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Mehrere Zettel aus einer Stasi-Akte. Auf einem der Zettel ist ein Liedtext der Gruppe Fehlfarben abgebildet, auf einem anderen ein Fließtext mit der Überschrift "Einschätzung".

Rätseln über "Fehlfarben"

Detektivspiel beim MfS: Ein Fundstück, eine kleine Gedichtsammlung in einem NVA-Spind, erregte Verdacht beim DDR-Geheimdienst. Sprachanalytischer Aufwand wurde betrieben und eigens ein Germanist beauftragt, der zugleich Stasi-IM war. Er versuchte sich an der Interpretation der Gedichte. Was bei der Stasi keiner wusste: Es handelte sich um einen Liedtext der im Westen bekannten Band Fehlfarben.

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Video zum Fundstück

Experten-IM "Gildemeister" lässt kein gutes Haar an den Texten, die ihm die HA I des MfS – zuständig für die Überwachung der NVA – zur Begutachtung vorgelegt hat. "Gehäuft finden sich abrupt (teils unlogisch) nebeneinanderstehende irritierende Bilder, sprachliche Ungekonntheiten – und wiederholt ist der Text ohne klare, eindeutige Bezüglichkeit", notiert "Gildemeister" Ende Juli 1982 nach der Lektüre der neun "Gedichte". Zwar würden einige "eigene Worte" der beiden Autoren "durch Originalität aufhorchen lassen" und  "bestimmte Kehrseiten der gesellschaftlichen und privaten Wirklichkeit zeigen". – Möglicherweise seien sie darin "auch von Seiten Verantwortlicher der FDJ [...] bestärkt" worden. Doch durch Texte wie "Die Wilde Dreizehn", in denen "das Rebellentum an sich romantisiert" werde, könnten "unreife Persönlichkeiten in unserer Gesellschaft sich zu Opposition usw. angeregt fühlen".

Die Gedichte hatte ein IM bei dem NVA-Soldaten Uwe V. entdeckt, heimlich kopiert und dem MfS übergeben. Die Geheimpolizei bearbeitete V. und einen weiteren Soldaten im Operativen Vorgang "Apostel", da sie insbesondere in den künstlerischen Arbeiten der beiden Männer und ihren Kontakten in Kirchenkreise eine Gefahr für das System sahen. Hinter den Autorennamen "Thomas Schwebel" und "Uwe Bauer" vermutete das MfS – wohl nicht zuletzt wegen der identischen Vornamen des Duos – die beiden bespitzelten Soldaten.

Stasi verkennt Rockband

Mit der Analyse der Texte sahen sich die MfS-Offiziere der HA I jedoch überfordert und baten vermittelt durch Kollegen von der BV Neubrandenburg IM "Gildemeister" um Rat. Bei diesem IM handelte es sich um den Germanisten Otto Teuscher, der schon 1967 vom MfS geworben worden war. Er berichtete insbesondere über das Literaturzentrum in Neubrandenburg und über viele Nachwuchsschriftsteller aus diesem Umfeld.

Doch auch der erfahrene Experten-IM konnte nicht alle Fragen des MfS zu den Texten beantworten. Zwar erkannte er, dass die "Gedichte" "liedhaft angelegt" waren und offenbar noch vertont werden sollten, bestimmte "Formelemente" und "modische Attribute" stammten aus der "Beat-, Rock- und Soulmusik", so IM "Gildemeister". Bei Begriffen wie der "Wilden Dreizehn" – eine Anspielung auf die gleichnamige Seeräuberbande aus dem Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer", die in der Bundesrepublik jedes Kind erkannt hätte – musste er jedoch passen.

Auch die Überschrift "Fehlfarben" verstand der 53-Jährige nicht – zu weit weg waren ihm wohl nicht nur die westliche Popkultur, sondern auch manche Elemente jugendlichen Lebens in der DDR. "Der Begriff Fehlfarben ist aus der Zigarrenindustrie bekannt; er bezeichnet (unerhebliche) Qualitätsminderung der Produkte", schreibt IM "Gildemeister" in seinem Gutachten. "Möglicherweise will das Autorenpaar damit selbstironisch das Unausgereifte der literarischen Versuche bezeichnen; es kann freilich auch sein, daß die Thematik, (die die Fragmente eines Weltbildes ergibt) gemeint ist, in dem Sinne: In der (unsrigen, realen) Welt ist nicht alles vollkommen. Vielleicht soll auch so etwas assoziieren wie: das Abweichende."

