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"17. Juni wäre der bessere Feiertag"

Roland Jahn im Interview mit der Rhein-Zeitung, erschienen am 2. Oktober 2015

Aus der Erinnerung an die gelungene Wiedervereinigung kann Deutschland Kraft schöpfen für neue Herausforderungen wie die Flüchtlingskrise, meint der Chef der Stasiunterlagenbehörde, Roland Jahn. Im Interview erklärt er außerdem, warum er die Wiedervereinigung auch nach 25 Jahren vor allem für ein gelungenes Projekt hält: Ist der 3. Oktober der richtige Feiertag für die Ereignisse von 1989/90?

Jahn: Dieser 3. Oktober 1990, an dem ein Vertrag in Kraft getreten ist, hat wenig zu tun mit den Tagen, an denen die Menschen deutlich gemacht haben, dass sie die treibende Kraft in der Gesellschaft sind. Der Mauerfall am 9. November 1989 ist natürlich das emotionalere Datum, viele sehen im 9. Oktober 1989 den Durchbruch der Friedlichen Revolution in Leipzig. Ich halte den 17. Juni 1953 eigentlich für das wichtigste Datum. Da erkennt man den Aufbruchsgeist der Menschen bereits, es gab aber auch die Niederschlagung des Volksaufstandes. Dadurch wird deutlich, dass Freiheit und Selbstbestimmung nicht selbstverständlich sind. Es wäre besser, den 17. Juni zum gesetzlichen Feiertag zu machen.

Viele vergleichen derzeit die Flüchtlingskrise mit der Herausforderung der Wiedervereinigung. Sehen Sie Parallelen?

Jahn: Wir können doch aus der Vergangenheit viel Kraft schöpfen. Das scheinbar Unmögliche ist möglich, wenn wir es anpacken und es wollen. Deshalb ist es gut, sich daran zu erinnern, vor welchen Herausforderungen Deutschland schon einmal stand, und sich klarzumachen, dass die Herausforderungen auch jetzt wieder groß sind.

Ist die Wiedervereinigung nach 25 Jahren vollendet?

Jahn: Ich bin optimistisch, wenn ich die junge Generation sehe. Wenn ich mit Studenten an der Universität meiner Heimatstadt Jena spreche, dann sagen sie mir, sie kommen aus Bayern und Brandenburg. Sie sprechen nicht mehr von Ost und West. Es ist doch ein schönes Signal, dass ein einheitliches Deutschland gelebt wird. Wenn auch die Älteren lernen, sich allseits mit Respekt vor der Biografie des anderen zu begegnen, dann bin ich guter Dinge, dass wir die Einheit auch leben.

Wie haben sich die Ostdeutschen integriert?

Jahn: Es gibt ja nicht "die Ostdeutschen". Es gibt große Unterschiede zwischen den Lebenswegen. Der ehemalige Parteifunktionär der SED unterscheidet sich deutlich vom Pfarrer der evangelischen Kirche, der Stasi-Offizier vom politischen Häftling. Und dazwischen viele, die ihre ganz eigenen Wege in der Diktatur gesucht haben. Seither ist es vielen Menschen gut gelungen, die neuen Freiräume zu nutzen. Das zeigt sich in der Politik - mit einer Bundeskanzlerin und einem Bundespräsidenten aus den neuen Bundesländern. Die Freiheit macht es möglich, dass die Ostdeutschen sich seit 25 Jahren so entfalten können wie sie wollen.

Experten sehen in den fremdenfeindlichen Übergriffen auf Flüchtlingsheime in Ostdeutschland durchaus ein regionales Phänomen. Ausländerfeindlichkeit habe es auch in der DDR gegeben, sie wurde nur unter den Teppich gekehrt. Bestätigt sich das in den Stasiakten?

Jahn: Ausländerfeindlichkeit gab es im Osten, aber sie wurde vertuscht. Das zeigen die Akten der Staatssicherheit. Es gibt ganz klare Dokumente und auch eine geheime Studie, die schon die Stasi veranlasst hat. Es gibt auch Fotos davon, wie Rechtsradikale der NS-Zeit huldigen. Aber natürlich stehen Gewalttaten in Ostdeutschland nicht für den gesamten Osten. Ich kenne jedenfalls genug Leute, die den Geist der friedlichen Revolution und die Menschenrechte hochhalten. Auch das ist Ostdeutschland. Natürlich muss man betrachten, dass sich Ost und West in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich entwickelt haben. Eine in 70 Jahren gewachsene Zivilgesellschaft kann natürlich Fremdenfeindlichkeit etwas anderes entgegensetzen als eine sich erst seit 25 Jahren entwickelnde Zivilgesellschaft.

Macht die Diktaturerfahrung der DDR die Menschen bis heute anfälliger für rechtes Gedankengut?

Jahn: Man sollte sich hüten zu pauschalisieren. Es hilft doch nichts, den schwarzen Peter zwischen Ost und West hin- und herzuschieben. Nur die konkrete Betrachtung der jeweiligen Situation vor Ort kann helfen, das Übel an der Wurzel zu packen.

Wird genug für Prävention getan?

Jahn: Es muss immer darum gehen, das Bewusstsein für die Demokratie zu stärken. Mit dem Blick auf die Diktatur der DDR können wir unsere Sinne schärfen für die Gestaltung unserer demokratischen Gesellschaft. Gerade junge Menschen können so für die Bedeutung von Menschenrechten sensibilisiert werden.

Wie lange wird Ihre Behörde noch gebraucht?

Jahn: Es geht doch darum, dass es keinen Schlussstrich gibt und die Akten offen bleiben. Forschung und Bildung zu dem Thema müssen auf jeden Fall weitergehen. In welchen Strukturen das bestmöglich organisiert wird, dazu erarbeitet derzeit eine Expertenkommission des Deutschen Bundestages Vorschläge. Das ist ein wichtiges Signal, dass Aufklärung kein Verfallsdatum hat.

Das Gespräch führte Rena Lehmann