für Musik konnten sie hören, welche Bands durften auftreten, welche nicht? Also natürlich, die Restriktionen, die es damals gab, spielen schon eine Rolle, aber eben nicht nur, weil das wird ja immer gerne mal gesagt, dass das da so ein DDR-Bashing stattfindet und man immer nur auf die Stasi guckt. Das wollen wir eben nicht.
Dagmar Hovestädt: Dann das ganze Ding mal ein bisschen weiter angucken, wobei man am Ende des Tages natürlich trotzdem nicht da rauskommt zu sagen, es war halt ein autoritäres Regime, wo die Freiheiten, am Ende des Tages, des Einzelnen weniger wichtig waren als die Gesamtheit der Parteikontrolle zu erhalten.
Dr. Sylvia Nagel: Ja, auf jeden Fall. Das spiegelt sich auch in jeder der Geschichten wider, die wir jetzt erzählen werden.
Dagmar Hovestädt: Dann habe ich sozusagen noch eine Frage, was die Arbeit hier im Hause angeht. Da bin ich immer neugierig. Wie erlebt man das, wenn man zum allerersten Mal hier hergeht und sich mit diesem Komplex Stasi-Unterlagen beschäftigt und sagt: Ich will da mal reingucken. Wie läuft das ab und was ist die Nutzererfahrung?
Dr. Sylvia Nagel: Eine positive auf jeden Fall. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich dann die Unterlagen angucken konnte. Aber das ist natürlich klar, wenn viele Anfragen da sind. Aber dann saß ich da im Lesesaal und habe zum ersten Mal diese Akten angeguckt. Und wie gesagt, hatte dann meine sozusagen meine Leseerfahrung und fand es aber sehr angenehm. Ich habe dann auch noch Akten nachbestellt und habe gesagt: Können Sie noch mal gucken, ob es dazu noch was gibt und so weiter. Und das war sehr angenehm die Zusammenarbeit mit der Sachbearbeiterin und ja, da war immer eine- quasi konnte man sich immer melden. Also die haben mich sehr unterstützt, auch dann diesen Film zu realisieren, weil wir ja auch ein Teil der Akten dann hinterher noch abgedreht haben. Also natürlich ohne Personennamen und so weiter. Aber zumindest die Sachinformationen.
Dagmar Hovestädt: Gab es auch schon digitale Herausgaben?
Dr. Sylvia Nagel: Ich glaube, ich habe ein paar Fotos, weil ich habe auch nach Fotos und Bewegtbild geguckt, und habe einige Digitalisate bekommen, unter anderem auch später dann aus Frankfurt (Oder). Da ist allerdings wohl noch nicht so viel erschlossen, war meine Erfahrung in '17, als ich da in die Recherche eingestiegen bin. Da habe ich hier spezielle Fotos zu einem Fall hier in Berlin gesucht, mit dem ich das Bild hätte bebildern können. Und da gab es dann noch nicht so viel oder zumindest konnte man die auch nicht zuordnen zu dem Ort, wo das passiert ist. Also da ist wahrscheinlich in der Zwischenzeit auch schon wieder einiges passiert.
Dagmar Hovestädt: Es gibt ein bisschen nachgerüstete Technik und den Versuch, Digitalisierung zur Nutzung also sozusagen umzusetzen, sodass man eben auch Unterlagen nicht mehr per Papierkopie, sondern digital erhält. Und natürlich sind Audio-, Video- und auch Fotounterlagen in größerer Menge schon digitalisiert, auch um sie zu erhalten. Also gerade bei Audio und auch bei älteren Video Formaten verliert sich die Information und die Digitalisierung ist der einzige Weg das überhaupt zu erhalten, damit man es weiter nutzen kann. Tonbänder entmagnetisieren sich und damit verschwindet die Information und dann ist das ganze Ding weg. Da sind wir ziemlich weit, schon in der Digitalisierung und das ist dann bei der Nutzung eben einfacher, weil man das dann auch digital zur Verfügung stellen kann. Mit so einem Downloadlink und einer sicheren-
Dr. Sylvia Nagel: Genau, sowas habe ich auch bekommen. Das war jetzt in Frankfurt (Oder), wo ich so was bekommen habe.
Dagmar Hovestädt: Das heißt also für das Projekt, das Webprojekt kann das schon noch sein, dass es ein paar weitere Recherchen gibt, jenseits von Trödelmärkten, um zu gucken: Was ist da noch an Alltagsgeschichte hier im Archiv?
Dr. Sylvia Nagel: Ja, auf jeden Fall. Also ich habe ja wie gesagt Kontakt jetzt zu den Zeitzeugen, die wir jetzt ausgewählt haben. Aber ich muss natürlich dann da noch mal stärker, wenn das Drehbuch, das finale Drehbuch dann geschrieben ist, da muss ich noch stärker in die in die Recherche einsteigen und da werde ich bestimmt noch mal kommen.
Dagmar Hovestädt: Na dann wünsche ich weiter viel Erfolg beim Recherchieren und Finden von guten Geschichten. Danke für das Gespräch.
