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Beweisstück in einem Fall von Mobbing gegen ein SED-Mitglied in einem Betrieb

"Puckelrussisches Hängebauchschwein"

Dicke Luft im VEB Betonwerk Berlin-Grünau: Der bei den Kollegen unbeliebte Willi S. findet eine Metallschiene auf seinem Spind. "Puckelrussisches Hängebauchschwein" steht darauf. Die ungewöhnliche Beleidigung ruft die Stasi auf den Plan. Denn S. ist SED-Mitglied, und "puckelrussisch" weckt die Angst vor "antisowjetischen" Einstellungen in dem Betrieb.

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Video zum Fundstück

Welches Motiv die Ehefrau des Elektrikers Willi S. hatte, bei ihrer Arbeitsstelle, dem Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte, von den Sorgen ihres Mannes in seinem Betrieb, dem VEB Betonwerk Berlin-Grünau, zu erzählen, ist in den Akten des MfS nicht überliefert. Ob sie also voller Empörung von der Beleidigung berichtete, die ihrem Mann im Betrieb widerfahren war, oder belustigt ihren Kollegen in der Pause da-von erzählte oder ob sie gar auf Anhieb eine politische Brisanz zu erkennen glaubte, lässt sich nicht mehr ermitteln. Anfang April 1964 übergab Ursula S. jedenfalls eine Metallschiene mit der auf den ersten Blick rätselhaften Inschrift "Puckelrussisches Hängebauchschwein" ihrem Vorgesetzen, dem Bezirksbürgermeister Kurt Goldberg, der den Gegenstand umgehend an die MfS-Kreisdienststelle Berlin-Mitte leitete.

Der Begriff "puckelrussisch", der eine antisowjetische Einstellung des Urhebers vermuten ließ, und die Behauptung, der Betrieb setze sich "zum größten Teil aus Vorbestraften und anderen negativen Elementen zusammen", dürfte das Interesse des MfS geweckt haben. Umgehend begann es mit seinen Ermittlungen. Allerdings war der Fall zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend aufgeklärt. Die SED-Parteiorganisation des Betriebs hatte die Hintergründe offengelegt. Trotzdem blieb das MfS keineswegs untätig: IM und inoffizielle Kontaktpersonen wurden zu den Beteiligten befragt und im MfS-Archiv nach bereits Jahre zuvor gesammelten Erkenntnissen recherchiert.

„Die Stasi vermutete hier eine Aktion, die sich gegen die Sowjetunion richtete.“

Dr. Philipp Springer
Historiker beim Stasi-Unterlagen-Archiv

Ziel der Aktion: Ein unbeliebter Kollege

Der 52-jährige Willi S., der von 1960 bis Anfang 1964 als GI "Karl Sommer" Nachbarn und Kollegen für das MfS bespitzelte, arbeitete erst seit August 1963 in dem Betrieb, zuvor war er bei der Volkspolizei, als Schlafwagenschaffner und als Vorsitzender einer Betriebsgewerkschaftsleitung tätig. Als einziges SED-Mitglied seiner Brigade und als Vertrauensmann des FDGB dürfte er vermutlich von Beginn an keinen leichten Stand gehabt haben. Hinzu kam, dass er sich auch sonst keinen Respekt bei den Kollegen erwerben konnte. Dies legt der Bericht des GI "Paul Knappe" nahe: "Zur Charakteristik des Genossen S[…] ist zu sagen, daß er in seiner Person sehr überheblich und arrogant ist. Mit der Arbeitsdisziplin nimmt er es nicht genau, indem er schon das Werk verläßt, während die anderen Kollegen erst die Garderobe aufsuchen. Er hat infolge dieser Eigenschaften als Vertrauensmann sehr schlechten Kontakt zu den Kollegen." Auch dass S. sich weigerte, mit den Kollegen "des öfteren saufen [zu] gehen", dürfte zu seiner Außenseiterrolle beigetragen haben.

