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Aufklärung hat kein Ende

Roland Jahn im Interview mit dem Bonner General-Anzeiger, erschienen am 13. August 2011

Der Stasi-Unterlagen-Beauftragte Roland Jahn sieht noch lange kein Ende der Arbeit seiner Behörde. Mit Roland Jahn sprachen Holger Möhle und Ulla Thiede.

Bonner General-Anzeiger: Herr Jahn, wenn Sie dieser Tage das Ergebnis einer Umfrage lesen, wonach ein Drittel der Befragten den Mauerbau aus damaliger Sicht "voll" oder "teilweise" richtig fand, was geht Ihnen dabei durch den Kopf?

Roland Jahn: Offenbar wirkt bei diesem Drittel der Traum vom Sozialismus immer noch nach. Was wiederum zeigt, wie wichtig unsere Arbeit ist, die Diktatur aufzuarbeiten. Ich unterstelle dabei nicht, dass dieses Drittel 1961 immer im Blick gehabt hat, was die Mauer über 28 Jahre bedeuten würde. Neulich habe ich noch mal einen Aufsatz von Wolf Biermann nachgelesen, den dieser zum 40. Jahrestag des Mauerbaus verfasst hat. Was glauben Sie, was da drin steht? Biermann zog als junger Student durch die Ost-Berliner Wohnviertel, um den Mauerbau zu rechtfertigen. Jener Biermann, der die DDR und die Mauer später scharf kritisierte. Nicht nur Kader, auch Intellektuelle haben den Mauerbau damals verteidigt. Im Interesse eines sozialistischen Staates, den sie aufbauen wollten.

Das hat dann ja auch prima geklappt!

Jahn: Aber ganz anders, als es der große Teil der Bevölkerung und die Kritiker des SED-Staates gewollt haben. Anhänger der Partei Die Linke verteidigten in der Umfrage mit Abstand vor allen Anhängern anderer Parteien den Mauerbau.

Was lehrt das?

Jahn: Die Linken haben insgesamt einen Nachholbedarf in Sachen Aufarbeitung. Der Unrechtsstaat wird negiert und die DDR schöngeredet. Mir geht es nicht darum, die DDR schlechtzureden. Auch in meiner Jugend schien die Sonne. Ich hatte auch ein schönes Leben in der DDR, Familie, Freunde, Heimat. Aber das war nicht wegen der Diktatur, sondern trotz der Diktatur.

Mehr als 20 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Auswüchse des Repressionsapparates der Stasi noch immer nicht aufgearbeitet. Wie lange muss die Stasi-Vergangenheit noch durch eine eigene Behörde durchforstet werden?

Jahn: So lange die Gesellschaft diese Behörde braucht. Ein Datum ist aus heutiger Sicht nicht abzusehen. Alle Spekulationen über das Ende der Stasi-Unterlagenbehörde waren bislang falsch. Wir sind Dienstleister für die Gesellschaft. Die Nachfragen, 88 000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht allein im letzten Jahr, zeigen jedenfalls nicht, dass das Interesse an der Stasi-Aufarbeitung nachgelassen hätte. Sollte der Bundestag im Herbst beschließen, dass der öffentliche Dienst auch weiterhin auf seine Stasi-Vergangenheit überprüft und der Personenkreis womöglich erweitert wird, dann braucht es dazu die Stasi-Unterlagenbehörde. Bescheide herausgeben, das kann kein Archiv machen.

Ihre Vorgängerin Marianne Birthler hatte die Stasi-Unterlagenbehörde "mindestens bis 2019" gefordert gesehen.

Jahn: Wie Aufarbeitung organisiert wird, entscheidet der Bundestag. Aber eines ist sicher: Aufklärung hat kein Ende. Das ist eine Stütze der demokratischen Gesellschaft. Hier geht es ja nicht nur um einen Blick zurück. Wir machen Diktatur begreifbar, das ist eine Investition in eine demokratische Zukunft.

