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"Aufarbeitung hat kein Verfallsdatum"

Roland Jahn ist seit März dieses Jahres der neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Fragen der Redaktion der 'Märkischen Allgemeinen' über seine neue Tätigkeit, den weiteren Umgang mit Stasi-Akten und die Aufarbeitung in Brandenburg: "Ich finde es schade, wenn ein Minister auf Aufklärung verzichtet"

MAZ: Herr Jahn, gefällt Ihnen Ihr neuer Job noch oder würden Sie lieber wieder als Journalist unterwegs sein?

Roland Jahn: Nein, ich habe die Entscheidung noch zu keiner Zeit bereut. Die Aufgabe macht mir zunehmend mehr Spaß. Weil ich merke, dass es nicht nur darum geht, zurück zu blicken. Für mich ist unsere Behörde eine Schule der Demokratie. Gerade für die junge Generation ist es wichtig zu erfahren, wie Diktatur funktioniert hat.

Sie kommen aus der DDR-Oppositionsbewegung. Hätten sie 1990 geglaubt, dass noch so lange über den Schatten der Stasi geredet wird?

Jahn: Aufarbeitung hat kein Verfallsdatum. Solange es die Menschen bewegt, sollten wir uns damit beschäftigen. Viele sind immer noch aufgewühlt, die Verletzungen der Opfer sind noch nicht geheilt. Täter haben sich größtenteils noch nicht offen zu ihrer Verantwortung bekannt. Es ist noch viel zu tun.

Greift bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit nicht die oftmals einseitige Fokussierung auf das Thema Stasi und IM zu kurz?

Jahn: Ja, die Gefahr ist groß. Denn die Fixierung auf die Stasi macht es schwer, das System der Diktatur insgesamt zu betrachten und zu verstehen. Ich will keine Reduzierung auf Enthüllungen, wer bei der Stasi war. Mir ist es auch wichtig, dass wir uns die Strukturen anschauen, wie der Mechanismus Stasi funktioniert hat. Und, wie der Auftraggeber der Stasi, die SED, gemeinsam mit ihr in den Kreisen und Bezirken der DDR gewirkt hat. Es geht um den Alltag in der DDR.

Brandenburg ist, was die Aufarbeitung betrifft, stärker als andere Länder in den Schlagzeilen. Das Land gilt gemeinhin als Beispiel für unaufgearbeitete Vergangenheit. Ist das nicht übertrieben?

Jahn: Ich würde schon sagen, dass Brandenburg ein paar Jahre verschlafen hat und dass dort manches verdrängt wurde, was jetzt hochkommt. Die jüngsten Beispiele, wie Stasi-Fälle in der Polizei, zeigen, dass Aufarbeitung bitter nötig ist.

Was lief anders als in anderen Ländern?

Jahn: Es gab Anfang der 90er Jahre, stärker als anderswo, in Brandenburg eine Situation der Rechtfertigung, auch von Stasi-Kontakten. Es wurde zu wenig hinterfragt. Zu sehr schwang die Angst mit, ein Amt zu verlieren oder zu scheitern. Es herrschte ein Klima der Vertuschung.

Wer war dafür aus Ihrer Sicht verantwortlich?

Jahn: Da gab es viele. Sicher hat auch der Umgang des ehemaligen Ministerpräsidenten Stolpe mit dem Thema dazu beigetragen.

Der Fall Stolpe wird wieder einmal, diesmal in der Enquetekommission des Landtags, kontrovers diskutiert. Ihre Vorgängerin Marianne Birthler will eine Neubewertung der Stasi-Kontakte des damaligen Kirchenjuristen Stolpe. Sie auch?

Jahn: Ich bin immer dafür, alte Dinge in neuem Licht zu betrachten. Das ist oft erkenntnisreich. Ich würde mir aber auch wünschen, dass sich Herr Stolpe heute nicht nur rechtfertigt, sondern sein Verhalten in der DDR noch einmal neu hinterfragt. Gerade jetzt, wo er nicht mehr im Amt ist, könnte er unaufgeregter damit umgehen.

