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"Aufklärung kennt keinen Schlussstrich!"

Der Chef der Stasiunterlagenbehörde Roland Jahn im strassenfeger-Interview

Seit 28. Januar 2011 ist Roland Jahn Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU). Er war Mitbegründer der oppositionellen Friedensgemeinschaft Jena und protestierte gegen fehlende Meinungsfreiheit und die zunehmende Militarisierung in der DDR. Nach seiner Kritik an der Ausbürgerung Wolf Biermanns wurde er 1977 vom Studium der Wirtschaftswissenschaften exmatrikuliert.

1983 wurde er von der Stasi gegen seinen Willen aus der DDR geworfen. Von West-Berlin aus hielt er Kontakt zur DDR-Opposition und baute ein Informationsnetzwerk zwischen Ost und West auf. Für die ZDF-Redaktion "Kennzeichen D" und das ARD-Magazin "Kontraste" berichtete er über Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in der DDR. Nach dem Fall der Mauer wurden die Folgen der SED-Diktatur eines seiner zentralen Themen als ARD-Redakteur. strassenfeger-Chefredakteur Andreas Düllick traf Roland Jahn zum Interview in der Ausstellung in der Zimmerstraße nähe Checkpoint Charlie.

Wie lautet Ihr Resümee nach einem Jahr in Ihrem Amt?

Jahn: Ich blicke nach vorn. Wir stehen vor der großen Herausforderung, den Dialog mit der jungen Generation zu führen, weil die Menschen, die DDR nicht mehr erlebt haben, die nach dem Ende der DDR geboren worden sind, werden immer mehr und die interessieren sich auch dafür, was in der DDR passiert ist.

Was waren die schönsten Erfolge und was die größten Niederlagen in Ihrer Amtszeit?

Jahn: Ich unterscheide nicht nach Erfolgen oder Niederlagen. Es gibt immer schwierige Probleme zu lösen. Wenn ich nur daran denke, dass wir seit Monaten versuchen, ein Plakat an unserem Gebäude anzubringen, mit dem wir der Öffentlichkeit zeigen wollen, was wir hier machen, nämlich aufzuklären, und das Plakat bis heute nicht hängt, weil es zwischen den Ämtern nicht klappt, dann sage ich, da sind noch Reserven. Auf der anderen Seite erlebe ich aber immer wieder Menschen, die zu uns kommen und in die Akten schauen, die Hilfe bekommen dadurch. Das ist etwas ganz Positives. Auch wenn ich sehe, wie das, was unsere Mitarbeiter in den Akten finden, auch Eingang in die Medien findet und damit dazu beiträgt, dass aufgeklärt wird darüber, wie die Diktatur in der DDR funktioniert hat, wie die Stasi gearbeitet hat.

Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit heute von der als investigativer Journalist?

Jahn: Das möchte ich nicht gegeneinander setzen. In gewisser Weise ist es schon eine Fortsetzung dessen, was ich als Journalist gemacht habe, nämlich dabei zu helfen, dass aufgeklärt wird, das Konflikte benannt und gelöst werden. Das ist es, was mich in der täglichen Arbeit motiviert.

Wie wichtig ist es in unserer Demokratie, die Mechanismen in der DDR-Diktatur zu erforschen?

Jahn: Das ist sehr wichtig. Wir stellen die Akten zur Verfügung, damit Bürger und Forscher hineinschauen können. Aber wir unterrichten auch die Öffentlichkeit - auch das ist ein Gesetzesauftrag - über das Wirken der Geheimpolizei in der DDR. Indem wir z.B. das System der Angst beschreiben oder zeigen, wie die Stasi in das Leben der Menschen eingegriffen hat, wie sie die Menschen dazu gebracht hat, sich an das System anzupassen, dadurch können wir die Mechanismen offenlegen und bieten die Chance zu begreifen, wie Menschen es schaffen können, sich freizumachen von Angst. Frei sein von Angst ist eine wichtige Grundlage für das Leben in dieser Gesellschaft, um Gesellschaft gestalten zu können.

Wie kann man das Leben in einer Diktatur nachvollziehbar machen für junge Menschen, die in einer ganz anderen Gesellschaft aufgewachsen sind?

Jahn: Am besten gelingt das, in dem wir Menschengeschichten erzählen, in dem wir deutlich machen, dass die Stasi nicht nur ein Apparat war, sondern dass dort ganz konkret Menschen gehandelt haben und, dass es Menschen waren, die die Eingriffe der Stasi in ihr Leben gespürt haben, die darunter gelitten haben. Und diese Menschengeschichten zu erzählen, das ist sehr wichtig, weil wir damit auch die Chance haben, dass die jungen Leute sich dazu in Bezug setzen, sich identifizieren mit den Menschen, über die wir erzählen.