Sie waren selbst Opfer der Stasi und kamen in Haft, weil Sie eine polnische Fahne mit dem Schriftzug der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc an ihrem Fahrrad befestigt hatten. Kann es im Unrecht ein Recht geben?

Jahn: Die DDR war ein Unrechtsstaat, weil dieses Unrecht von Staats wegen organisiert und gewollt war. In einem Rechtsstaat kann es auch Unrecht geben, aber dort sorgt der Rechtsstaat in aller Regel dafür, dass dieses Unrecht beseitigt wird. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit hat die Diktatur der DDR doch verhöhnt. Die Stasi hat mir in Untersuchungshaft gesagt: "Die polnische Fahne an Ihrem Fahrrad, das war doch nur Kompott. Sie wissen doch genau, warum Sie hier sitzen!" Ich hatte zuvor in Freiheit auf einen Todesfall in der Untersuchungshaft der Stasi aufmerksam gemacht. Seither war ich denen ein Dorn im Auge. Und irgendwann war für die das Maß voll. Der Stasi-Vernehmer hat mir gesagt: "Es kommt nicht darauf an, wer Recht hat, sondern wer die Macht hat. Und die haben wir!"

Sie haben gesagt: "Wer den Unrechtsstaat kennt, kann den Rechtsstaat gestalten." Was war das herausragende negative Merkmal im autoritären Regime der DDR?

Jahn: In der DDR war die Willkür des Apparates ein gewaltiges Instrument, Menschen zum Stillhalten zu bewegen. Man wusste nie, was die Konsequenzen waren. Alles, was ich getan habe, konnte unmittelbare Auswirkungen auf mein Umfeld haben. Mein Vater hat zu mir gesagt: "Musst Du jetzt schon wieder Deine Meinung sagen? Du gefährdest meine berufliche Existenz und das Glück unserer gesamten Familie." Das bedrückt mich bis heute. Meinem Vater haben sie das ganze Lebenswerk gestohlen, weil sein Sohn ein Opponent war. Weil ich ins Gefängnis kam und ausgebürgert wurde, wurde er aus dem Fußballklub Carl Zeiss Jena...

...damals einer der Topklubs der DDR und für kurze Zeit auch in Europa...

Jahn: ...herausgeschmissen. Und diesen Fußballklub, ganz besonders die Jugendabteilung, hatte mein Vater mit aufgebaut. Am Ende seines Lebenswerkes herausgeschmissen zu werden wegen der politischen Aktivitäten des Sohnes, dies beschreibt diese Diktatur.

Dass zahlreiche ehemalige Stasi-Spitzel heute etabliert leben und gleich nach der Wende als Versicherungsmakler oder Autohausinhaber die Vergangenheit erfolgreich hinter sich gelassen haben, löst bei Ihnen was aus?

Jahn: Freude.

Wie bitte?

Jahn: Ja, Freude darüber, dass die Freiheit für alle gilt. Dass wir nicht so sind, wie sie waren. Dass wir uns nicht rächen an ihnen, weil sie uns den Rechtsstaat nicht gewährt haben. Der Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschen, die Unrecht begangen haben, trotzdem rechtsstaatlich behandelt werden. Vor allem: Es ist der konkrete Beweis dafür, dass diese DDR und die Mauer, die sie am Leben hielt, nicht zu rechtfertigen sind.

Zahlreiche Stasi-Opfer sind bis heute sehr aufgebracht, weil ihre Spitzel mit verschobenem SED-Vermögen es nach der Wende zu viel Geld gebracht haben.

Jahn: Wir, die gesamtdeutsche Gesellschaft, müssen die Empfindungen der Opfer ernst nehmen. Ich kann ohne Mühe nachvollziehen, dass es die Opfer sehr schmerzt, wenn sie sehen, dass ihre einstigen Peiniger wieder oben schwimmen. Diese Opfer dürfen aber den Glauben an den Rechtsstaat nicht verlieren. Deswegen ist eine Opferrente sehr wichtig, die der Bundestag beschlossen hat. Allerdings, dass die Opfer ihr Vermögen offenlegen und als Bittsteller auftreten müssen, um eine solche Opferrente zu bekommen, finde ich entwürdigend. Entweder ist man ein Opfer. Oder man ist keines. Das hängt nicht vom Kontostand ab.