Offenbar war sein Verhältnis zu den Brigademitgliedern bald so zerrüttet, dass sich S. häufig Angriffen ausgesetzt sah. So wurde er morgens mit den Worten "Guten Morgen, du Russe" begrüßt – ein Begrüßung, die er keineswegs als Kompliment verstand, sondern mit Drohungen quittierte: "Sollte sich diese Art wiederholen, weiß ich nicht was ich tue, dann müßte ich dir ein paar in die Fresse hauen!"

Diese Auseinandersetzung nahmen der 22-jährige Michael B., der 39-jährige Leonardo K. und offenbar noch ein dritter Kollege zum Anlass, das Metallschildchen herzustellen und an S.s Arbeitsplatz anzubringen. Während einer Parteiversammlung bekannten sie sich schließlich dazu. Sie hätten sich "politisch überhaupt nichts dabei gedacht", noch "irgendwie die S[owjetunion] damit diffamieren", sondern lediglich S. "eins auswischen" wollen.

Das MfS sammelte während seiner Ermittlungen Informationen über die "Täter" und befragte eine Reihe von inoffiziellen Kontaktpersonen: So habe B. "keinen guten Leumund in seiner Wohngegend", sei vor dem Mauerbau "Stammgast in den Kinos" in West-Berlin gewesen, flagge nicht, seine Großeltern seien "streng katholisch" und seine Mutter gebe bei Spendensammlungen nur "ab und zu was",aber "immer erst nach längerer Diskussion".

Die Stasi findet keine "feindlichen Kräfte"

Offenbar kam das MfS aber schließlich doch zu der Einschätzung, hinter dem Metallplättchen verberge sich kein Netzwerk feindlich gesinnter Kräfte. Sechs Jahre dauerte es allerdings noch, bis die Akte zur Archivierung gegeben wurde. Am 12. Dezember 1972 notierte der zuständige Mitarbeiter der Abteilung XVIII/3 der Verwaltung Groß-Berlin des MfS: "In der Zeit nach diesen [!] Vorkommnis sind solche oder ähnliche Dinge in der E[lektro]-Werkstatt nicht wieder in Erscheinung getreten. Die hat sich wesentlich gebessert." Eine "weitere pol-op. Bearbeitung des vorliegenden Materials" sei deshalb nicht erforderlich. Das Schildchen wanderte in die Gegenstandsablage und ermöglicht heute Einblicke sowohl in Arbeitsbeziehungen und Arbeitskonflikte, die stark an den "Eigen-Sinn" in der Arbeiterschaft früherer Zeiten erinnern, als auch in die Rolle von SED und MfS im Betriebsalltag der DDR.

Keine Erklärung liefert die Akte allerdings zum Begriff "Hängebauchschwein", mit dem S. – vermutlich wegen seines Leibesumfangs – beleidigt werden sollte. Die Bezeichnung dürfte Anfang der 1960er-Jahre noch eine sehr junge "Karriere" als Schimpfwort hinter sich gehabt haben. Denn erst wenige Jahre zuvor, am 28. April 1958, hatten erstmals drei Exemplare der grauschwarzen Tiere europäischen Boden betreten – und zwar ausgerechnet in der DDR. Als Geschenk der Vaterländischen Front der Volksrepublik Vietnam waren die kleinen Schweine gemeinsam mit einigen anderen Tieren aus dem kommunistischen Land in die DDR gekommen – begeistert empfangen von großen Teilen der Wismarer Bevölkerung, wie die Berliner Zeitung notierte. Fortan waren die Hängebauchschweine in Berlin eine "Tierpark-Sensation ersten Ranges" und zudem Symbol der propagierten Verbundenheit zwischen der DDR und dem "sozialistischen Brudervolk" in Vietnam. Zugleich aber ließ sich die Ankunft der neuen Tierart im Ost-West-Konflikt auch als Zeichen für die Überlegenheit des Sozialismus in der DDR inszenieren. So wurden die drei Hängebauchschweine, denen später weitere folgen sollten, zu Spielbällen der Politik. Die Berliner Zeitung meinte sogar, die Tiere könnten "Gesichter schneiden […] wie ein Großbauer, der den Staat um sein Ablieferungssoll beschummeln" wolle. Dagegen wirkte die Beleidigung, die Willi S. über sich ergehen lassen musste, verhältnismäßig harmlos.

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