Das andere ist, dass wir mit den authentischen Orten und Gegenständen arbeiten. Wenn wir mit jungen Menschen durch das Achiv gehen und sie sehen die Millionen von Akten, dann ist das ein Anblick, der sie zutiefst beeindruckt. Und wenn wir dann noch deutlich machen können, dass hinter jeder Akte ein menschliches Schicksal steht, dann haben wir eine Chance, das sinnlich erfahrbar zu machen, dann kann es gelingen.

Wie wichtig ist es zu unterscheiden zwischen aktiven Stasimitarbeitern und "Mitläufern"?

Jahn: Man muss sich jeden Einzelfall anschauen. Man muss ganz genau hinschauen, wie wer in der Stasi gewirkt hat. Mit dem Blick in die Akten ist eine Differenzierung möglich. Damit kann genau festgestellt werden, dass ein inoffizieller Mitarbeiter der Stasi anders ist als der andere, dass beide sich unter ganz anderen Bedingungen verpflichtet haben, ganz anders für die Stasi gearbeitet haben. Das ist die Herausforderung unserer Zeit, dass wir den Menschen gerecht werden.

Es gibt ja auch Menschen die unschuldig in die Fänge der Stasi gerieten, Menschen, die gar nicht wussten, dass sie als IM geführt und heimlich abgeschöpft worden sind?

Jahn: Es gibt solche Fälle. Und dann geht es darum, ganz genau in die Akten zu schauen und zu prüfen, in welchem Kontext das Ganze steht. Jeder Einzelfall muss genau betrachtet werden. Die Behörde verteilt keine Stempel „Schuldig“ oder „Unschuldig“, „IM“ oder „nicht IM“. Wir stellen Akten zur Verfügung und die Gesellschaft muss diese Akten bewerten.

Was ist mit Kaderleitern und Reisekadern, die Personalakten und Berichte für ihre Vorgesetzten schreiben mussten, die dann auch bei der Stasi landeten?

Jahn: Auch hier muss man jeden einzelnen Fall ganz genau betrachten. Wichtig ist dass wir sagen, hier sind Akten und das ist die Sicht der Stasi. Und diese Sicht de Stasi ist ja keine klare Feststellung von Tatsachen, sondern das ist eine Grundlage dafür, in den Dialog zu treten und mit den Menschen darüber zu reden, was genau damals geschehen ist. Ich denke, es geht darum einen sorgsamen Umgang mit den Akten zu pflegen, die Akten als Grundlage dafür zu nehmen, um zu sehen, wie es gewesen ist. Aber es gibt zusätzlich noch das Erleben der Menschen, es gibt zusätzlich die Sichtweisen der Menschen, die einbezogen werden müssen, wenn man genau wissen will, wie es war.

Wie gehen sie mit den immer wiederkehrenden Forderungen um, die Stasunterlagen-Behörde endlich abzuwickeln?

Jahn: Aufklärung kennt keinen Schlußstrich! Aufklärung kennt auch kein Verfallsdatum! Transparenz ist eine Säule unserer Demokratie. Deshalb ist es außerordentlich wichtig, dass die Stasiakten weiter zur Verfügung stehen. Das andere ist die Frage, wie wir die Aufarbeitung organisieren. Es ist sehr wichtig, die Öffentlichkeit über die Arbeit der Stasi zu informieren. Warum soll die nächste Generation auf diese Informationen verzichten? Gerade für diese Generation ist es ja wichtig, aus der Vergangenheit zu lernen, zu begreifen, was Diktatur war. Mein Leitsatz heißt: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten. Und das gilt auch für die Zukunft.

Macht es heute noch Sinn, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes auf mögliche Stasiverstrickungen hin zu untersuchen?

Jahn: Ich bin beauftragt, das Gesetz umzusetzen. Und darin steht, dass die Überprüfung des öffentlichen Dienstes möglich ist. Wir stellen dazu auf Antrag des Arbeitgebers Akten zur Verfügung. Die Konsequenzen daraus zieht dann der Dienstherr selbst. Es ist gut, dass dadurch Vertrauen hergestellt werden kann. Für den Öffentlichen Dienst ist es schon wichtig zu wissen, wer in der DDR in welcher Verantwortung für die Stasi tätig war.

