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"Die Akten liefern Auskunft, wie das System Angst funktioniert hat"

In der Chemnitzer Tageszeitung 'Freie Presse'' macht sich Roland Jahn für eine differenzierte Bewertung von DDR-Biografien stark, "Oberrichter spielen" wolle er nicht: "Wir werden Menschen keine Stempel aufdrücken und festlegen, wie die Biografien zu bewerten sind. Wir geben der Gesellschaft Information an die Hand, und die Gesellschaft muss die Bewertung vornehmen". Jahn antwortet auch auf Fragen zum Sinn der Weiterbeschäftigung ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde, deren Versetzung er anstrebt, um die Glaubwürdigkeit der Behörde zu stärken: "Da ist die Bundesregierung in der Pflicht."

FREIE PRESSE: Warum steht plötzlich die Beschäftigung von rund 50 Ex-Stasi-Mitarbeitern im Fokus?

Roland Jahn: Das ist ein altes Problem, dessen Lösung mir wichtig ist. Ich möchte, dass die Aufarbeitung der Tätigkeit der Staatssicherheit wirklich gelingt. das ist unser gesetzlicher Auftrag. Das Problem der Ex-Stasi-Mitarbeiter ist Teil der Aufarbeitung. Was die Staatssicherheit an Verletzungen zugefügt hat, müssen wir versuchen zu heilen, nur so können wir Versöhnung möglich machen. Wenn wir das schaffen wollen, müssen wir die Empfindungen der Opfer ernst nehmen. Wenn mir Opfer, wie letzte Woche auf dem Bautzen Forum der ehemaligen Häftlinge, sagen, sie empfinden es als Schlag ins Gesicht, dass gerade ehemalige Stasi-Offiziere - also keine kleinen Würstchen, wie manche meinen - in der Behörde arbeiten, in die sie so große Hoffnungen setzen, nehme ich das ernst. Das ist das Selbstverständnis mit dem ich angetreten bin.

Handelt es sich in erster Linie um ein emotionales Problem? Die Rede ist ja davon, die rund 50 Ex-Stasi-Mitarbeiter in andere Bundesbehörden zu versetzen.

Jahn: Es geht um die Glaubwürdigkeit der Behörde und darum, zu einer neuen Qualität der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu kommen. Aus Gesprächen mit Opfern weiß ich, dass viele bereit sind, zu vergeben, wenn denn jene, die hauptamtlich für die Staatssicherheit gearbeitet haben, so etwas wie tätige Reue zeigen. Wenn die Opfer an ihrer Handlung erkennen, aha, diejenigen haben sich auseinandergesetzt mit ihrer Vergangenheit. Wenn sie bereit sind, woanders zu arbeiten als ausgerechnet in der Stasi-Unterlagenbehörde, können sie hier ein Zeichen setzen - für ein Klima der Versöhnung in der Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, dass dieses Klima geschaffen wird.

Wie soll das praktisch aussehen?

Jahn: Indem man ihnen in anderen Bundes-Einrichtungen neue Arbeit anbietet. Da ist die Bundesregierung in der Pflicht, denn die Mitarbeiter haben Arbeitsverträge mit der Bundesrepublik, nicht mit dem Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Damit kann auch die Bundesregierung zu einem Klima der Versöhnung beitragen. Solche Signale würden die Chance erhöhen, dass Versöhnung gelingen kann.

Sind solche Versetzungen arbeitsrechtlich möglich?

Jahn: Ich habe ein Gutachten in Auftrag gegeben, das die arbeitsrechtlichen Möglichkeiten klärt. Es hat bis jetzt immer nur zwei, drei Sätze gegeben, wonach es juristisch schwer sei, diese Ex-Stasi-Mitarbeiter zu entfernen. Es wurden Falschinformationen in die Welt gesetzt; es hätte Kündigungen von Ex-Stasi-Mitarbeitern gegeben, die danach wieder eingestellt werden mussten. Insgesamt brauchen wir dringend Sachlichkeit, Besonnenheit. Deshalb das Gutachten, das ich für Ende Mai erwarte. Parallel habe ich Gespräche gesucht mit den Ex-Stasi-Mitarbeitern.

Warum war Ihnen das wichtig?

Jahn: Auch ihnen gegenüber und gegenüber ihrer Arbeitsleistung in den vergangenen 20 Jahren habe ich Respekt. Auch sie müssen ihre Familien ernähren, ihre Mieten bezahlen. All das beachte ich bei meinem Vorgehen. Nicht zuletzt ist mir ein freundlicher Umgang wichtig. Ich begegne diesen Menschen in der Behörde offen, freundlich, wir lachen auch.

Ist das Problem der Weiterbeschäftigung der Stasi-Mitarbeiter in Berlin stärker als in den Außenstellen?

