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Ein schmerzlicher Rauswurf und die Folgen - Wir haben alle Kompromisse gemacht

Roland Jahn im Interview mit der Nürnberger Zeitung, erschienen am 02. Oktober 2015

Nürnberg - Das vereinte Deutschland wird 25 Jahre alt. Roland Jahn ist ein Zeitzeuge der besonderen Art: Als Oppositioneller wurde er einst aus der DDR ausgebürgert. Als Journalist im Westen unterstützte er fortan die Bürgerrechtler im Osten. Seit 2011 leitet er die Stasi-Unterlagen-Behörde und damit die Aufarbeitung deutsch-deutscher Geschichte. NZ-Redakteurin Susanne Stemmler sprach mit dem 62-Jährigen über diese unerschöpfliche Aufgabe. Wie hoch ist in Ihrer Behörde noch der Bedarf an Akteneinsicht?

Roland Jahn: In den 90er Jahren waren die Anfragen natürlich noch zahlreicher. Insgesamt aber wurden über drei Millionen Anträge gestellt, inzwischen pro Monat etwa 5000. Ein Drittel davon sind Wiederholungsanträge. Bei den Erstanträgen werden mittlerweile zu 13 Prozent Anfragen von Angehörigen, Kindern und Enkeln gestellt, die in die Akten Verstorbener schauen wollen, weil es der Schicksalsaufklärung der Familie dient.

Warum warten die Menschen so lange damit, zu erfahren, ob und von wem sie ausspioniert wurden.

Jahn: Aus Gesprächen wissen wir: Manche Antragsteller haben die Zeit gebraucht, um gefasster mit der Information umgehen zu können. Die Erkenntnisse, wie die Stasi ins Leben der ganzen Familie eingegriffen hat, mit Abstand zu betrachten, fällt vielen leichter. Manche sind jetzt Rentner und finden erstmals Zeit. Viele sagen: Meine Enkel haben gefragt und ich suche nun die Antworten.

Was geschieht mit den Stasi-Unterlagen sonst noch?

Jahn: Wir stellen Akten auch für Gedenkstätten, Ausstellungsmacher, Wissenschaftler und Journalisten zur Verfügung. Schauen sie nur die aktuelle TV-Serie Weissensee: Schauspieler und Autoren haben unser Archiv zur Vorbereitung genutzt. Es gibt immer neue Anlässe zum Blick in die Akten. Die leisten Aufklärung darüber, wie die Herrschaftsmechanismen der DDR funktionierten.

Immer wieder ist zu lesen, dass Ihre Behörde 2019 geschlossen wird.

Jahn: Niemand denkt an die Schließung. Der Deutsche Bundestag hat klar formuliert: Der Gesamtbestand der Akten bleibt offen. Forschung und Bildung sollen weitergehen. Es wird jedoch nachgedacht, in welchen Strukturen die Arbeit der Behörde weitergeführt werden soll. Dazu hat der Bundestag eine Expertenkommission eingesetzt. Die soll etwa Vorschläge zur Zusammenarbeit der Archive des Bundes entwickeln.

Was haben die von der Stasi zerrissenen und in Zirndorf in mühevoller Kleinarbeit zusammengesetzten Akten ergeben?

Jahn: Wir haben eine Fülle von Erkenntnissen gewonnen, die unser Archiv ergänzen. Es gab einzelne Enttarnungen von Spitzeln, die im vereinten Deutschland in führende Funktionen kamen, wie etwa der Bundestagsabgeordnete und einstige Rektor der Humboldt-Universität in Berlin. Auch konnte im Detail dokumentiert werden, wie die Rote Armee-Fraktion in der DDR untergetaucht war. Oder die Vorgehensweise der Stasi mit Bundesbürgern bei der Einreise in die DDR. Deren Reisepässe wurden kopiert, um dann mit den gestohlenen Identitäten DDR-Agenten nach Westeuropa zu schicken.

Wird man es je schaffen, alle zerstörten Akten zu rekonstruieren und lohnt sich das überhaupt?

Jahn: Die Stasi sollte nicht entscheiden, was wir lesen können und was nicht. Aber wir kommen nur schrittweise voran. Aufwand und Nutzen dürfen dabei natürlich nicht aus dem Blick geraten.

Wie finden Sie es, dass bis heute Stasi-Mitarbeiter strafrechtlich unbehelligt ganz normale Leben führen?

Jahn: Die Täter von damals sind unter uns. Es ist juristisch schwierig, wenn ein Rechtsstaat einen Unrechtsstaat aufarbeiten will. Dass Menschen, die früher Unrecht begangen haben, heute rechtsstaatlich behandelt werden, ist ein Erfolg und Genugtuung für Leute wie mich, denen selbst Unrecht widerfahren ist. Umso bedeutsamer ist es, dass wir politische und moralische Aufklärung betreiben. Wichtig ist, dass die Opfer gewürdigt werden.

