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"Die Wegbereiter der Freiheit sind Helden"

Sie waren zur Zeit der Montagsdemos ausgebürgert. Wie haben Sie zuerst vom Widerstand erfahren?

Roland Jahn: Ich war damals Journalist und in ständigem Kontakt mit meinen Freunden in Leipzig. Dort haben ja schon im Januar 1989 öffentliche Demos stattgefunden. Ich habe erfahren, dass Menschen verhaftet wurden. Und wie viele junge Menschen sich gegen das System auflehnen.

Waren solche Telefonate nicht gefährlich?

Jahn: Doch, man konnte in der DDR jederzeit wegen eines Telefongesprächs ins Gefängnis kommen. Aber das machte ja den Charakter der jungen Leute aus: Sie hatten keine Angst und wollten Widerstand leisten.

Sehen Sie Ihr Archiv-Material als historische Fundgrube?

Jahn: Ja, die Stasi hat überall Informationen gesammelt. Die Unterlagen sind nicht nur Dokumente des Unrechts, sondern auch Dokumente des Freiheitswillens. Sie zeigen, wie distanziert die Menschen teilweise das Regime gesehen haben und wie stark sie es kritisierten. Es gab Menschen, die den Kopf hingehalten und einzelne, die sogar ihr Leben riskiert haben, als die meisten noch ein zumindest formales Bekenntnis zum DDR-Staat abgaben.

Noch immer gibt es jährlich knapp 50.000 Anträge zur persönlichen Einsicht in Akten der DDR-Staatssicherheit. Welche Motivation steckt dahinter?

Jahn: Das ist sehr unterschiedlich. Mal geht es um die persönliche Familiengeschichte. Menschen, die ins Rentenalter kommen, möchten ihr Leben sortieren. Manche brauchen aber auch Unterlagen für den Rentenantrag. Sie suchen Belege für die politische Verfolgung. Oder es sind Menschen, die ins Gespräch gekommen sind. Die Enkelgeneration stellt Fragen wie: Warum war Opa im Gefängnis? Oder auch: Warum sind meine Grosseltern Funktionäre des Systems gewesen?

Wen hatte die Stasi im Blick – und wer ist eher ein unbeschriebenes Blatt?

Jahn: Je mehr man der Staatsmacht aufgefallen war, etwa durch viele West-Kontakte oder kritische Äusserungen, desto eher geriet man ins Visier der Stasi. Manchmal hat es aber auch völlig harmlose Bürger getroffen. In der DDR galt ja die Sippenverfolgung. Wenn man den falschen Cousin hatte, konnte man plötzlich von der Stasi überwacht werden – obwohl man selbst total unpolitisch war.

Ist es gut, die Wahrheit zu wissen? Schliesslich kann sie zu Enttäuschungen und Verletzungen führen. Etwa, wenn herauskommt, dass der nette Nachbar ein Spitzel war.

Jahn: Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Es kann tatsächlich auch belastend sein, schwarz auf weiss zu lesen, was andere der Stasi mitgeteilt haben. Natürlich ist jeder Einzelne frei, zu vergessen. Eine Löschung allerdings ist nicht möglich, dafür sind die Akten aus historischer Sicht zu wichtig. Aber man kann die Akten sperren, auch für Familienangehörige. Dann dürfen nur Forscher 30 Jahre nach dem Tod der Person in die Akte schauen.

Wie dick ist Ihre Stasi-Akte?

Jahn: Schon einige Tausend Seiten. Aber die Frage, wie dick eine Akte ist, ist gar nicht so entscheidend, weil manchmal auf nur wenigen Seiten Erschütterndes enthalten sein kann.

Was hat Sie besonders getroffen?

Jahn: Nachzulesen, wie die Stasi versucht hat, mich als Mensch und zusätzlich meine Familie zu beschädigen. Mich erschüttert, dass die Stasi in West-Berlin frei ein- und ausgehen konnte. Sie war sogar bei mir zuhause, ich habe Skizzen meiner Wohnung in Berlin-Kreuzberg in den Akten gefunden. Sie haben sogar den Schulweg meiner achtjährigen Tochter überwacht und aufgezeichnet.

Knapp 50.000 Anträge pro Jahr, das klingt nach einer Erfolgsgeschichte. Welche Schattenseiten hat Ihre Behörde?

Jahn: Wir haben uns in den letzten 30 Jahren sehr stark auf die Aufarbeitung des Wirkens der Stasi in der SED-Diktatur konzentriert. Die grundlegende Aufarbeitung der DDR-Gesellschaft kam bislang zu kurz. Dabei geht es um Fragen nach der individuellen Verantwortung. Wie verhalte ich mich in einer Diktatur? Passe ich mich an? Leiste ich Widerstand? Habe ich eine Mitverantwortung für das Unrechtssystem – durch mein Nichtstun, durch mein Schweigen? Bei solchen Fragen stehen wir erst am Anfang.

Haben Sie alle spannenden Akten ausgewertet oder gibt es noch Leichen im Keller?

Jahn: Unser Archiv besteht aus 111 Kilometern Akten. Das ist ein gigantischer Berg von Dokumenten. Hier kommt es immer wieder zu neuen Funden, die zeigen, wie perfide das Unrechtsregime DDR war. Es zeigt aber auch, wie Westdeutsche mit der DDR kollaborierten, zum Beispiel beim Thema Zwangsarbeit. In DDR-Gefängnissen gab es billige Zwangsarbeiter für West-Firmen. In der Bundesrepublik haben sich damals nur wenige dafür interessiert, unter welchen Bedingungen die billige Ware produziert wurde.

Kommen Experten aus anderen Ländern, um sich von Ihnen beraten zu lassen?

Jahn: Ja, wir haben viele internationale Gäste. Zum Teil aus Ländern, die selbst eine Diktatur-Erfahrung hatten wie in Lateinamerika, aber auch aus Korea oder Taiwan. Der türkische Journalist Can Dündar hat uns besucht, er lebt ja in Berlin im Exil. Er hat beim Anblick des Archivs die Hoffnung geäußert, dass er eines Tages die Dokumente des Unrechts in der Türkei einsehen kann.

Was muss 30 Jahre nach 1989 aus Ihrer Sicht passieren?

Jahn: Wir sollten weiterhin den Opfern gerecht werden und dafür sorgen, dass verschiedene Themen analysiert werden: zum Beispiel der adäquate Umgang mit Haftfolgeschäden oder die Frage der Adoption von Kindern politisch Verfolgter.

Würdigt die Bundesrepublik die Widerstandskämpfer ausreichend?

Jahn: Ich bin der Meinung, dass wir Opposition und Widerstand in der DDR stärker anerkennen sollten. Für die deutsche Demokratiegeschichte ist es wichtig, dass wir nicht nur an 1989 denken, sondern auch an den Widerstand in den 1950er, 60er und 70er-Jahren. Diese Wegbereiter der Freiheit sind Helden, sie machten die Wiedervereinigung Jahrzehnte später möglich. Bis heute gibt es keine zentrale Ausstellung in der Hauptstadt, die diese mutigen Menschen würdigt. Und leider auch kein Denkmal für die politisch Verfolgten.