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MfS-Lexikon

Volksaufstand im Juni 1953 und das MfS

Synonym: Volksaufstand des 17. Juni 1953

Vom 12. bis 21. Juni 1953 kam es in über 700 Städten und Gemeinden zum Volksaufstand in der DDR. Durch den Einsatz sowjetischer Truppen wurde der Aufstand niedergeschlagen.

Seit Sommer 1952 hatte sich die Lage in der DDR zusehends verschärft: Der forcierte Aufbau des Sozialismus bedingte auch eine einseitige Wirtschaftsentwicklung zugunsten der Schwerindustrie und zu Lasten der Verbrauchsgüterindustrie. Weite Teile der Bevölkerung litten unter Repressionen, viele Menschen wurden aus politischen Gründen inhaftiert.

Gegen selbstständige Handwerker, Bauern und Händler ging die SED ebenso vor wie gegen die Jugendarbeit der evangelischen Kirchen. Die Fluchtbewegung nahm dramatisch zu. Der ohnehin niedrige Lebensstandard der Menschen wurde weiter rapide abgesenkt, nicht zuletzt durch die Erhöhung der Arbeitsnormen in den Betrieben, die de facto Lohnkürzungen gleichkamen.

Bereits seit Ende 1952 häuften sich Streiks, die im Mai und Anfang Juni 1953 in allen Branchen aufflammten. Die sowjetische Führung schritt ein und verordnete den "Neuen Kurs", den die SED-Machthaber offiziell am 9./10. Juni 1953 verkündeten. Kleinlaut räumten sie ein, Fehler gemacht zu haben, und versprachen, ihre bisherige Politik zu revidieren. Die Gesellschaft sah in dieser überraschenden Verlautbarung mehrheitlich eine Bankrotterklärung des Systems. Als es am 16. und 17. Juni 1953 in Ostberlin zu Demonstrationen und Streiks kam, an denen sich ca. 150.000 Menschen beteiligten, sprang der Revolutionsfunke auf das gesamte Land über.

Literatur

  • Engelmann, Roger; Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953. Göttingen 2005.
  • Fricke, Karl Wilhelm; Engelmann, Roger: Der "Tag X" und die Staatssicherheit. 17. Juni 1953: Reaktionen und Konsequenzen im DDR-Machtapparat. Bremen 2003.
  • Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953 - Volksaufstand in der DDR. Ursachen - Abläufe - Folgen. Bremen 2003.

Christian Halbrock, Ilko-Sascha Kowalczuk

Die dabei erhobenen Forderungen gingen weit über rein betriebliche Belange hinaus. Vielerorts ging es den Aufständischen um Freiheit, Demokratie und die Wiedervereinigung. Sie hatten jedoch keine Chance, weil die sowjetische Besatzungsmacht eingriff: Etwa 15.000 Menschen wurden festgenommen, 2.500 verurteilt, mehrere Teilnehmer willkürlich zur Abschreckung exekutiert. Zehntausende flohen in den Westen, und in den Apparaten von SED und Staat fand anschließend eine großflächige Säuberung statt.

Unmittelbar nach dem Aufstand kritisiert die SED-Führung, dass das MfS weder die Anzeichen für den bevorstehenden "Putsch" wahrgenommen habe, noch hätte es in den entscheidenden Tagen adäquat zu reagieren gewusst. Tatsächlich war das MfS vor dem Sommer 1953 noch mit dem Aufbau seiner Strukturen beschäftigt. Zudem war die Arbeit auf die Verfolgung von "Agenten" und "Feinden" konzentriert, ein flächendeckendes und systematisches Berichtswesen über die Stimmungslage im Land existierte noch nicht.

Hektisch zusammengestellte, meist sehr kleine operative Einsatzgruppen agierten unkoordiniert und versuchten, "Rädelsführer" festzunehmen. Es kam durch die Aufständischen zu einer Reihe von Besetzungen öffentlicher Gebäude, zur Befreiung von Häftlingen und zur Erstürmung von fünf Kreisdienststellen (Bitterfeld, Merseburg, Jena, Görlitz, Niesky). Unter den Toten und Verwundeten des Aufstands befanden sich auch einige wenige MfS-Mitarbeiter (ein Toter in Magdeburg). In Rathenow kam es zu einem Lynchmord an einem Mann, der als MfS-Spitzel galt.

Noch während der Volkserhebung setzte die größte Festnahmewelle in der Geschichte der DDR ein. Sie erstreckte sich über mehrere Wochen. Bis zum 6. Juli 1953 verhafteten das MfS und die Polizei etwa 10.000 Personen. In den nachfolgenden Monaten kamen nochmal etwa 5.000 hinzu.

