Direkt zum Seiteninhalt springen
Beitrag über Karl von Kraus in der DDR Revue.

Vom V-Mann der SS zum Stasi-Spitzel

Jahrelang trat der Arzt Karl von Kraus als Propagandist des DDR-Gesundheitswesens auf. 1962 wurde er von seiner NS-Vergangenheit eingeholt. Die Stasi hatte sich dafür nicht wirklich interessiert.

Zum Inhalt springen

Am 24. Juli 1962 versetzte eine Meldung des West-Berliner Rundfunksenders RIAS die Stasi in Alarmbereitschaft. Es ging um Karl von Kraus, der sich nach seiner Übersiedlung nach Dresden zum Propagandisten des Gesundheitswesens der DDR aufgeschwungen hatte und den seine NS -Vergangenheit nun einholte. Laut RIAS -Meldung sei von Kraus nicht nur Mitglied in der SA , der SS und dem Lebensbornverein gewesen, sondern habe im Reichssicherheitshauptamt "Tür an Tür" mit dem Organisator des Holocaust, Adolf Eichmann, gearbeitet.

Zwar bestritt von Kraus die erhobenen Vorwürfe vehement, aber allein die Vorstellung, dass irgendetwas aus der RIAS-Meldung der Wahrheit entsprechen könnte, alarmierte die Stasi. Erst einen Monat zuvor war Eichmann in Jerusalem hingerichtet worden. Der Prozess gegen ihn hatte die Weltöffentlichkeit bewegt wie kein anderer seit den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen. Dass ein möglicher Kriegsverbrecher in der DDR Karriere machen konnte, widersprach dem offiziellen antifaschistischen Selbstverständnis der DDR und bot der "Westpresse" Angriffsflächen. Für die Staatssicherheit ergab sich daraus die Notwendigkeit genauer in der braunen Vergangenheit von Kraus' nachzuforschen.

Das Bild zeigt Karl vonm Kraus auf einem Passfoto.

NS-Vergangenheit war bekannt

DAs Bild zeigt den Aktendeckel des Operativen Vorganges "Hippokrates" zu Karl von Kraus. Er ist beschriftet mit: "Operativ-Vorgang Nr. 1449/60, Nicht gesperrt, Beginn: 15.6.1960"

Die für Innere Sicherheit zuständige Hauptabteilung V der Staatssicherheit der DDR begann zu rotieren. Suchzettel durchliefen die Abteilungen und Bezirksverwaltungen der Stasi. Und tatsächlich: Karl von Kraus war in den Speichern der Stasi erfasst. Die Bezirksverwaltung Dresden bearbeitete ihn bereits seit zwei Jahren im Operativvorgang (OV) "Hippokrates".

Der Fokus des OV lag zwar auf einem sich nie erhärtenden Spionageverdacht. Ein Blick in die Akte verrät jedoch, dass die Stasi über den Lebenslauf von Kraus' und insbesondere auch über seine NS-Vergangenheit recht gut informiert war. Gezielte Recherchen zu seiner Rolle im "Dritten Reich" unterblieben jedoch – und das, obwohl Verdachtsmomente vorlagen.

Karl von Kraus wurde 1905 in Prag als Sohn des Germanisten Carl von Kraus und seiner Frau Eleonore geboren. In München, wo der Vater zum Ordinarius für Philologie ernannt wurde, erlebte er die Krisenjahre der noch jungen Weimarer Republik an vorderster Front: als Mitglied des rechten Bundes "Oberland" war er 1923 am Hitler-Putsch beteiligt. 1924 nahm er in München ein Medizinstudium auf, welches er 1929 erfolgreich abschloss.

Parallel dazu entwickelte er eine Leidenschaft für das Bergsteigen. Seit 1922 war er Mitglied des Alpenvereins und der Bergwacht, seit 1926 engagierte er sich im Gebirgsunfalldienst des Bayerischen Roten Kreuzes. 1929 nahm er schließlich an der ersten deutschen Himalaya-Expedition auf den dritthöchsten Berg der Welt, den Kangchendzönga, teil.

Das Bild zeigt mehrere Männer bei einer Bergexpedition, die für ein Gruppenfoto posieren. Um sie herum sind einige Ausrüstungsgegenstände zu sehen.

Karriere im Dritten Reich

Nach Deutschland zurückgekehrt war er als Arzt in München und Greifswald tätig. Im November 1933 trat er der Sturmabteilung (SA) bei. Er gehörte zur Leibstandarte der SA und wurde kurz nach seinem Eintritt zum Truppführer ernannt (Sturm 38). 1934 übernahm er schließlich eine hauptamtliche Tätigkeit für die SA. Er ging nach Berlin, wo er für die medizinische Betreuung von Lagern des SA-Hochschulamtes verantwortlich war, die der vormilitärischen Ausbildung der Studenten dienten.

