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"Die Mauer wurde nie zu Normalität"

Er ist seit mehr als 100 Tagen Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn (57). Er versteht das Archiv der DDR-Spitzelakten als "Schule der Demokratie" und wirbt für kontinuierliche Arbeit mit den Stasi-Akten: "Für die Aufarbeitung der Diktatur gibt es kein Verfallsdatum". Die Mauer, die die deutsche Teilung in Berlin zementierte, konnte er schon als Jugendlicher nicht akzeptieren: "Es gibt keine Rechtfertigung dafür, Menschen ihrer Freiheit zu berauben".

Rhein-Zeitung: Sie sind selbst von der Stasi massiv unter Druck gesetzt und verfolgt worden. Welche Rolle spielt die Mauer in Ihrer persönlichen Erinnerung?

Jahn: Der Jahrestag des Mauerbaus hat natürlich für alle, die die Mauer miterlebt haben, eine ganz große Bedeutung. Das war die Zementierung der Teilung Deutschlands. Für mich war als Jugendlicher, der seinen Freiheitsdrang entwickelt, klar, dass diese Mauer weg muss. Man hat mich gewaltsam, in Knebelketten gefesselt, abtransportiert in den Westen, und ich habe mich plötzlich auf der anderen Seite der Mauer wiedergefunden, getrennt von meinen Eltern und von meiner Familie. Das hat mein Herz zerrissen. Die Mauer hat für mich im Westen noch einmal eine ganz andere Bedeutung bekommen. Ich habe gespürt, dass auch das Leben auf der anderen Seite, in Freiheit, nur eine halbe Freiheit ist, solange ich getrennt bin von meiner Familie. Ganz viel von dem Elan, den ich in West-Berlin entwickelt habe, um die Opposition in der DDR als Journalist zu unterstützen, war von dieser Erfahrung des gewaltsamen Heimatverlustes geprägt. Das hat mir die Kraft gegeben, nicht aufzugeben. Für mich war die Mauer immer unnormal, ich konnte mich damit nicht abfinden.

Fühlen Sie sich heute als Ostdeutscher oder als Westdeutscher?

Jahn: In bin beides, Ostdeutscher und Westdeutscher zugleich. Ich war schon vor dem Mauerfall innerlich wiedervereinigt. Ein irres Gefühl. Der Gedanke an die Deutsche Einheit war bereits in mir, als andere noch nicht daran gedacht haben. Meine Heimatstadt ist natürlich Jena geblieben, vielleicht umso mehr, weil ich gewaltsam von ihr weggerissen wurde.

Was macht die Mauer mit einem Bürger?

Jahn: Man fühlt Wut, Demütigung, Ohnmacht. Man hat aber auch seinen Alltag, in dem man einfach an der Mauer entlanggeht. Und dabei hat man auch immer das Gefühl, dass es eigentlich absurd ist, dass eine Mauer eine Stadt zerteilt. Ich habe sie von beiden Seiten aus gesehen. Ich habe manchmal nachts geträumt, wie ich mit großem Anlauf einfach über sie drüberfliege.

Was werden Sie am 13. August tun?

Jahn: Ich werde an der offiziellen Gedenkveranstaltung teilnehmen. Das ist ein ganz besonderer Tag, der auch noch einmal bewusst macht, wie absurd es ist, dass Menschen auf eine solche Idee kommen: Eine Stadt zu zerteilen, Menschen zu erschießen, weil sie von der einen auf die andere Seite einer Stadt wollten. An so etwas muss man erinnern.

Was halten Sie von der These, dass die Mauer einen neuen Krieg verhindert hat?

Jahn: Wir haben ja Meinungsfreiheit. Aber ich denke, die 28 Jahre Mauer haben den Beweis geliefert, dass diese These falsch ist. Die Mauer hatte die Aufgabe, die eigene Bevölkerung einzusperren. Sie sollte die Macht der SED sichern. Sie war dazu da, Menschen daran zu hindern, in Freiheit zu leben. Selbst wenn das Argument Weltfrieden heißt: Es gibt keine Rechtfertigung dafür, Menschen ihrer Freiheit zu berauben.

