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Diktatur begreifen, um Demokratie zu gestalten

Roland Jahn im Interview mit der Tageszeitung "Lausitzer Rundschau" vom 1. November 2014

Ein Plattenbau am Berliner Alexanderplatz, 7. Stock. Auf dem Schreibtisch von Stasi-Unterlagenchef Roland Jahn liegt eine Zeitung. Die Titelgeschichte dreht sich um Jahn und seinen besten Jugendfreund aus Jenaer Tagen, den späteren DDR-Leistungssportler Rolf Beilschmidt, der ihn für die Staatssicherheit ausspionierte. Die Vergangenheit ist auch 25 Jahre nach dem Mauerfall noch nicht vorbei. Im Gespräch mit der Lauzitzer Rundschau erläutert der 61-jährige einstige Bürgerrechtler, warum die Aufarbeitung weitergehen muss.

Herr Jahn, viele junge Menschen kennen die DDR allenfalls aus dem Schulbuch. Wir fragen Sie jetzt mal wie ein Jugendlicher: War die DDR ein Unrechtsstaat?

Jahn: Die DDR war ein Unrechtsstaat. Und es ist auch wichtig, dass wir das benennen. Weil dies bei der Aufarbeitung klar macht, dass es hier um ein System geht, bei dem vom Staat Unrecht ausging.

Aber so ein Begriff verzerrt das Leben der Menschen in der DDR.

Jahn: Mit dem Wort Unrechtsstaat ist nicht die Gesellschaft gemeint, erst recht nicht die Biografien der Einzelnen, sondern das System. Aber jeder Einzelne sollte sich schon die Frage stellen, wie er in diesem Unrechtsstaat gelebt hat. Wie er, vielleicht auch als kleines Rädchen, im System funktioniert hat. Und sicher gilt das für die größeren Räder, die SED-Funktionäre.

Sie sind als Bürgerrechtler in Jena verhaftet, inhaftiert und 1983 zwangsausgebürgert worden. Wie viel Hass auf die DDR ist jetzt noch in Ihnen?

Jahn: Gar keiner. Die DDR ist für mich Heimat. Das sind für mich vor allem die Menschen, mit denen ich gemeinsam versucht habe, in diesem Unrechtssystem ein Leben zu führen, das ein schönes Leben war.

Hass auf die konkreten Täter, die Sie verhört haben?

Jahn: Nein, auch nicht. Ich bin jemand, der daran glaubt, dass Menschen lernen. Ich möchte, dass wir aufklären, auch für sie. Und nicht abrechnen. Dass wir Verantwortung benennen, ohne Schuldzuweisung. Was mich ärgert ist, dass sich die Verantwortlichen von damals zum großen Teil bis heute ihrer Geschichte nicht stellen.

Ihr Heimat-Bundesland Thüringen bekommt jetzt womöglich als erstes überhaupt einen Ministerpräsidenten der Linkspartei. Wie empfinden Sie das?

Jahn: Wir leben in Freiheit und Demokratie. Die Revolutionäre von damals haben auch die Peiniger befreit - deswegen können sich auch alte Genossen jetzt Wahlen stellen. Aber die Politiker in Thüringen sollten schon wissen, dass die Opfer der SED-Diktatur sich verletzt fühlen, wenn dort ein linker Ministerpräsident regiert, egal wie er heißt. Weil sie die Linkspartei bis jetzt nicht als eine Partei wahrgenommen haben, der es mit der Aufarbeitung wirklich ernst ist.

Wer war wirksamer für die Aufklärung über die Wirklichkeit des Stasi-Staates DDR: Der Film "Das Leben der Anderen" oder Ihre Behörde?

Jahn: Das kann man nicht voneinander trennen. Der Film wurde möglich, weil es diese Behörde gibt. Das Stasi-Unterlagenarchiv hilft, umfassend über die Herrschaftsmechanismen in der DDR aufzuklären. Das wird in vielfältiger Form gestaltet, von wissenschaftlichen Werken bis zu Literatur und Film.

Der Europäische Gerichtshof gibt den Bürgern Europas im Internet ein Recht auf Vergessen. Warum genießen ehemalige Stasizuträger 25 Jahre nach dem Mauerfall dieses Recht immer noch nicht?

Jahn: Weil es um Verantwortung für das Funktionieren einer Diktatur geht, und die ist konkreten Menschen zuzuordnen. Außerdem gibt es so die Möglichkeit, dass Opfer und Täter aufeinander zugehen und sich versöhnen können.

Eine zweite Frage wie ein Jugendlicher: Ist das, was die Stasi mit den DDR-Leuten gemacht hat, so ähnlich wie das, was die NSA jetzt mit uns macht?

Jahn: Abhören ist abhören. Aber was ist der Auftrag? Die Staatssicherheit hatte den Auftrag, die Diktatur einer Partei zu sichern, auch durch Menschenrechtsverletzungen. Geheimdienste in der Demokratie haben die Aufgabe, Menschenrechte und Demokratie zu schützen. Wenn sie über die Stränge schlagen, dann sind alle herausgefordert, die Instrumente der Demokratie zu nutzen, um das abzustellen. Im Zweifel kann das Parlament einen Geheimdienst bei uns abschaffen. Das alles ging in der DDR nicht.

Es gab mit dem Stasi-Unterlagengesetz und der Gründung Ihrer Behörde einen spezifisch deutschen Weg der Aufarbeitung. War dieser Weg richtig?

Jahn: Er hat großen internationalen Anklang gefunden. Es war erstmalig in der Welt, dass die Akten einer Geheimpolizei, des Unterdrückungsapparates, nicht beseitigt oder verschlossen, sondern systematisch zugänglich gemacht werden. Dass es einerseits Transparenz gibt über staatliches Handeln, aber auch Datenschutz für die Betroffenen. Wir haben hier viele Gäste aus dem Ausland, etwa aus dem arabischen Raum, die sich informieren wollen.

Es wird über die Zukunft ihrer Behörde nachgedacht. Wird Roland Jahn der Abwickler der Stasi-Unterlagenbehörde sein?

Jahn: Mein Leitgedanke ist: Je besser wir die Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten. Deswegen muss die Aufarbeitung und Aufklärung weitergehen - egal, wie der organisatorische Rahmen dann ist. Das sind wir auch der jungen Generation schuldig, die die Dinge nicht selbst erlebt hat, weil sie sich vor ihrer Geburt in ihrer Heimat zutrugen.

Mit Roland Jahn sprach Werner Kolhoff