Wie ist der Stand um die Versetzung von stasibelasteten Mitarbeitern in Ihrer Behörde?

Jahn: Wir sind da auf einem guten Weg. Die Bundesverwaltungen haben verschiedene Stellen angeboten und die Mitarbeiter prüfen gerade, welche Stelle für sie in Frage kommt.

Ist eine Versöhnung zwischen Täter und Opfer möglich? Kann man seinen Peinigern jemals vergeben?

Jahn: Ja, man kann vergeben, aber das ist eine ganz individuelle Angelegenheit. Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Unsere Aufgabe ist, ein Klima zu schaffen, das Versöhnung möglich macht.
Wir haben z. B. einen Film unterstützt, in dem ein Spitzel und ein Bespitzelter gemeinsam die Stasiakten lesen, um durch die Aufarbeitung dieser Dokumente vielleicht wieder zueinander zu kommen. Aber, Versöhnung, Vergebung kann nicht verordnet werden!

Wie ist das bei Ihnen ganz persönlich?

Jahn: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt Leute, denen ich vergeben habe, weil sie sich offen damit auseinandergesetzt haben, mit dem, was gewesen ist. Es gibt aber auch Leute, die rechtfertigen bzw. leugnen bis heute. Schade.

Gibt es eigentlich in der Behörde keine Unterlagen zum früheren Chef der Kommerziellen Koordinierung, dem Stasi-Oberst Alexander Schalck-Golodkowski, der ja seit Jahren vollkommen unbehelligt in einer Villa am beschaulichen Wolfgangsee lebt?

Jahn: Natürlich gibt es zu Schalck-Golodkowski Unterlagen im Stasiunterlagen-Archiv. Und jeder Journalist oder Wissenschaftler kann diese Unterlagen anfordern. Was allerdings das Strafrechtliche betrifft, das ist ein ganz anderes Kapitel.

Was ist mit etwaigen Stasiverstrickungen westdeutscher Politiker? Wird da was unter’m Deckel gehalten?

Jahn: Nein. Es gibt Forschungsarbeiten dazu. Vor kurzem ist das "Handbuch zur Hauptverwaltung Aufklärung" herausgekommen, in dem die Arbeit der Stasi im Westen - auch die Stasi-Mitarbeit von westdeutschen Bürgern - beschrieben wird. Das große Problem dabei ist aber, dass viele Akten der Hauptverwaltung Aufklärung vernichtet worden sind und deshalb die Aktenlage die Aufarbeitung erschwert.

Wie lange kann man sich mit der Stasi beschäftigen? Gibt es einen Punkt, an dem Sie sagen würden, jetzt reicht es?

Jahn: Es geht nicht nur um Stasi und um die DDR. Es geht um grundsätzliche Fragen, wie Menschen die Gesellschaft organisieren. Es geht um Themen wie Verrat, Anpassung oder auch Datenschutz. Das sind alles Themen, die hier und heute aktuell sind. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns damit beschäftigen. Darum geht es: Aus der Vergangenheit lernen für die Zukunft.

Was sind die nächsten großen Projekte der Behörde?

Jahn: Wichtig ist, dass wir jeden Tag für die Bürger da sind, insbesondere was die Akteneinsicht angeht. Wir werden aber auch den Standort der ehemaligen Stasi-Zentrale entwickeln. Nach der Sanierung des alten Dienstsitzes von Stasichef Mielke könnte dort so etwas wie ein „Campus der Demokratie“ entstehen. Dort wollen wir gerade für junge Menschen eine "Schule der Demokratie" entwickeln, wo sie die Banalität dieses Ortes in Verbindung mit den menschlichen Schicksalen wahrnehmen können.

Das Stasi-Museum und das Stasi-Archiv zusammen mit einer neuen Bibliothek und einem Kino und vielleicht mit der dann laufenden virtuellen Rekonstruktion von zerrissenen Akten eine umfassende Neugestaltung der ehemaligen Machtzentrale einer Geheimpolizei zu schaffen. Das ist die Vision. Wenn man das alles an einem Ort erleben kann, ist das eine gute Chance, etwas über das Wirken der Stasi zu erfahren.

Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit in den kommenden Jahren?

Jahn: Ich wünsche mir, dass der Dialog mit der jungen Generation gut funktioniert. Dass diese Generation die Möglichkeiten nutzt, mit unserem Angebot zu erfahren, wie die Stasi gewirkt hat, und daraus wiederum etwas für ihr eigenes Leben mitzunehmen. Wenn uns das gelingt, wäre das sehr gut.