Sie verwalten heute als Chef der Stasiunterlagenbehörde das Erbe dieser Macht. Was wollen Sie erreichen?

Jahn: Ich habe den Anspruch, dass wir uns mit unserer Behörde als Teil dieser Gesellschaft verstehen. Heute wächst eine Generation heran, die all das nicht mehr miterlebt hat. Die nicht weiß, wie sich das anfühlte, überwacht zu werden. Und dieser Generation nahezubringen, dass die DDR eine Diktatur war, ist nicht einfach. Das kann man nur, wenn man eine Form findet, die ihr Interesse weckt. Wo die Menschen merken, da kann ich auch für meinen Alltag noch etwas lernen. Ich verstehe uns als eine Art Schule der Demokratie.

Warum sollten sich Westdeutsche für Stasi-Überwachungsmethoden interessieren?

Jahn: Je besser ich Diktatur begreife, desto besser kann ich Demokratie gestalten. Wir dürfen nicht nur abstrakte Diskussionen führen, sondern müssen den Menschen etwas anbieten, wo sie sich selbst erkennen können und sich fragen: Wie hätte ich mich verhalten? Oder: Wie verhalte ich mich in der Gegenwart? Wie kann man Freiheit vor Angriffen schützen? Und wie viel Freiheit darf man einschränken, um Freiheit zu schützen? Man muss auch heute sensibel sein für solche Fragen.

Es geht aber doch auch um konkrete Aufarbeitung der Bespitzelung im Westen. Wie weit ist man da?

Jahn: Natürlich ist auch wichtig, deutlich zu machen, dass die Stasi eine gesamtdeutsche Angelegenheit war. Sie hat auch im Westen gewirkt. Unser Archiv ist ein gesamtdeutsches Gedächtnis. Da sind immer noch neue Erkenntnisse zu erwarten.

Wann werden wir die Akten von Helmut Kohl einsehen können?

Jahn: Die Akten von Helmut Kohl werden Sie gar nicht einsehen können, wenn Helmut Kohl nicht einverstanden ist. Erst 30 Jahre nach seinem Tod wird das möglich sein. Es muss klar sein: Das Archiv der Stasi ist ein Archiv, dass die Arbeits- und Wirkungsweise der Stasi offenlegt. Aber die Daten der Betroffenen, der Ausgespähten, der Bespitzelten werden geschützt. In diesem Sinne sind auch die Akten von Herrn Kohl geschützt. Offengelegt werden nur die Akten, wo er als Person der Zeitgeschichte in der Öffentlichkeit gewirkt hat und die Stasi ihre Bewertungen dazu abgegeben hat. Aber überall dort, wo Kohl als bespitzelter Mensch dargestellt wird mit Informationen, die menschenrechtswidrig zustande gekommen sind, werden sie nicht zur Verfügung gestellt. Ansonsten würden wir ja die Arbeit der Stasis fortsetzen. Dann würden wir die Kriterien, die wir von einem Rechtsstaat fordern, selbst aufgeben.

Wir hatten uns erhofft, die Stasi-Akten würden uns die Namen der Parteispender verraten?

Jahn: Das ist eben der Trugschluss. Unsere Behörde ist nicht dazu da, die Parteiaffären der Bundesrepublik Deutschland aufzudecken. Ich verstehe mich immer noch als Bürgerrechtler und sage: Genau das darf nicht passieren: Dass der verlängerte Arm der Stasi weiterwirkt und Bürgerrechte missachtet werden.

Müssen Sie immer wieder für Aufarbeitung streiten? In Brandenburg gibt es gerade einen Streit, ob eine Enquete-Kommission den Wiedervereinigungsprozess untersuchen darf.