Was ist zu tun?

Jahn: Es geht viel um Symbolik. Ich könnte mir vorstellen, dass die Opfer bei einer offiziellen Feierstunde rehabilitiert werden - durch Repräsentanten des Staates. Und wir brauchen Transparenz und Vertrauen in den Öffentlichen Dienst. Es kann nicht sein, dass Personen unseren Staat repräsentieren, die es seit mehr als 20 Jahren nicht schaffen, sich zu ihrer Stasi-Vergangenheit zu bekennen und Konsequenzen ziehen.

Sie mussten sich gleich zu Beginn Ihrer Amtszeit gegen Vorwürfe wehren, ein Menschenjäger zu sein, weil Sie 47 ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter aus Ihrer Behörde entfernen wollten. Wie weit sind Sie mit der Versetzung gekommen?

Jahn: Das Problem ist benannt. Die Bundesregierung arbeitet daran, in anderen Behörden, die nicht so sensibel sind, Stellen für diese 47 früheren hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter zu finden. Das kann noch dauern.

Fast jeder weiß, wo er am 9. November 1989 war. Wo waren Sie?

Jahn: Ich war in einem Studio des Senders Freies Berlin und habe für die ARD den Fall der Mauer kommentiert. Ein wirklicher Tag der Freude für mich, sechs Jahre, nachdem mich die DDR gewaltsam in den Westen verfrachtet hatte. In der Nacht des Mauerfalls bin ich dann am Grenzübergang Invalidenstraße rüber in den Ostteil Berlins. Und dann weiter nach Jena, in meine Heimatstadt.

Haben Sie damals gedacht, dass der Stasi-Apparat bald hochgenommen wird?

Jahn: Ich habe gewusst, dass es wichtig ist, sich mit der Stasi zu beschäftigen. Als ARD-Journalist hatte ich viele Möglichkeiten, das zu tun. Nach dem Sturm der Stasi-Zentrale haben wir das Bürgerkomitee mit einem Kamerateam beim ersten Gang ins Archiv begleitet. Da haben wir dann meine Akte gezogen. Ich war fassungslos. Die Stasi war auch im Westen ganz nah an mir dran. Die hatten sogar eine Skizze meiner Wohnung mit dem exakten Standort der Möbel. Auch der Schulweg meiner damals acht Jahre alten Tochter war penibel dokumentiert. Da fragt man sich dann doch: Wofür brauchen die das? Nur gut, dass es zu Ende ist. Was hätten die noch alles getan.

Vom 13. August 1961, Tag des Mauerbaus, haben Sie als Kind was mitbekommen?

Jahn: Ich habe meine Eltern in Erinnerung, die sehr besorgt waren, dass in Berlin das letzte Schlupfloch dicht gemacht wird. Dass die DDR ernst macht und ihr ganzes Volk einsperrt.

Der 50. Jahrestag des Mauerbaus ist retrospektiv deutsches Lehrstück wofür?

Jahn: Dass es möglich ist, eine Mauer zu bauen und an dieser Mauer Menschen zu erschießen, weil sie von einem Teil der Stadt in den anderen wollen. Und dass es möglich ist, diese Mauer zu überwinden und am Ende friedlich in die Freiheit zurückzukehren.

Wenn Sie eines Tages die Stasi-Unterlagenbehörde verlassen, möchten Sie was erreicht haben?

Jahn: Dass die junge Generation, die nach dem Ende der DDR geboren wurde, sich einlässt auf die Diskussion um Freiheit und Unfreiheit am Beispiel der DDR und der Staatssicherheit. Dass es gelingt zu vermitteln, dass die Beschäftigung mit Vergangenheit etwas mit der Gestaltung von Zukunft zu tun hat.