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 Persönlicher Taschenkalender und Schraubenzieher von Helmut V. sowie seine Protestparolen

Protest in der S-Bahn

Etwa drei Wochen nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn begann ein Unbekannter Protestparolen auf Sitzen und Wänden von S-Bahn-Waggons in Berlin zu hinterlassen. Er forderte damit zum Beispiel "Freie Wahlen" und "Freiheit für Ungarn". Nach intensiver Beobachtung der S-Bahn-Züge durch die Ermittler der Transportpolizei wurde am 16. Februar 1957 der 27-jährige Helmut V. am Bahnhof Friedrichstraße festgenommen.

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Video zum Fundstück

Am 5. Dezember 1956, einem Mittwoch, nimmt die Serie ihren Anfang: Kurz vor 19.00 Uhr entdeckt ein Reichsbahnmitarbeiter auf dem Bahnhof Wittenau (Nordbahn) in einem S-Bahn-Waggon drei "Hetzlosungen", wie es im Bericht der herbeigeeilten Transportpolizei heißt. "Freiheit für Ungarn" und "Freie Wahlen" steht an der Decke und an einer Wand. Mit einem "sehr scharfen Gegenstand (vermutlich Taschenmesser)" waren die bis zu 40 Zentimeter großen Parolen in den Lack geritzt worden. Die Transportpolizei nahm einen Bericht auf und wies den Wagenmeister der Reichsbahn an, die Losungen zu überpinseln.

Die drei Protestparolen waren nur der Anfang. Bereits einen Tag später fanden sich in einem Waggon die Worte "Freiheit" und erneut "Freie Wahlen". Und so ging es in den nächsten Wochen weiter, oft ergänzt um die Losung "Freiheit für Ungarn".

Solidarität mit dem Aufstand in Ungarn

Als der Unbekannte mit seinen Aktionen begann, war für die Ungarn die kurze Zeit ihrer Freiheit bereits gewaltsam zu Ende gegangen. Der Aufstand, der am 23. Oktober 1956 mit einer Solidaritätsdemonstration für die aufständischen polnischen Arbeiter begonnen hatte, war seit dem 4. November 1956 von der Roten Armee niedergeschlagen worden. Die Kämpfe dauerten bis zum 15. November 1956 und forderten Tausende von Opfern. Insbesondere durch die Forderung der Demonstranten nach freien Wahlen, Presse- und Meinungsfreiheit und nach dem Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen wurden die Ereignisse in Ungarn auch zu einem Vorbild oppositioneller Bewegungen in anderen sozialistischen Staaten.

Die Solidaritätsbekundungen, mit denen der Unbekannte in der Berliner S-Bahn drei Wochen nach der Niederschlagung des Volksaufstandes begonnen hatte, gingen auch nach dem Jahreswechsel 1956/57 weiter. Nach wie vor dokumentierten die Ermittler jeden Fall nicht nur mit ihren schriftlichen Berichten, sondern hielten die Einritzungen auch fotografisch fest. Sogar ein beschriebenes Linoleumstück wanderte in die Ermittlungsakten.

Die Ermittler der Transportpolizei hatten inzwischen festgestellt, dass sich die Aktionen vor allem auf die Bahnstrecke zwischen Bernau und Teltow konzentrierten. Zeitweise wurden Jugendliche, die täglich zu einer Berufsschule in Lichterfelde pendelten, verdächtigt, doch auch der Einsatz von Polizeikräften, die im  Januar mehrfach rund um die Uhr auf den betreffenden Streckenabschnitten unterwegs waren, konnte das "schändliche Treiben" nicht beenden.

Im Blickfeld der Staatssicherheit

Schließlich war es wohl die immer intensivere Beobachtung der S-Bahn-Züge, die die Serie der Protestaktionen  beendete. Am Morgen des 16. Februar 1957 bemerkte ein Mitarbeiter des Reichsbahnwachdienstes einen Mann, der am Bahnhof Teltow einen "ordnungsgemäßen" S-Bahn-Waggon bestieg. Als der Zug am Anhalter Bahnhof ankam, war der betreffende Waggon, in den sonst niemand mehr eingestiegen war, mit einer "Hetzlosung" beschrieben. Am Bahnhof Friedrichstraße nahm die Transportpolizei deshalb den Mann fest. 

Der 27-jährige Teltower Helmut V. gab seine Taten, die er überwiegend mit einem "kombinierten Spannungsprüfer mit Schraubenzieher" durchgeführt hatte, schon in der ersten Vernehmung zu. Er erklärte, dass "Freie Wahlen der einzig richtige Weg zur Herstellung der Einheit Deutschlands" seien. Zehn Tage später erläuterte er den Vernehmern, der ungarische Aufstand habe ihn zu seinen Taten animiert. Seiner Ansicht nach habe es sich bei den Ereignissen in Ungarn "nicht um einen konterrevolutionären Putschversuch" gehandelt und die Niederschlagung des Aufstandes sei ein "machtpolitischer Gewaltakt" gewesen.

Für das MfS bekamen die Protestaktionen V.s zusätzlich dadurch Gewicht, dass V. wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Forschungsinstituts der Akademie der Wissenschaften war. Man befürchtete, in V.s Umfeld habe sich eine oppositionelle Zelle gebildet. Für die Vernehmer des MfS dürfte sich dieser Eindruck bekräftigt haben, als sich vier Professoren der Humboldt-Universität mit der Bitte um "mildernde  Umstände" an die Staatsorgane wandten. Doch das MfS konnte erreichen, dass das ZK der SED, vertreten durch Hermann Matern, die Professoren auf Linie brachte: Die Akademie entließ V., die  Professoren zogen ihre Unterschriften unter dem Schreiben zurück und ein weiterer Wissenschaftler sagte zu, auf V.s Mitwirkung an einer Festschrift für einen Professorenkollegen zu verzichten.

Konsequenzen für den Urheber der Losungen

Am 17. Mai 1957 wurde V. "wegen fortgesetzter schwerer Sachbeschädigung und wegen Staatsverleumdung" zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. In seinem Urteil ging der Richter auch auf die Eintragungen ein, die V. während des Ungarn-Aufstandes in seinem Taschenkalender notiert hatte. "Sowjets greifen Ungarn an! Verrat!!" hieß es dort beispielsweise am 4. November 1956.

Da sich V. in der Haft widerspenstig zeigte, musste er die volle Strafe absitzen. Auch ein Schreiben seiner Eltern an den Generalstaatsanwalt, in dem sie unter anderem Rosa Luxemburgs berühmten Satz "Die wahre Freiheit ist ja immer die Freiheit der Andersdenkenden" zitierten, konnte daran nichts ändern. Die Auswirkungen der Inhaftierung V.s schilderte seine Ehefrau in einem Schreiben an den DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck.

„Unser Kind war gerade zwei Jahre alt, als es vergeblich Tag für Tag auf den Papa wartete, und noch heute fragt der Junge täglich, wann er nun wieder mit seinem Papa spielen könne. Infolge des großen Kummers und der plötzlichen Aufregung [...] hatte ich am 18. März 1957 eine Fehlgeburt. Die Trennung von meinem Mann und die Hergabe des so freudig erwarteten Kindes haben mich psychisch und physisch unsagbar erschüttert [...].“

Helmut V.s Ehefrau in einem Schreiben an den DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck

Publikation zur Serie

Publikation

Verschluss-Sachen

Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit

Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit "Hetzbuchstaben", ein heimlich kopierter Wohnungsschlüssel - das sind unerwartete Fundstücke aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.