Jahn: Brandenburg zeigt gerade, was passiert, wenn man Vergangenheit verdrängt und keinen offenen Umgang damit hat. Und wenn die Verantwortlichen von damals ohne Bruch Karriere machen. Das fällt ihnen jetzt auf die Füße. Brandenburg hat einige Jahre verschlafen und hat nicht konsequent dafür gesorgt, dass belastete Menschen nicht im öffentlichen Dienst wieder an Stellen kommen, wo sie dem Bürger in Vertrauenspositionen gegenübertreten können. Ein Stasi-Vernehmer, der Menschen im Verhör drangsaliert hat, konnte Leiter einer Polizeiwache in Cottbus werden. Das zeigt doch, dass dort ein Weg gegangen worden ist, der an den Interessen der Bürger vorbeigeht.

Wie weit muss man denn gehen, bei der Verfolgung einzelner? Sie selbst wollen 47 Mitarbeiter ihrer Behörde, die bei der Stasi waren, jetzt versetzen lassen?

Jahn: Das ist ein altes Problem, was immer noch einer Lösung bedarf. Und deshalb mein Appell an die Politik, dafür zu sorgen, dass in unserer Behörde keine ehemaligen Stasi-Mitarbeiter tätig sind. Wir sind eine sehr sensible Behörde, wir brauchen Glaubwürdigkeit. Die Bundesregierung arbeitet daran, anderswo Stellen für diese Personen zu finden.

Hat Sie der Widerstand gegen Ihr Dringen auf anderweitige Beschäftigung der Mitarbeiter überrascht?

Jahn: Nein, es gab doch sehr viel Zuspruch für mein Ansinnen. Auf öffentlichen Veranstaltungen habe ich viel Unterstützung für meine konsequente Haltung erfahren.

Sie sind jetzt 100 Tage im Amt. Wie steht Ihre Behörde heute da?

Jahn: Die Stasi-Unterlagenbehörde hat es geschafft, einen sorgsamen Weg der Aufarbeitung zu beschreiten. Das, was in der Anfangsphase befürchtet worden ist, dass es große Auseinandersetzungen gibt, mit Rache und Lynchjustiz, ist nicht eingetreten. Wenn wir jetzt sogar aus den arabischen Ländern Besucher haben, die sich darüber informieren wollen, wie wir das gemacht haben, zeigt das doch die Akzeptanz. Wir können stolz darauf sein, was in den vergangenen 20 Jahren geleistet worden ist.

Wie lange braucht man Ihre Behörde mit 1650 Mitarbeitern noch?

Jahn: Ich bin jetzt für fünf Jahre gewählt worden. Aufarbeitung hat kein Verfallsdatum, und Aufklärung ist eine Grundlage unserer demokratischen Gesellschaft. Und das Interesse lässt nicht nach. Wir haben im vergangenen Jahr 89000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht gehabt. Die Zahl der Anträge aus Wissenschaft und Forschung ist ungebrochen. Wir erarbeiten zudem Materialien für Schulen, die Lehrer für ihren Geschichtsunterricht verwenden können.

Hat denn jeder Lust zu dieser historischen Auseinandersetzung?

Jahn: Es gibt durchaus Lehrer in Ostdeutschland, die diesem problematischen Teil der eigenen Vergangenheit auch gern ausweichen. Deshalb muss man die Schüler befähigen, Fragen zu stellen. Aber es wächst eine Generation heran, die das auch tut. Sie fordert ihre Eltern und Lehrer heraus. Das gefällt mir sehr. Die jungen Leute sind frech, unverstellt, direkt.

Können Sie sich eine Eingliederung ins Bundesarchiv vorstellen?

Jahn: Diese Frage stellt sich im Augenblick gar nicht. Wir haben unsere Aufgaben aufgrund des Stasiunterlagengesetzes. Und die Frage, wo die Unterlagen irgendwann gelagert und wie sie genutzt werden, wird dann beantwortet, wenn sie wirklich ansteht. Wir haben aber eine sehr gute Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv in Koblenz.

Das Gespräch ist in der Rhein-Zeitung vom 13. Juli 2011 erschienen. Die Interviewer waren Rena Lehmann, Birgit Marschall und Gregor Mayntz