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"Die Mauer steht für das System einer Diktatur"

Roland Jahn im Interview mit in der "Berliner Morgenpost", erschienen am 5. Februar 2018

Schon jemals vorher vom Zirkeltag gehört? Oder sind Sie genauso überrascht von dem Ausdruck wie wir? Ich kenne Zirkeltraining, den Zirkelschluss, den literarischen Zirkel... Aber den Zirkeltag?

Roland Jahn: Wer auf den Begriff Zirkel gekommen ist, ist mir auch ein Rätsel. Für mich persönlich bedeutet dieser Tag nichts. Aber ich finde es legitim, dass die Presse die Gelegenheit nutzt, darüber zu berichten, was die Mauer bedeutet hat für die Menschen. Und was ein Leben ohne Mauer bedeutet.

Der Zirkeltag ist also eine Erfindung der Presse? Sind wir etwa gedenktagssüchtig – jetzt basteln wir uns schon unsere eigenen Feiertage.

Jahn: Manchmal ist es schon bedauerlich, dass eine so Fixierung auf Jahrestage stattfindet. Das sind dann mediale Ereignisse. Insbesondere Jahrestage, die man erklären muss, kommen bei Menschen emotional nicht an. Und trotzdem – die Mauer ist ein großes, wichtiges Thema. Es war das in Beton gegossene Unrecht, das jeden Tag sichtbar war. Die Mauer war sozusagen ein besonders brutaler Ausdruck dieser Diktatur.

Sie waren beim Mauerbau 1961 acht Jahre alt, oder? Erinnern Sie sich an den Mauerbau?
Jahn: Ich habe ja in Jena gelebt. Für mich war das erste Erlebnis mit der Mauer als wir 1962 in den Urlaub an die Müritz fuhren. Da mussten wir in Berlin umsteigen. Das war das erste Mal, dass ich die Mauer wahrgenommen habe. Ich habe natürlich meinen Eltern viele Fragen gestellt, die sie nicht so einfach beantworten konnten. Beispielsweise: Warum baut man eine Mauer mitten durch eine Stadt?

Das Erlebnis Mauer war also prägend?

Jahn: Natürlich. Später, als ich als Jugendlicher öfters mal nach Berlin gefahren bin, hat man an der S-Bahn-Station Plänterwald die geteilten Gartenkolonien gesehen und die Hochhäuser in Gropiusstadt. Das war schon ein merkwürdiges Bild. Und dann natürlich irgendwo in Mitte oder Prenzlauer Berg – man hat immer Obacht gegeben, dass man nicht an einen Punkt kam, wo man in Konflikt geraten wäre. Das war schon etwas, was einem aufgestoßen ist. Dass es nicht mehr weitergeht. Und trotzdem – was mich immer noch beschäftigt, wie wir uns alle in der DDR dermaßen an diese Mauer gewöhnen konnten, dass wir uns teilweise damit abgefunden hatten.

Man guckte die Mauer ja regelrecht weg...

Jahn: Ja, man guckte sie weg. Dabei hätten wir eigentlich jeden Tag demonstrieren müssen gegen dieses Monument der Menschenrechtsverletzung. Mich erschreckt im Nachhinein, wie viele Intellektuelle die Mauer gut geredet haben. Dass die Rechtfertigung funktioniert hat. Und was mich persönlich betrifft: Ich habe zwar die Mauer abgelehnt, aber ich habe es nicht gewagt, einen offenen Protest auszudrücken. Sondern mich um meine eigenen kleinen Problemchen gekümmert. Weil ich dachte, das ist schon ein Gewinn, wenn ich im Kleinen etwas verändert konnte.

Das heißt, die Mauer hätte im Zentrum des Protestes der DDR-Opposition stehen müssen?

Jahn: Ja, weil sie ein Instrument war. Die Mauer hat dafür gesorgt hat, dass in dieser Gesellschaft Angst geherrscht hat, dass Disziplinierung und Anpassung stattfanden. Bis 1961 konnten die Menschen, wenn sie nicht mehr weiterwussten, abhauen. Das war mit dem Mauerbau schlagartig zu Ende. Und in den 80er Jahren wurde die Durchlässigkeit der Mauer gesteuert – auch ein Disziplinierungsinstrument. Man hat den Leuten klar gemacht, wenn sie eine Besuchsreise zu ihrer Verwandtschaft haben wollen, dann mussten sie sich überwiegend konform verhalten. In der Hinsicht drückt diese Mauer viel mehr aus, als nur zu verhindern, dass man von einer Seite der Stadt in die andere kommt. Die Mauer steht für das System einer Diktatur – mit all seinen Auswirkungen bis in den Alltag hinein.

Es heißt ja, historisch gesehen, die Mauer sollte die DDR festigen. Man spricht auch von einer DDR-Blütezeit kurz nach dem Mauerbau. Doch der Apparat der Staatssicherheit wuchs trotz allem kontinuierlich an, damit auch das Misstrauen gegen das eigene Volk.. Am Ende hatte man 91.000 Mitarbeiter, rund 180.000 IMs... Sie sind jetzt seit 2011 Leiter des Stasiunterlagenarchivs. Hat sich Ihr Blick auf die Stasi-Akten seitdem geändert?

Jahn: Ich lese so gute wie keine Akten. Ich habe als Journalist mehr gelesen als jetzt. Mein Aufgabenfeld ist, es ja, anderen den Zugang zu ermöglichen. Aber ich habe besser verstanden, wie enorm wichtig der Zugang zu den Akten für Menschen ist und dass unser Archiv weltweit ein Modellfall für den Umgang mit Unrecht ist. Das entscheidende ist für mich – und das ist der Schwerpunkt der nächsten Jahre – dass wir dieses Archiv noch besser nutzbar machen.