Auch in Ihrer Behörde gibt es noch immer Mitarbeiter mit Stasi-Vergangenheit. Warum eigentlich?

Jahn: Ich habe mit Dienstantritt deutlich gemacht, dass wir im Interesse der Opfer das Problem angehen müssen. Wir haben mit Unterstützung des Bundestags erreicht, dass ehemalige Stasi-Mitarbeiter zu versetzen sind. Von 48 sind jetzt noch 16 bei uns. Wir wissen, um wen es sich handelt. Die haben sich im Laufe der Jahre durchaus eingebracht in die Arbeit. Allerdings wollten wir verhindern, dass Leute, die Akteneinsicht nehmen, von ehemaligen Stasi-Offizieren am Eingang begrüßt werden. Das ist der Konflikt. Die Versetzung in andere Behörden ist ein respektvoller und rechtsstaatlicher Weg gewesen. Viele Versetzte haben Klagen eingereicht, aber nicht vor Gericht gewonnen. Das hat uns bestätigt.

Für viele Menschen ist die DDR bis heute untrennbar mit der Stasi verbunden, andere verharmlosen alte Zeiten und kultivieren eine Ostalgie. Wo stehen Sie?

Jahn: Jeder hatte seine Erlebnisse in der DDR. Ich kann ihnen viel Schlimmes erzählen: Knast, Rauswurf aus der Uni, Ausbürgerung. Ich habe aber auch viele schöne Zeiten in der DDR gehabt. Wir haben es uns schön gemacht - nicht wegen, sondern trotz des Staates. Auch in der Diktatur scheint die Sonne. Wichtig bei der Betrachtung der DDR ist heute, jeden Blickwinkel ernstzunehmen und Respekt zu haben vor den Biografien. Das ist meine Herangehensweise. Man kann nicht den Stab über DDR-Bürger brechen. Wir haben alle unsere Kompromisse gemacht. Die kann man nur vor sich selbst verantworten. Am Ende zählt aber der Maßstab der Menschenrechte. Danach war die DDR ein Unrechtsstaat.

Die gegenwärtige Flüchtlingskrise scheint vor allem auch bei den Menschen im Osten die Emotionen hochkochen zu lassen.

Jahn: Es gibt sie nicht, die Ostdeutschen. Klar, die Geschichte der deutschen Teilung trägt zu unterschiedlichen Reaktionen in der Gesellschaft bei. Trotzdem: Man kann nicht pauschal urteilen und sagen, dass der Osten für Ausländerfeindlichkeit steht. Die rechtsradikalen Übergriffe in Heidenau sind nicht der Osten, sondern Einzelne. Ich kenne genug Menschen dort, die für Menschenrechte stehen. Genaues Hinschauen lohnt sich. Und der Geist der friedlichen Revolution und das Einreißen der Mauer hat insofern eine aktuelle Bedeutung, als dass das scheinbar Unmögliche möglich ist, wenn man es anpackt.

Sind Sie mit dem Zusammenwachsen Deutschlands zufrieden?

Jahn: Ja. Ich sehe keine große Spaltung mehr. Wenn ich junge Leute frage, wo sie herkommen, antworten sie: aus Thüringen, Bayern oder Brandenburg. Klar, in 70 Jahren seit Ende der NS-Zeit hat sich im Westen schon länger eine Zivilgesellschaft entwickeln können. Da hinkt der Osten noch etwas hinterher. Das muss man einfach wissen statt Ost-West-Bashing zu betreiben. Wenn sich die Menschen auf ein gegenseitiges Kennenlernen einlassen, kann die Deutsche Einheit wunderbar gelebt werden.

Sie selbst hatten ja einst ein sehr gespaltenes Verhältnis zu Jenas Partnerstadt Erlangen. Haben Sie den Stadtvätern verziehen?

Jahn: Auch dieses Beispiel zeigt wie wichtig Aufarbeitung ist. Die Art, wie sich der damalige Oberbürgermeister Dietmar Hahlweg damit auseinandergesetzt hat, zeigt, wie auch ihn die Situation belastet hatte, und dass es eine Chance gibt, sich nach geschehenem Unrecht zu versöhnen. Es wurde erkannt, dass man ein Grundrecht nicht opfern kann, um eine scheinbar größere politische Sache zu retten. Man hat mein Grundrecht auf Versammlungsfreiheit geopfert für die Städtepartnerschaft Jena-Erlangen. Meine Verletzung war damals eine besondere, nämlich eine von demokratischen Partnern zugefügte. Bei der Grundfrage, ob die Politik bereit sein muss, den Einzelnen zu opfern, um das große Ganze zu erreichen, denke ich immer an Erlangen.