Jahn: Ja. Aber es sind auch mehrere Außenstellen betroffen, auch die Chemnitzer. Worum es mir geht ist, dass die Arbeit der vielen Mitarbeiter unserer Behörde, die tagtäglich - auch in Chemnitz hier - rackern, nicht beschädigt wird. Ich möchte nicht mehr, dass sich bei uns Bürger beschweren. dass wir in der Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Tätigkeit ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter beschäftigen. Das Kriterium hier ist eben die hauptamtliche Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit, die Entscheidung, dort eine berufliche Karriere zu machen.

Finden Sie denn Behörden, die diese Stasi-Mitarbeiter nehmen?

Jahn: Ihr Arbeitgeber ist die Bundesrepublik. Und ich begrüße, dass die Bundesregierung diesbezüglich hinter mir steht. Sie muss das Problem nun ganz konkret praktisch angehen. Aber das dürfte nicht unlösbar sein, schließlich gibt es sehr viele Bundesverwaltungen.

Ihre Worte zeigen, dass Sie für eine differenzierte Beurteilung sind, geht es um die Frage, ob jemand Täter ist oder nicht?

Jahn: Ich stehe für differenzierte Betrachtung von DDR Biografien, weil ich weiß, welchen Zwängen Menschen ausgesetzt waren. Da sollte man nicht den Oberrichter spielen. Wir als Behörde maßen es uns auch nicht an. Wir sind Dienstleister für die Gesellschaft. Wir haben die Akten, wir stellen daraus Informationen zusammen. Aber wir werden Menschen keine Stempel aufdrücken und festlegen, wie die Biografien zu bewerten sind. Wir geben der Gesellschaft Information an die Hand, und die Gesellschaft muss die Bewertung vornehmen.

War die öffentliche Bewertung in der Vergangenheit ausreichend differenziert?

Jahn: Es gab viele Fälle, da wurde nicht differenziert bewertet. Zudem hat die Fixierung auf Staatssicherheit und speziell auf inoffizielle Mitarbeiterschaft oft abgelenkt von den eigentlich Verantwortlichen. Die Frage des Auftraggebers für die Stasi, die Verantwortung der SED, ist viel zu kurz gekommen in den Diskussionen und auch die Frage der Verantwortung von Entscheidungsträgern staatlicher Institutionen wie den Räten der Kreise, Räten der Städte, Räten der Bezirke. Es hat Repressionen gegeben in vielen Bereichen, in denen die Stasi gar nicht aktiv war. Denken sie nur an Schüler, die von ihren Lehrern benachteiligt wurden, denken sie an Studenten, die wegen Unangepasstheit von der Uni flogen. Denken sie an das, was in den Betrieben stattgefunden hat, wo alle die, die sich ein Stück Meinungsfreiheit genommen haben, benachteiligt wurden. Insgesamt brauchen wir eine offene Diskussion um individuelle Verantwortung, ohne immer gleich Schuld zuzuweisen.

Grundlage für die Debatte könnte ja die Forschung sein. Liegen noch zu wenig Ergebnisse vor oder finden sie nur zu wenig Aufmerksamkeit?

Jahn: Beides. Wir sind bei der historischen Forschung erst am Anfang. Ich glaube, dass die Akten für die Forschung unschätzbar wertvoll sind, um die Funktionsweise dieser Diktatur aufzuarbeiten. Die Akten liefern Auskunft darüber, wie das System der Angst funktioniert hat, darüber, warum sich Menschen anpassen, darüber, warum sie noch 1989 Ergebenheitsadressen abgaben. Auch regionale Fragen können geklärt werden, etwa die besondere Einflussnahme der Stasi auf die Wismut.

Im früheren Bezirk Karl-Marx-Stadt hatte die Stasi rund 180.000 Menschen erfasst, so viel wie in keinem anderen Bezirk. Sind in der Außenstelle die Bedingungen gegeben, dieses Material entsprechend zu handhaben.

Jahn: Ich habe großen Respekt vor der Arbeit der Kollegen hier in Chemnitz in der Jagdschänkenstraße - auch weil die Bedingungen nicht gut sind. Die Kollegen tragen die Akten teilweise über den Hof. Das darf nicht sein. Zudem liegt die Außenstelle stadtfern, was nicht hilfreich ist, will man die Aufarbeitung der Vergangenheit mitten in die Gesellschaft holen. Beim Mitarbeitergespräch kam uns spontan die Idee, einen Umzug auf den Kaßberg in Chemnitz in Erwägung zu ziehen. Hier gibt es mit dem ehemaligen Stasi-Knast in der Hohen Straße einen authentischen Ort. Wir haben authentische Akten. Das müssten wir zusammenführen. Dann könnten sich vor allem auch junge Menschen ein realistisches Bild vom Wirken der Stasi machen - und dadurch ihre Freiheit schätzen lernen.

Umzug auf den Kaßberg: Ist da schon Näheres geplant?

Jahn: Nein. Wir wollen an zuständige Ministerien herantreten, auch etwa die Stiftung sächsische Gedenkstätten ins Boot holen.

Das Gespräch führten Torsten Kleditzsch und Eva Prase