Direkt zum Seiteninhalt springen
Akten im Stasi-Unterlagen-Archiv

SED und Stasi zum Reformplenum der KPdSU im Januar 1987

Der Reformpolitik Gorbatschows trat das SED-Regime mit zunehmender Ablehnung entgegen. Der Parteitag der Sowjetkommunisten Anfang des Jahres 1987, auf dem Gorbatschow den neuen strategischen Kurs von "Glasnost" und "Perestroika" herausstellte, führte erstmals zu erheblichen Unstimmigkeiten zwischen der SED-Führung und den sowjetischen Reformern. Während SED-Generalsekretär Honecker ein tiefes Misstrauen gegen den im Westen gefeierten "Erneuerer" des Sozialismus hegte, war Gorbatschow über die Zurückhaltung in Ost-Berlin und die Unfähigkeit, sich dem historischen Wandel zu stellen, verärgert.

Auf der Plenartagung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (ZK der KPdSU) vom 27./28. Januar 1987 übte Generalsekretär Gorbatschow in seiner Rede "Über die Umgestaltung und die Kaderpolitik der Partei" scharfe Kritik an seinen Vorgängern und der politischen und ökonomischen Stagnation der 70er und der beginnenden 80er Jahre. Die Reformen wurden auf das politische System ausgeweitet und die politische Entmündigung der Gesellschaft durch den Einparteienstaat damit in Frage gestellt (Gorbatschow: "Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen"). Das Parteiorgan "Neues Deutschland" (ND) druckte die Rede – wie viele kritische Aussagen Gorbatschows – nicht im vollen Wortlaut, sondern in einer verharmlosenden Zusammenfassung.

In Ost-Berlin sah man sich auf dem richtigen Weg und war der Meinung, dass die Sowjetunion mit ihrem Reformkurs lediglich das nachhole, was die DDR seit den 70er Jahren praktiziere. Auf klare Ablehnung stieß die umfassende Selbstkritik des sowjetischen Regimes und der KPdSU. Die SED-Führung sah keinen Anlass zur Selbstkritik.

Für den Partei- und Sicherheitsapparat wurde es nun immer wichtiger, die Stimmung in der Bevölkerung auszuloten. Er befürchtete eine Weiterverbreitung der Reformideen Gorbatschows:

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

SED-Generalsekretär Erich Honecker reagierte auf das Plenum, indem er in seiner Rede vor den Ersten SED-Kreissekretären am 6. Februar 1987 die Ausführungen Gorbatschows überhaupt nicht erwähnte. Stattdessen mahnte er: "Die Kommunisten sind verpflichtet, Angriffen auf die Politik der Partei, auf den sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern entschieden entgegenzutreten […]."

In ähnlicher Weise sprach sich Stasi-Chef Mielke für ein entschiedenes Vorgehen gegen den Klassenfeind und gegen oppositionelle Gruppen aus, um ein Übergreifen des "neuen Denkens" auf die DDR zu verhindern (BStU, MfS, BdL/Dok, Nr. 8339).

Dass solche Befürchtungen realistisch waren, davon zeugen die Stasi-Berichte über die Reaktionen der Bevölkerung.

Die Stasi musste registrieren, dass die neue Politik der Offenheit auch bei vermeintlich zuverlässigen Bevölkerungskreisen Anklang fand. Die von ihr registrierten Reaktionen aus der Bevölkerung auf Honeckers Rede bezogen sich vorwiegend auf wirtschaftsleitende Kader und Werktätige. Diese befürworteten weitestgehend, die neue Politik der Offenheit Gorbatschows auch in der DDR, da "nur das konkrete Ansprechen von Mängeln und Missständen" die Voraussetzung "für wirksame Maßnahmen zu deren Beseitigung" bilde. Zahlreiche Bürger verschiedenster Bevölkerungskreise hätten sich – ähnlich dem KPdSU-Plenum – deutlichere Worte gewünscht, zum Beispiel im Hinblick auf die "Schwierigkeiten im Bereich der materiellen Produktion" oder auf "kritikwürdige Verhaltensweisen von Mitarbeitern staatlicher Organe im Umgang mit den Bürgern."

Zwei Monate später wurden für das MfS zwei Grundrichtungen der Meinungsäußerung deutlich:

 

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Ähnlich wie Honecker in seiner Rede am 6. Februar 1987 argumentierte SED-Politbüromitglied und Chefideologe Kurt Hager in einem mit Honecker abgestimmten Interview mit der Hamburger Wochenzeitschrift "Stern" am 9. April 1987. Es erschien unter dem Titel "Jedes Land wählt seine Lösung" und wurde am 10. April im ND nachgedruckt. Darin machte er die Haltung der SED unmissverständlich klar. Die DDR sei nicht verpflichtet, alles, was in der Sowjetunion geschehe, zu kopieren und er stellte die rhetorische Frage: "Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?"

Bereits am folgenden Tag wies Gorbatschow diesen Affront anlässlich einer Rede in Prag zurück. Daraufhin wurde die Zensur auf Verlautbarungen der KPdSU-Führung ausgeweitet. Im Oktober 1987 erhielt Stasi-Chef Erich Mielke folgenden Beschluss des SED-Politbüros: "Reden von Genossen der KPdSU werden in Zukunft auszugsweise oder zusammengefasst veröffentlicht".