Es stehen große Veränderungen an. Sie sollen ja bald unter das Dach des Bundesarchivs kommen...
Jahn: Ja, der Bundestag hat uns beauftragt, einen Transformationsprozess einzuleiten. Und ein Konzept zu zur Überführung unter das Dach des Bundesarchivs zu erarbeiten. Wir stehen vor vielen Herausforderungen, wir müssen ja den Gesamtbestand erhalten, es darf nichts aussortiert werden. Da braucht man eine archivgerechte Lagerung. Die Restaurierung von Papier. Und natürlich – zeitgemäße Nutzung der Akten heißt: Digitalisierung. Den Antrag auf Akteneinsicht digital zu stellen, und die Akten in Zukunft auch digital bereitgestellt zu bekommen.

Und nicht mehr zwei Jahre auf Akteneinsicht warten zu müssen?
Das sowieso. Und wir wollen hier auf dem Gelände ein Archiv und Dokumentationszentrum schaffen. Es gilt, diesen historischen Ort zu nutzen, die Stasi-Zentrale in Berlin. Das ist auch der Auftrag des Bundestages in seinem letzten Beschluss. Denn so ein Ort hat immer auch eine besondere Kraft bei der Vermittlung.

Das ist ja jetzt schon so. Was kommt neu?

Jahn: Die Vision ist: all das, was jetzt im Bundesarchiv in Lichterfelde an DDR-Beständen liegt, in einem Archivzentrum zur SED-Diktatur in Lichtenberg zusammenzuführen. Das heißt zum Stasiunterlagenarchiv kommen noch die DDR-Akten aus den Ministerien sowie die Akten der Stiftung Parteien und Massenorganisationen und auch die Haftakten aus den Gefängnissen hinzu. Dann gibt es dort gemeinsame Lesesäle. Und wir könnten dort auch ein Digitalisierungszentrum einrichten.

Das wäre natürlich für Forscher ideal. Denn im Lauf der nächsten Jahrzehnte wird sich der Charakter des Stasiunterlagenbehörde verändern. Die Zahl der Menschen, die einen Antrag auf persönliche Akteneinsicht stellen, wird zurückgehen. Das ist der Lauf der Zeit – Menschen sterben...

Jahn: Ja, wir verändern uns. Deshalb ist es entscheidend, dass wir mit der Zeit gehen. 15 Prozent der Erstanträge auf Akteneinsicht kommen von Angehörigen von Verstorbenen. Laut §15 des Stasiunterlagengesetzes hat man die Möglichkeit, nachzuforschen: Wie hat die Stasi ins Leben der Familie eingegriffen? Oder wenn ein Elternteil bei der Stasi gearbeitet hat. Zusätzlich gibt es auch die Möglichkeit, Forschungsanträge zu stellen. Das nutzen auch viele junge Leute - beispielsweise für Geschichtswettbewerbe.

Die Stasiunterlagenbehörde...

Jahn: ... wir wollen weg von dem Begriff "Behörde". Wir sind das Stasiunterlagenarchiv. Wir stellen die Akten einer Geheimpolizei zur Verfügung, um Aufklärung zu ermöglichen – ein weltweit einmaliger Fall. Aber die Deutungshoheit über die Akten haben wir nicht. Wir sind nicht das Amt für absolute Wahrheit. Deshalb ist das Wort "Behörde" nicht hilfreich, auch wenn wir natürlich institutionell so verfasst sind.

... also das Stasiunterlagenarchiv ist ja sehr engagiert in der politischen Bildung, gerade auch bei jungen Leuten.

Jahn: Unsere Aufgabe ist es, Menschen zu befähigen, sich ihr eigenes Urteil zu bilden. Das ist unser Ansatz, gerade, wenn es um junge Leute geht. Sie können im Zeitalter von Fake News bei uns lernen: Was sind Quellen? Was wird wann, wie und warum aufgeschrieben? Und, dass ein einzelnes Dokument nicht festlegt, wie es gewesen ist, sondern man viele Dokumente braucht, um eine umfassende Recherche zu machen.

Ist es nicht ein Problem, dass in den Elternhäusern der Neuen Bundesländern oft anders über die DDR geredet wird als beispielsweise bei Ihnen im Haus. Sie sprechen von Diktatur, Zuhause redet man dagegen von der DDR als gute Zeit...

Jahn: Ich würde mich hüten, das pauschal zu bewerten. Die Menschen haben in der DDR sehr unterschiedlich gelebt. Das Leben des SED-Sekretärs war deutlich anders als das des Pfarrers. Oder das des Stasi-Offiziers anders als dass des politischen Häftlings. Und auch das des intellektuellen angepassten Schriftstellers und des Arbeiters im Kombinat. Also jeder hat ein ganz unterschiedliches Verhältnis zu diesem Staat gehabt. Wie teilweise aufgetreten wird, mit dem pädagogischen Zeigefinger gegenüber jungen Leuten: Die müssen sich jetzt mit Geschichte beschäftigen, damit sie draus lernen – das ist verfehlt. Am Ende ist die Frage immer: Warum soll man sich damit beschäftigen?

Und warum sollen sie?

Jahn: Konkret sollte das jeder für sich herausfinden. Allgemein gesagt, ist für mich die Beschäftigung mit Geschichte ein Chance, die Sinne für die Gegenwart zu schärfen.

Das Interview führte Susanne Leinemann