Sylvia Nagel: Ich danke Ihnen.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war das Gespräch mit Sylvia Nagel, Filmemacherin und Produzentin im Dokumentarfilm-Bereich. Ihr Film "Die jüngsten Opfer der Mauer", den sie mit ihrem Co-Autor Carsten Opitz gemacht hat, lief im August 2019 in der ARD. Ist er eigentlich noch in der Mediathek?
Dagmar Hovestädt: Soweit ich das recherchieren konnte, ist er nicht mehr in der Mediathek. Man kann sich da einloggen, aber ich glaube das nicht. Filme sind in der Regel nur für ein Jahr in der Mediathek.
Maximilian Schönherr: Und nun, wie immer der akustische Blick ins Archiv und zwar ohne jeglichen Zusammenhang mit dem vorher Besprochenen.
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Die sogenannte Affäre Guillaume war einer der größten Skandale in der alten Bundesrepublik. Wer mehr dazu wissen möchte, findet auf der Internetseite des Stasi-Unterlagen-Archivs viel Material. Im Tonbestand gibt es neben zahlreichen Aufnahmen mit Berichten des Ehepaares Guillaume vor MfS Mitarbeitern über Einsatz und Haft in der BRD. Den folgenden sehr schmerzhaften Schlagabtausch Erich Mielkes mit dem ehemaligen Offizier im besonderen Einsatz und engsten Mitarbeiter Willy Brandts, Günter Guillaume. Gut drei Minuten ist dieser Ausschnitt aus einer Dienstkonferenz anlässlich des 37. Jahrestages der Gründung des MfS 1987.
[Archivton]
[Erich Mielke]: Genossen! Genossen, passt jetzt mal gut auf. Und ihr wisst, wenn ich das ankündige, dann steckt etwas dahinter. Psst. Seid ihr bereit? So, dann übergebe ich jetzt einem Brandstifter das Mikrofon. Wo bist du, Guillaume?
[Günter Guillaume]: Also Minister, ich nehme das als eine Auszeichnung-
[Erich Mielke]: Sehr gut!
[Günter Guillaume]: Betrachte mich aber trotzdem persönlich als Friedensstifter und ich hoffe, ihr stimmt mir da alle zu. Genossen, das ist für mich bewegend heute dabei zu sein und natürlich auch mit zu den Genossen zu gehören, die ausgezeichnet worden. Ich mache ja seit ein paar Jahren nicht mehr viel. Das ich überhaupt was machen kann, verdanke ich all denen Genossen, die dafür gesorgt haben, dass ich nicht mehr bis zum 24. April dieses Jahres in Rheinbach im Gefängnis sitzen musste. Da wär nämlich Endstrafe, da wären die 13 Jahre um.
[Erich Mielke]: Da darfst du aber nicht rückfällig werden, mein Lieber.
[Lachen im Publikum]
[Günter Guillaume]: Na, auf jeden Fall-
[weiter Lachen im Publikum]
[Günter Guillaume]: Ich will ja keine Anspielung machen, aber hervorgerufen jetzt durch diese Bemerkung möchte ich sagen: In der BRD läuft am 24. April dieses Jahres meine Bewährung ab. Ich weiß nicht, ob ich mich da bewährt habe.
[Erich Mielke]: Jawoll.
[Günter Guillaume]: Ich glaube, ich habe mich hier bewährt! Bei uns. Ich habe mir nämlich Mühe gegeben in den zurückliegenden fünf Jahren, die ich jetzt daheim bin, entsprechend dem Befehl unseres Ministers - Denn er hatte gleich einen Befehl, als ich nach Hause kam - Vermittle das, was du gemacht hast, an die jungen Genossen. Da habe ich mir vielleicht ein wenig Mühe gegeben und - äh - ich verrate sicherlich auch kein Geheimnis, dass viele Seiten Papier voll geschrieben worden. Vielleicht gibt es mal eine gute Veröffentlichung darüber. Ich habe jedenfalls meinen Beitrag geleistet und vielleicht war ich aus diesem Grunde heute wieder unter denen, die ausgezeichnet worden.
[Erich Mielke]: [unverständlich] des Dialogs ist es wahrscheinlich nicht wahrscheinlich.
[Lachen im Publikum]
[Günter Guillaume]: [lacht] Ich hab mich bemüht, meinen Beitrag zu diesem Dialog zu leisten. Genossen, ich freue mich, heute mit dabei zu sein. Es ist ja für die Genossen, die Kämpfer einer unsichtbaren Front, immer ein bisschen wehmütig, wenn sie an unseren Jahrestag denken. Sie sitzen da draußen alleine. Treffen nur vielleicht einmal im Jahr ihren Führungsoffizier oder ein Freund mit dem sie reden können. Sie müssen das alles in ihrem Herzen ausmachen. Sie müssen Gespräche mit sich selber führen. Sie müssen sich immer selbst überzeugen, was sie für gute Kämpfer sind und dass sie standhafte Kommunisten sind. Genossen, das ist sehr schwer und ich glaube, wir können auch heute den Genossen draußen gar nicht herzlich genug unseren Gruß senden, den Kämpfern an der unsichtbaren Front.
[Applaus]
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."