Die Staatssicherheit hat entgegen späteren Urteilen in den Tagen des 17. Juni nicht vollkommen versagt. Ihre Mitarbeiter agierten entsprechend den Möglichkeiten und Voraussetzungen. Sie zeigten sich zwar ebenso überrascht von den Ereignissen wie andere Bevölkerungsgruppen, aber im Gegensatz etwa zur Volkspolizei und zu den meisten Einheiten der Kasernierten Volkspolizei (KVP) erfasste das MfS insgesamt schnell die Lage und handelte entsprechend.

Dass es zu den Erstürmungen von fünf MfS-Kreisdienststellen kam, lag sowohl an der schlechten Personalausstattung in diesen Kreisdienststellen als auch - aus MfS-Sicht - am Fehlverhalten der verantwortlichen Offiziere. Das MfS hat als Institution auch deshalb nicht versagt, weil es einen solchen Aufstand nicht vorhersehen konnte.

Wenn man davon absieht, dass MfS-Mitarbeiter etwa in Magdeburg, Görlitz, Niesky, Jena, Bitterfeld oder Merseburg während der Volkserhebung den ihnen gestellten Aufgaben nicht gerecht werden konnten, so zeigt sich demgegenüber, dass die MfS-Leitung in der Lage war, sehr schnell auf die Ereignisse zu reagieren. Etwa 5.000 Verhaftungen in den ersten Tagen deuten an, dass der MfS-Führung bewusst war, dass schnelles und hartes Durchgreifen am ehesten geeignet schien, sicherheitspolitisch den Status quo ante herzustellen.

Dabei war sie vom Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht beeinflusst, die nicht nur schnell viele Verhaftungen vornahm, sondern ebenso schnell Urteile verhängte. Staatssicherheit, Polizei und Justizorgane arbeiteten unter Anleitung der SED sowie der sowjetischen Besatzungsmacht eng zusammen. Der stellv. MfS-Minister Erich Mielke wies per Blitzfernschreiben am Morgen des 18. Juni 1953 alle MfS-Dienststellen an: "Energisches Handeln erfordert die besondere Lage. Hetzer, Provokateure, Saboteure, Rädelsführer und andere Elemente, die sich hierbei besonders hervortaten, sind sofort festzunehmen. Über die Festgenommenen ist täglich Meldung zu erstatten."

In der Nacht vom 17. zum 18. Juni konstituierten sich in allen Bezirken "Kampfstäbe", die die weitere Niederschlagung des Aufstands und die Verfolgung von Aufständischen unter Leitung von hochrangigen SED-Funktionären anleiteten und koordinierten. Mielke befahl am 19. Juni 1953 vormittags eine mildere Gangart. Demzufolge sollten alle Streikleitungen, die Forderungen wie "Nieder mit der Regierung" oder "Nieder mit der SED" erhoben hatten, sofort und "ohne vorherige Prüfung" verhaftet werden. Demgegenüber sollten Streikleitungen, die nur ökonomische Forderungen aufgestellt hatten, erst nach Überprüfung der einzelnen Mitglieder festgenommen werden.

In den folgenden Wochen und Monaten kam es bis ins Jahr 1955 hinein zu insgesamt etwa 1.800 Urteilssprüchen von DDR-Gerichten, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Volksaufstand standen. Die erste Prozesswelle zog sich von Mitte Juni bis Mitte Oktober 1953 hin. In dieser Zeit sind etwa 1.400 Urteile ergangen. Dabei ist auffällig, dass neben zwei Todesurteilen und drei lebenslänglichen Haftstrafen die Mehrheit der Urteilssprüche entsprechend einer Anweisung Mielkes vom 23. Juni 1953 vergleichsweise verhalten ausfiel.

Das SED-Politbüro beklagte am 23.09.1953, dass es dem MfS nicht gelungen sei, die "Organisatoren der Provokationen" zu entlarven. Am 11.11.1953 räumte der Chef des Staatssicherheitsdienstes Ernst Wollweber auf einer zentralen Dienstkonferenz ein: Wir müssen "feststellen, dass es uns bis jetzt noch nicht gelungen ist, nach dem Auftrag des Politbüros die Hintermänner und die Organisatoren des Putsches vom 17. Juni festzustellen". Diesen Auftrag konnte die Staatssicherheit nicht erfüllen, weil es derartige "Hintermänner" und "Organisatoren" nicht gab.

Zwischen dem MfS und einzelnen Justizeinrichtungen bzw. Justizmitarbeitern kam es insbesondere in den ersten Wochen nach dem 17. Juni mehrmals zu Spannungen. Mehrere Richter weigerten sich, Haftbefehle zu unterzeichnen, weil Beweise für die Schuld der Verhafteten fehlten. Das MfS hielt Hunderte ohne rechtsamtliche Verfügung fest. Obwohl Mielke am 23. Juni angewiesen hatte, dass die Mitarbeiter der Staatssicherheit "nur in besonderen und ganz seltenen Ausnahmefällen" auf die Strafzumessung Einfluss nehmen sollten, wirkten MfS-Offiziere in allen Bezirken auf Richter ein, drakonische Urteile zu verhängen.