Nach dem sogenannten Röhm-Putsch und der damit verbundenen Entmachtung der SA 1934 wurden diese Lager durch die Wehrmacht übernommen. Von Kraus kehrte 1935 nach München zurück. Er arbeitete fortan als Assistenzarzt in einer Münchner Klinik. Mittlerweile war er verheiratet (1934) und zwei von später vier Kindern waren geboren.

Nach wie vor war von Kraus innerhalb der Bergrettung aktiv. Als 1937 ein Versuch scheiterte, den Nanga Parbat – den sogenannten Schicksalsberg der Deutschen – zu bezwingen, brach von Kraus u.a. zusammen mit dem Major der Gebirgsjäger Paul Bauer zur Bergung der verunglückten Bergsteiger in den Himalaja auf. Die Bergungsaktion wurde von einer breiten medialen Berichterstattung begleitet und verlieh von Kraus in Bergsteigerkreise eine gewisse Prominenz.

Seine Mitgliedschaft im Sicherheitsdienst der SS (SD) wurde der Stasi erst nach der RIAS-Sendung 1962 bekannt. Daraufhin eingeleitete Archivrecherchen ergaben, dass von Kraus als Führer im SD-Hauptamt, dem späteren Reichssicherheitshauptamt, geführt wurde.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Anerkennung erfuhr er nicht nur dort: Wegen seiner "hervorragenden bergsteigerischen Leistungen" wurde er "ehrenhalber" in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und die Schutzstaffel (SS) aufgenommen. Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS , habe ihm schriftlich seine Aufnahme mitgeteilt und ihn zum Untersturmführer befördert, so von Kraus. Später behauptete er in der DDR -Presse, dass er gegen seinen Willen in die SS aufgenommen und damit zum "Faschisten gestempelt" worden sei. Seine (freiwillige) Zugehörigkeit zum "Lebensborn" und weiteren NS -Organisationen wie dem NS -Dozentenbund, der Deutschen Arbeitsfront oder der NS -Volkswohlfahrt konterkarieren diese Aussagen allerdings.

Von Kraus - zur Zugehörigkeit zum SD befragt - gab zu Protokoll, dass er mit der Aufnahme in die SS zugleich in den SD versetzt worden sei. Dort habe er aber keine konkrete Funktion innegehabt. Damit gab sich die Stasi zufrieden.

Dass sich von Kraus bedeckt hielt, hatte seinen Grund: Er hatte zwar nicht, wie der RIAS plakativ verkündet hatte, mit Eichmann zusammengearbeitet, aber seit 1937 war er als V-Mann für den SD im Leitabschnitt München auf dem Gebiet der Volksgesundheit tätig gewesen. Seine Tätigkeit hätte sich allerdings nur "auf ärztliche und bergsportliche Beratung" beschränkt, sei also nie "politisch" gewesen – so sein Anwalt im Entnazifizierungsverfahren. Hauptaufgabe sei die "Abgabe von Berichten" gewesen – Berichten, wie er sie später auch für die Stasi liefern sollte.

Neben dieser parteipolitischen Offensive Ende der 30er Jahre forcierte von Kraus auch seinen beruflichen Aufstieg. 1938 wurde er zum stellvertretenden Landesführer des Deutschen Roten Kreuzes in Bayern ernannt. Im selben Jahr übernahm er ehrenamtlich auch die Leitung der Deutschen Bergwacht. Mit Kriegsbeginn wurde er als Unterarzt, später Stabsarzt bei der 1. Gebirgsjägerdivision der Wehrmacht eingesetzt. 1944 wurde er unabkömmlich (uk) gestellt, d.h. vom Dienst an der Front entbunden. Danach war im Auftrag des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes am Gefangenenaustausch beteiligt. Im Mai 1945 kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde zunächst in Garmisch-Partenkirchen interniert.

Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur SS und zahlreichen anderen NS-Organisationen blieb er bis 1948 in Moosburg und Dachau in Internierungshaft. 1948 wurde er nach erfolgter Entnazifizierung entlassen. Die Lagerspruchkammer Dachau hatte ihn als "minderbelastet" eingestuft und der großen Gruppe der "Mitläufer" zugeordnet.

Nachdem er etwa ein Jahr als Vertretungsarzt in verschiedenen Arztpraxen in München gearbeitet hatte, ließ er sich im Dezember 1949 als Facharzt für Innere Medizin nieder.