Stolpes Rolle war die eines Mittlers zwischen Staat und Kirche. War so etwas nicht auch notwendig, um Bedrängten in der DDR zu helfen?

Jahn: Ich habe hohe Achtung vor Herrn Stolpe. Ich habe ihn persönlich in der DDR kennen gelernt. Er hat sich sehr für das, was wir in der DDR-Opposition wollten, eingesetzt und uns sehr geholfen. Aber andererseits hat Stolpe, der in das System der Staatssicherheit eingebunden war, Oppositionelle auch entmündigt. Die Stasi nutzte Personen wie Stolpe für ihre Politik. Das gilt es heute kritisch zu hinterfragen.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die 21 Jahre nach Umbruch und friedlicher Revolution in der DDR das Thema Stasi nicht mehr hören können?

Jahn: Es ist wichtig, DDR-Biografien differenziert zu betrachten. Es ist wichtig, genauer hinzuschauen, warum sich Menschen wie verhalten haben. Und es ist wichtig, Respekt vor dem Menschen zu haben. Ich verurteile niemanden, der sich angepasst hat. Anpassung hatte aber seinen Preis, den oft andere bezahlt haben, manche mit Gefängnis. Darüber gilt es nachzudenken.

Trauen Sie der Enquetekommission des Potsdamer Landtags zu, einen Beitrag zur Aufarbeitung zu leisten?

Jahn: Diese Kommission ist wichtig, aber ich beobachte einen Umgang miteinander, der nicht hilfreich ist. Die Diskussion derzeit ist aufgeregt, engstirnig und meist von parteipolitischen Interessen bestimmt. Wenn ich nach Brandenburg schaue, denke ich manchmal, dort diskutiert man wie zu Anfang der 90er Jahre. Weil so viel unter dem Deckel gehalten wird, entsteht ein Klima, in dem Stasi-Fälle skandalisiert werden können. Ich wünsche mir eine ruhige, sachliche Aufklärung.

Sie haben Brandenburg Hilfe bei der Stasi-Aufarbeitung zugesichert. Doch als jetzt Innenminister Woidke noch einmal seine Schutzbereichs- und Wachenleiter überprüfen wollte, lehnten Sie mit Verweis auf die Rechtslage ab.

Jahn: Wir arbeiten nach dem Stasi-Unterlagengesetz und das besagt, dass zur Zeit nur Behördenleiter und ihre Stellvertreter überprüft werden dürfen. Nur wenn Minister Woidke uns rechtlich fundiert den Nachweis bringt, dass die Schutzbereiche als eigenständige Behörden arbeiten, können wir die Leiter überprüfen. An diesem Problem wird gearbeitet.

In der Frage einer nochmaligen Stasi-Überprüfung von Richtern gibt es unversöhnliche Positionen. Der Justizminister sagt, das sei nicht verhältnismäßig und nur im Verdachtsfall möglich. Die Opposition sieht das anders.

Jahn: Ich finde es schade, wenn ein Minister auf Aufklärung verzichtet.

Aber selbst Brandenburgs oberster Verfassungsgerichtspräsident sagt, das Gesetz rechtfertige keine flächendeckende Überprüfung. Muss man das nicht akzeptieren, auch wenn es mit Blick auf SED-Opfer schwerfällt?

Jahn: Es geht um die Glaubwürdigkeit der Brandenburger Justiz. Aber ich kann dem Justizminister nicht vorschreiben, wie er zu handeln hat. Er muss das selbst verantworten. Für uns stellt sich die Frage „flächendeckend“ nicht. Wir beauskunften Einzelpersonen und im Stasi-Unterlagen- Gesetz steht, wer Richter ist, darf überprüft werden.

Das Gespräch führten Igor Göldner und Henry Lohmar