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"Die Mauer war ein in Beton gegossenes Unrecht"

Roland Jahn hat sie von beiden deutschen Seiten erlebt – Heute vor 59 Jahren wurde sie errichtet

Herr Jahn, 30 Jahre nach der Deutschen Einheit geht die Erinnerung an den 13. August 1961, den Tag des Mauerbaus, immer mehr verloren. Sie waren damals ein Kind in der DDR. Wie haben Sie das historische Ereignis erlebt?

Jahn: Als Kind war das für mich sehr bedeutsam, als ich zum ersten Mal in Berlin die Mauer gesehen habe. Da wurde mir deutlich, dass die Mauer mitten durch eine Stadt geht und man sich nicht mehr frei bewegen konnte. Das wollte nicht in meinen Kopf hinein, dass es innerhalb einer Stadt plötzlich Grenzen gab. Der Mauerbau war natürlich ein Schock und wurde in vielen Familien der DDR heiß diskutiert. Ich war acht Jahre alt und habe fernab vom Geschehen in meiner Heimatstadt Jena eine glückliche Kindheit verbracht. Erst ein Jahr später war ich damit direkt konfrontiert, als ich auf der Reise in den Urlaub in Berlin die Grenzanlagen sah. So richtig konnten mir meine Eltern dieses monströse Bauwerk nicht erklären und ich konnte nicht begreifen, warum eine Grenze eine Stadt teilt und auf Menschen geschossen wird, die auf die andere Seite der Mauer wollen.

Die Erinnerung verblasst immer mehr. Ein gutes Zeichen oder ein schlechtes, dass die Mauer aus den Köpfen der Deutschen verschwindet?
 
Jahn: Sowohl als auch. Jeder Einzelne hat ja auch die Freiheit zu vergessen. Die Freiheit, nicht im Leid der  Vergangenheit gefangen zu sein und so im Leben einen Platz zu finden. Das fällt denen, die unter der SED-Diktatur gelitten haben, oft schwerer. Dennoch: als Gesellschaft insgesamt ist es hilfreich zu erinnern, das am 13. August 1961 Unrecht in Beton gegossen wurde. Die Empathie für die Opfer von Mauer und Schießbefehl, das Wissen um die Auswirkung auf den Alltag der Menschen und um die Mechanismen einer Diktatur, all das kann heute dazu beitragen, Freiheit und Demokratie besser zu schätzen und zu schützen und den Wert der Menschenrechte weltweit hochzuhalten. Man muss nur nach Weißrussland und Hongkong schauen, um zu sehen, was das bedeutet.

Sie sind 1983 aus der DDR zwangsausgebürgert worden, haben den Fall der Mauer und die Einheit als Journalist im Westen erlebt. Ist das Gedenken an den Mauerbau im August 1961 eher ein Tag der Trauer oder der Freude für Sie?

Jahn: Es ist in erster Linie ein Tag des Gedenkens an die Opfer, an die Menschen, die die Sehnsucht nach Selbstbestimmung mit ihrem Leben bezahlt haben. Es ist ein Tag der Anteilnahme für die Familien, in deren Mitte eine Lücke gerissen wurde, die über Generationen hinweg wirkt. Es ist doch klar, dass die, die die Zeit der deutschen Teilung nicht erlebt haben, dazu nicht unbedingt etwas wissen und auch diesen Irrsinn nicht einfach nachvollziehen können. Aber gerade deshalb sollte man ihnen Informationen nicht im Schulunterricht eintrichtern, sondern das Interesse für diese Geschichte wecken. Es ist ja eine Chance. Wenn man diese Geschichte kennt, kann man besser begreifen wie Unrecht geschehen ist und vor allem wie es entsteht. Mit dem 13. August 1961 wurde das Ende der Deutschen Demokratischen Republik sichtbar besiegelt. Der Name wurde endgültig zur Farce. Denn eine demokratische Republik sperrt ihr Volk nicht ein, sondern sie ist geprägt vom offenen Dialog freier mündiger Bürger. Mauer und Stacheldraht wurden sichtbarer Ausdruck einer Diktatur der Sozialistischen Einheitspartei, der SED, die sich weiter verfestigte und alle gesellschaftlichen Bereiche durchzog.
 
Wie lässt sich die historische Erinnerung am besten wachhalten?
 
Jahn: Durch die konkreten Geschichten von Menschen, an den historischen Orten, aber auch mit Hilfe der Dokumente aus Archiven lässt sich zeigen, dass es immer wieder um das Thema Menschenrechte geht. Und das ist die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir sollten die Erinnerung an die Mauer und die Opfer auch bei den künftigen Generationen wachhalten. Die Mauer war kein Naturereignis, sondern von Menschen gemacht. Die Mauer war ein in Beton gegossenes Unrecht, das jeden Tag sichtbar war. Es war Ausdruck einer brutalen Diktatur. Die Ermordungen von unschuldigen Menschen, die die Freiheit suchten, waren unmenschliche Verbrechen. Ihre Familien leiden heute noch darunter, dass einer aus ihrer Mitte herausgerissen wurde. Am Beispiel der Mauer können wir alle lernen, zu was Menschen fähig sind. Darin liegt die Chance, es nicht zu wiederholen.