„Der Begriff Fehlfarben ist aus der Zigarrenindustrie bekannt; er bezeichnet (unerhebliche) Qualitätsminderung der Produkte.“

Einschätzung der Überschrift "Fehlfarben" durch den IM "Gildemeister" in seinem Gutachten

Tatsächlich handelte es sich bei "Fehlfarben" um eine legendäre westdeutsche Band, die 1979 von Musikern aus der Düsseldorfer Punk-Szene gegründet worden war. Die neun "Gedichte", die IM "Gildemeister" so rätselhaft und recht misslungen erschienen, gehörten zu den Texten der elf Titel, die die Band im Jahr 1981 auf ihrer zweiten Langspielplatte  "33 Tage in Ketten" veröffentlicht hatte. Hinter den Namen Thomas Schwebel und Uwe Bauer verbargen sich keineswegs Pseudonyme, wie das MfS und der IM vermuteten. Vielmehr hatten die beiden Musiker als Gitarrist bzw. Schlagzeuger zu den Gründungsmitgliedern der Band gehört und zahlreiche Songtexte geschrieben.

Als Duo texteten die beiden auch den Titel "Imitation of life", der dem IM wie die anderen "Gedichte" als Thermokopie in schlechter Qualität vorlag, auf der manche Worte nachträglich besser lesbar gemacht worden waren. Der Neustrelitzer Germanist las, da er ja den eigentlichen Kontext nicht kannte, den Text als Kommentar zur DDR-Gesellschaft und schuf damit unabsichtlich eine vielschichtige Quelle

"Der Liedinhalt umschreibt [...] Kriterien der Lebensführung eines Sich-Abseits-Haltenden. Der Betreffende wird direkt angesprochen; da sich kaum jemand in unserer Gesellschaft als Adressat vorkommen dürfte, ist die Wirkung [...] mehr im Zusammenhang mit zupackender Musik zu sehen [...]. [Ä]ngstlicher Konformismus [ist] für die Autoren gleichbedeutend mit dem Abseitsstehen [...]. Man könnte schlußfolgern, daß sie den gesellschaftlich Aktiven, dabei kritisch Unbequemen fordern. Aber das Problem liegt doch komplizierter. Die Autoren haben nämlich ein gewisses Verständnis für die attackierte Feigheit. [...] Das Lied macht das gewöhnliche Leben verächtlich und deshalb auch denjenigen, der sich angleicht und sich - gegenüber den Unzufriedenen! - abseits hält. Man geht wahrscheinlich nicht gänzlich fehl, wenn man dieses Lied für eine Art Aufruf zum Nonkonformismus (= zu einer sich artikulierenden Gegnerschaft zu Biederkeit, Einfachheit, Geradlinigkeit usw.) hält."

Zwei DDR-Soldaten im Auftrag des "Feindes"

IM "Gildemeister" dürfte damit vermutlich tatsächlich einen der Gründe beschrieben haben, aus denen sich das Interesse des Soldaten Uwe V. und anderer junger DDR-Bürger an solcher Musik speiste. Das MfS scheint mit dem siebenseitigen Gutachten allerdings nicht wirklich zufrieden gewesen zu sein. In dem Begleitschreiben, das die Abteilung XX der BV Neubrandenburg an ihre Kollegen von der HA I sandte, wird darauf verwiesen, dass die "Gedichte nach Auskunft des Experten-IM erst nach ihrer Vertonung die konkreten Wirkungsabsichten erkennen lassen".  Trotzdem war man der Meinung: "Unseres Erachtens sind die Texte objektiv geeignet, um negativ-feindliche Wirkungen zu erzielen." Die Bespitzelung der beiden Soldaten konnte weitergehen.

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Verschluss-Sachen

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Eine Streichholzschachtel mit vermeintlichem Urangestein, ein Briefumschlag mit "Hetzbuchstaben", ein heimlich kopierter Wohnungsschlüssel - das sind unerwartete Fundstücke aus dem Archiv des Ministeriums für Staatssicherheit.