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"Einheit zeigt, dass das Unmögliche möglich ist"

Roland Jahn Im Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger, erschienen am 24. September 2015

Herr Jahn, Sie informieren zurzeit schwerpunktmäßig in Nordrhein-Westfalen über die Geschichte der Stasi. Hat das Gedächtnis im Westen spezifische blinde Flecken?

Roland Jahn: Es mag Menschen im Westen Deutschlands geben, die denken: "DDR? Was hatte ich denn damit zu tun?" Aber das ist eine vordergründige Frage. Denn es geht ja schon darum, wie sich der Einzelne - auch im Westen - damals mit dem beschäftigt hat, was in der DDR passierte. Hat er es ignoriert? Hingenommen? Vielleicht sogar gutgeheißen? So mancher West-Linker müsste erschrocken sein, wenn er gelegentlich seine Pamphlete aus den 70er Jahren angeschaut hat.

Was folgt daraus für die Gegenwart?

Jahn: Gerade in diesen Tagen, in denen wir 25 Jahre deutsche Einheit feiern, sollten wir uns klarmachen: Wir haben eine gemeinsame Geschichte. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist wichtig für unsere Werteentscheidungen heute: Wie verhalten wir uns zu dem, was in Diktaturen geschieht? Wie hilfsbereit sind wir gegenüber Menschen, die vor Verfolgung fliehen? Wie schützen wir Menschenrechte?

Verstehen Sie sich als Unruhestifter und Störenfried der Einheitsfeiern?

Jahn: Überhaupt nicht. Wir haben allen Grund zum Feiern. Die deutsche Einheit ist ein Erfolg. Ihr Signal, ihre Botschaft gilt bis heute: Auch das scheinbar Unmögliche ist möglich, wenn Menschen nur entschlossen genug sind, es anzupacken.

Mit einem aktuellen Wort der Kanzlerin gesprochen: Wir schaffen das . . .

Jahn: Auch dieser Satz gründet in den Erfahrungen von Mauerfall und deutscher Einheit. Und er macht deutlich, dass unser Zusammenleben auf der Achtung und Verteidigung der Menschenrechte basiert. Wie wir eine Gesellschaft organisieren, darüber kann und soll es in der Demokratie Streit geben. Aber unsere gemeinsame Verpflichtung auf die Menschenrechte, die muss unstrittig sein.

Ist sie das wirklich? Sind die Proteste gegen Flüchtlinge, die wir speziell in Sachsen erleben, womöglich ein Zeichen der Auflehnung des Ostens gegen den Westen - nach dem Motto: "Das ist nicht unsere, das ist eure Gesellschaft"

Jahn: Es gibt ja nicht "den Osten", nicht "die Ostler". Unzählige Menschen im Osten halten die Menschenrechte hoch und den Geist der friedlichen Revolution lebendig. Sie heißen Flüchtlinge willkommen, gerade weil sie selbst die Erfahrung von Unfreiheit, Drangsalierung und Verfolgung gemacht haben. Und brennende Flüchtlingsheime, bitte vergessen Sie das nicht, haben Sie auch im Westen. Natürlich ist die Zivilgesellschaft etwa in NRW mit ihrer 70-jährigen Geschichte tiefer verwurzelt als im Osten. Aber gerade darum plädiere ich auch für Respekt vor dem, was in den letzten 25 Jahren in den neuen Ländern erreicht worden ist.

Braucht es auch in Zukunft eine eigene Behörde für die Stasi-Unterlagen?

Jahn: Ich sehe unsere besondere Aufgabe darin, die Akten für Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung zu stellen sowie für Forschung und Bildung. National wie international geht vom Stasi-Unterlagen-Archiv eine besondere Symbolkraft aus. Allein in den vergangenen zwei Jahren hatten wir Besucher aus 40 Nationen. Erstmals sind in der Geschichte die kompletten Aktenbestände einer Geheimpolizei für die Gesellschaft zugänglich gemacht worden. Das sind nun mal keine Archiv-Dokumente wie andere, weil sie oft durch menschenrechtswidrige Aktionen entstanden sind. Wir müssen also die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen gewährleisten, während wir die Transparenz für das staatliche Handeln einer Diktatur schaffen. Dafür gibt es ein eigenes Gesetz, und es gibt einen Bundesbeauftragten, der auch als Ansprechpartner für die Opfer fungiert.

Wie weit ist die Wiederherstellung der Aktenbestände vorangeschritten, die in den Wirren der Wende von Stasi-Mitarbeitern zerrissen wurden?

Jahn: Wir haben inzwischen 1,5 Millionen Blätter neu zusammengesetzt.

Von insgesamt wie vielen?

Jahn: Wir gehen von schätzungsweise 48 Millionen Blättern aus oder - anders gesagt - von 600 Millionen Schnipseln Papier in 16 000 Säcken. Davon haben wir Unterlagen aus 500 Säcken wieder zusammengesetzt. Das Material erzählt viele Geschichten, die auch im Westen spielen. Wir konnten zum Beispiel rekonstruieren, wie die Stasi die Pässe von Westbürgern kopierte und mit gefälschten Duplikaten die eigenen Agenten auf Reisen geschickt hat. Oder es lassen sich die Wege von RAF-Terroristen verfolgen, die in der DDR untergetaucht sind.

Bis wann werden Sie den Gesamtbestand wiederherstellen können? Und lohnt sich das?

Jahn: Es darf nicht sein, dass am Ende doch noch die Stasi entscheidet, was wir zu lesen bekommen und was nicht. Für die Arbeit mit den zerrissenen Aktenbeständen setzen wir gemeinsam mit unserem wissenschaftlichem Partner, dem Fraunhofer IPK, seit anderthalb Jahren neben der manuellen Rekonstruktion auch eine spezielle Software ein, den E-Puzzler. Damit haben wir bislang das Material aus elf Säcken rekonstruiert, etwa 50 000 Seiten. Was jetzt noch fehlt, ist eine leistungsfähigere, effizientere Scan-Technik, um die Schnipsel zu erfassen. Der Anfang ist gemacht. Trotzdem ist derzeit eine Prognose des erforderlichen Aufwands und der Dauer schwer möglich. Kosten und Nutzen müssen im Verhältnis stehen.

Das Gespräch führten Joachim Frank, Peter Seidel und Wolfgang Wagner