Im 2. Quartal 1954 kam es zu einer zweiten größeren Prozesswelle. Die Urteile, die die Gerichte aussprachen, fielen nun durchschnittlich höher aus und waren daran orientiert, die "Drahtzieher" der Ereignisse zu überführen und zu bestrafen. Das MfS hatte diese Prozesse geplant und inszeniert. Der Höhepunkt in dieser "juristischen Aufarbeitung" des Volksaufstandes fand vom 10. bis 14.06.1954 vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR statt. In einem Schauprozess sollte bewiesen werden, dass die vier Angeklagten die "Hintermänner" des "Tag X" gewesen seien.

Trotz der vergleichsweise langen Verhandlungsdauer und monatelanger Vorbereitung konnten dafür keine Beweise erbracht werden. Trotz fehlender Beweise wurden die vom MfS aus Westberlin entführten oder durch List nach Ostberlin gelockten Angeklagten zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

In den folgenden Jahren spielte das Verhalten Einzelner am 17. Juni 1953 in politischen Strafprozessen oft eine Rolle. War jemand am 17. Juni "aufgefallen", konnte dies strafverschärfend zu Buche schlagen. Das MfS behielt die im Umfeld des 17. Juni 1953 festgenommenen Personen jahrzehntelang im Visier. Als sich 1983 der Ausbruch des Volksaufstands zum 30. Mal jährte, überprüften in den einzelnen MfS-Bezirksverwaltungen die Mitarbeiter sämtliche Personen, die im Juni 1953 auffällig geworden waren.

Die wichtigste Phase nach dem Juniaufstand, die die gesamte weitere Geschichte der DDR prägte, setzte mit dem 15. Plenum des ZK der SED, vom 24. bis 26.07.1953, ein. Das Szenarium war dem sowjetischen Vorbild entlehnt. Zuerst brandmarkte Ulbricht einige Mitstreiter aus der engeren SED-Führung. Als Sündenböcke fungierten MfS-Minister Wilhelm Zaisser und der Chefredakteur des "Neuen Deutschlands", Rudolf Herrnstadt, die beide aus dem Politbüro entfernt und sämtlicher Parteifunktionen entbunden wurden.

Durch die Entmachtung von Herrnstadt und Zaisser revitalisierte Ulbricht nicht nur seine persönliche Macht, sondern gab zugleich das Startzeichen für eine Disziplinierungswelle innerhalb der Staatspartei. Die Herabstufung des MfS zum Staatssekretariat für Staatssicherheit (23.07.1953 - 23.11.1955) innerhalb des MdI hing nicht nur mit der Kritik Ulbrichts am MfS zusammen, sondern folgte auch entsprechenden Umstrukturierungen in der Sowjetunion.

Um einen "neuen 17. Juni" zu verhindern, entwickelte die SED-Führung in den folgenden Jahren umfangreiche Sicherungsmaßnahmen. Das MfS, zu dessen Aufgaben nun insbesondere die Aufstandsprävention zählte, wurde massiv ausgebaut. So ordnete die SED am 16.07.1953 die Bildung von Bezirks-, Kreis- und Stadteinsatzleitungen an. Die Bezirkseinsatzleitungen setzten sich aus dem Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, dem 1. SED-Bezirkssekretär, einem beauftragten Offizier der KVP, dem Leiter der Bezirksbehörde der DVP und dem Leiter der BV des MfS zusammen. Damit schuf man ein Instrument, um bei Unruhen schnell, effektiv und operativ handeln und agieren zu können.

Der Volksaufstand von 1953 blieb für die SED die traumatische Erfahrung bis 1989. Mit dem Mauerbau 1961 kam man - die gesellschaftspolitischen Zustände 1960/61 ähnelten denen von 1952/53 - einem neuen Aufstand zuvor.

Als sich am 31. August 1989 die Generalität des MfS zu einer turnusmäßigen Dienstbesprechung bei Minister Mielke traf, ging es um die Krise in der DDR. Die Agonie des Systems war kaum noch zu übersehen. Die MfS-Spitze zeigte sich besorgt. Mielke fragte: "Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?" Der Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Gera, Oberst Dieter Dangrieß, beruhigte seinen Minister: "Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da." Das MfS und ihr Auftraggeber, die SED, irrten sich gehörig.

Ein sowjetischer T-54 Panzer, welcher am U-Bahnhof Stadtmitte in Berlin-Friedrichshain am 17.06.1953 abgestellt worden ist. Im Hintergrund dieses Fotos kann man eine größere Ansammlung von Zivilisten erkennen.