Propagandist des DDR-Gesundheitswesens

1958 siedelte von Kraus, der sich als vom Gesundheitssystem und den sozialen Verhältnissen in der BRD enttäuscht zeigte, nach Dresden über. In der Poliklinik am Sternplatz wurde der Facharzt von Kraus mit offenen Armen empfangen, was angesichts der massenhaften Flucht von Ärzten aus der DDR in die BRD nicht überrascht. Die Sächsische Zeitung und das Neue Deutschland berichteten mehrfach über den "fortschrittlichen Arzt Karl von Kraus" der sich aus "Gewissensnot" für das bessere Deutschland entschieden habe und vom Nationalsozialismus geläutert sei. "Hippokrates" wurde zum Propagandisten des DDR-Gesundheitswesens.

Dabei war von Kraus keineswegs das, was man als tadellosen Arzt bezeichnen würde. Er kam betrunken zur Arbeit, wies bestellte Patienten ab, ließ Hausbesuche ausfallen und leistete sich "elende fachliche Schnitzer". Vor diesem Hintergrund äußert die Stasi im September 1960 sogar den Verdacht, dass von Kraus "Schädlingstätigkeit auf dem Gebiet des Gesundheitswesen durchführt". Für von Kraus hatte das alles keine beruflichen Konsequenzen. Er gab noch 1962 ein Fernsehinterview über seine ärztliche Tätigkeit. Nach der RIAS-Sendung war die Nachsicht der Stasi allerdings vorbei. Die Zentrale in Berlin schob weiteren Interviews einen Riegel vor.

Anfang 1963 ordnete die Bezirksverwaltung der Stasi in Dresden über den Kreisarzt schließlich seine Versetzung in das Krankenhaus Friedrichstadt an. Vermutlich wollte die Staatssicherheit von Kraus unter Aufsicht stellen. Weitere Konsequenzen hatte er trotz fachlicher Mängel und NS-Vergangenheit jedoch nicht zu fürchten. Noch im selben Jahr beschloss die Stasi, ihn als Geheimen Informator (GI), den Vorläufern der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), zu werben.

Das Bild zeigt ein Dokument: Die Hauptabteilung V schreibt an die Bezirksverwaltung Dresden, dass Karl von Kraus keine weiteren interviews geben darf.

Durch seine Zugehörigkeit zur "medizinischen Intelligenz" und seine persönlichen Kontakte zu Mitarbeitern des Zentralinstituts für Kernforschung in Rossendorf war er ein attraktiver Zuträger. Seine NS-Vergangenheit spielte keine Rolle. Von Kraus berichtete fortan unter dem Decknamen "Sternberg" über seinen langjährigen Bergsteigerfreund Bauer ebenso wie über seine Kollegen der Poliklinik am Sternplatz und seine Bergsteigerkollegen des SC Einheit.

Dokument in der Stasi-Mediathek ansehen

Aller vier bis sechs Wochen traf sich von Kraus mit einem Stasi-Mitarbeiter in einer Konspirativen Wohnung (KW). Er erschien regelmäßig zu den Treffs, seine Berichte fertigte er selbst an. Die Stasi kam schließlich zu der Einschätzung, dass er "begriffen hat, wie er uns unterstützen kann."

Im Dezember 1967 beendete die Stasi die Zusammenarbeit mit von Kraus. Sie hatte ihr Interesse an ihm verloren, da er krankheitsbedingt nicht mehr in seinem Beruf arbeiten konnte. 1968 starb Karl von Kraus in Dresden.

"Aus dem Schatten Heinrich Himmlers in den Schatten Erich Mielkes"

Aus den überlieferten Akten wird deutlich, dass sich die Stasi für von Kraus‘ NS-Vergangenheit nicht wirklich interessierte. Die MfS-Mitarbeiter verhinderten Nachforschungen zwar nicht gezielt, forcierten sie jedoch auch nicht. Die Geheimpolizisten sahen über von Kraus‘ Vergangenheit hinweg, auch weil er sich öffentlich als vom Nationalsozialismus geläuterter Antifaschist gab. Darüber hinaus trat er als Propagandist des DDR-Gesundheitswesens auf und arbeitete in einem Berufsfeld, das besonders stark von der Fluchtbewegung Richtung Westen betroffen war.

Vielleicht war man nach dem offensiv gezeigten Willen zur Entnazifizierung und Reinigung der Gesellschaft Ende der 50er Jahre sogar ein stückweit bereit, ehemalige Nationalsozialisten wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sofern sie für diese von Nutzen waren – sei es als Arzt, Propagandist oder IM.

Von Kraus konnte sich letztlich in zwei totalitären Systemen behaupten und war als Spitzel zugleich Teil des Repressionsapparates. Er trat tatsächlich, wie es der RIAS formulierte, "aus dem Schatten Heinrich Himmlers in den Schatten Erich Mielkes" über.