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"Es geht um Aufklärung, nicht um Abrechnung"

Roland Jahn Im Interview mit der Hessisch Niedersächsischen Allgemeinen, erschienen am 26. September 2015

Vor über 30 Jahren wurden Sie von der DDR ausgebürgert, vor über 25 Jahren fiel die Mauer und der SED-Staat brach zusammen. Heute sind Sie 62 Jahre alt. Wird da der Blick auf die DDR milder?

Roland Jahn: Der Blick in die Geschichte, auch die eigene, hat in jedem Falle etwas Positives. Er schärft die Sinne für das heutige Leben und seine Probleme. Und er ermöglicht durch immer neues Wissen einen differenzierten Blick, auch auf die eigene Vergangenheit. Milder fällt mir da nicht ein. Es gibt immer wieder Stimmen, die die DDR eher als eine Art gemütlicher Diktatur charakterisieren, andere nennen sie Unrechtsstaat.

Woher rührt das?

Jahn: Auch in der Diktatur scheint die Sonne. In diesem Sinne kann man natürlich trotz des Charakters der DDR dort auch viel Positives erlebt haben. Es geht daher darum, einerseits Respekt zu haben für jede einzelne Biographie von Menschen, die dort gelebt haben. Andererseits gilt es aber auch die DDR als Unrechtssystem auszuleuchten, in dem eine Partei den Staat vereinnahmt hat, um mit menschenrechtswidrigen Methoden ihre Macht zu sichern. Manche scheuen sich, den Begriff Unrechtsstaat zu benutzen.

Woher rührt das?

Jahn: Angesichts dieses Begriffs fragen sich viele ehemalige DDR-Bürger, ob ihnen damit gleichsam ein unrechtes Leben unterstellt wird. Und sie müssen sich auch fragen, in welchem Verhältnis sie zum System standen, ob sie zu lange mitgemacht hatten, ob sie noch angepasst waren, als andere schon auf der Straße für Freiheitsrechte demonstrierten. Diese Scheu vor dem Begriff Unrechtsstaat ist menschlich durchaus verständlich.

Haben Sie ihre Autobiographie deshalb "Wir Angepassten" betitelt?

Jahn: Es war mir wichtig klarzumachen: Man wird nicht als Oppositioneller oder Staatsfeind geboren. Man ist immer auch Teil des Systems. Und so war es ein langer Weg, bis die Angst überwunden war. Deswegen kann man Menschen auch kaum einen Vorwurf machen, wenn sie sich angepasst haben. Mein Buch sollte eine Einladung sein zu erzählen, Gespräche zu führen. Es geht nicht um Abrechnung, es geht um Aufklärung.

Die SED hat sich mit dem Staatssicherheitsdienst einen Apparat geschaffen, der nahezu alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdrang. Wissen wir heute, wie viele DDR-Bürger sich von der Stasi einspannen ließen, wie viele DDR-Bürger gespitzelt haben?

Jahn: Aufgrund der Stasi-Akten haben wir jede Menge Zahlenmaterial. Wir gehen heute von 90 000 hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern aus und etwa doppelt so vielen Inoffiziellen Mitarbeitern. Aber da muss man jeweils sehr genau hinschauen. Jemand, der in der Stasi-Registratur als Inoffizieller Mitarbeiter festgehalten ist, hat vielleicht weniger gespitzelt als ein Parteimitglied, das aus der Hausgemeinschaft Informationen an staatliche Stellen geliefert hat. Es kommt weniger auf konkrete Mitarbeiterzahlen an als auf die Qualität des Systems von Bespitzelung und Denunziation.

Der Blick der Medien, der Politik, der Wissenschaft war immer sehr stark auf die Stasi fixiert, wenn es um die DDR ging. Ist diese Perspektive möglicherweise zu eng gewesen?

Jahn: Es war gleich nach dem Ende der DDR verständlich, dass Opfer wissen wollten, wie der Staat im Verborgenen in das Leben der Menschen eingegriffen hat. Deshalb fokussierte sich das Interesse zunächst auf die Stasi. Aber um das gesamte System zu begreifen, braucht es eine Horizonterweiterung. Es gilt, den ganzen Staatsapparat zu betrachten, vor allem aber den Alltag in der Diktatur. Dann begreifen wir vielleicht besser, wie und warum Menschen so handelten, wie sie es 40 Jahre lang taten. Dann begreifen wir, warum sie am Schluss die Angst verloren und sich die Freiheit erkämpften.

Aus heutiger Sicht ist es kaum nachvollziehbar, wie sich so intellektuell schlichte Apparatschiks wie Erich Honecker und Erich Mielke so lange unangefochten an der Spitze des Staates halten konnten...

Jahn: Ein ganz wichtiger Aspekt. Da wäre es auch wichtig, Menschen als Zeitzeugen zu gewinnen, die diese Jahre reflektieren können, die berichten können, warum es in der Staatspartei kaum Widerspruch gab.

Muss sich der Westen, die Politiker wie die Bürger, Vorsiewürfe bezüglich ihres Verhalten gegenüber der DDR und den undemokratischen Verhältnissen dort gefallen lassen?

Jahn: Aufarbeitung der Geschichte ist eine gesamtdeutsche Aufgabe. Deshalb sollten sich auch die Westbürger kritisch fragen, wie sie damals die DDR gesehen haben, ob sie nicht zu vieles akzeptierten, ob sie sich nicht mit Menschenrechtsverletzungen im anderen deutschen Staat abgefunden hatten. Diese Fragen sind wichtig, denn sie stellen sich auch mit Blick auf die Flüchtlinge, die gegenwärtig zu uns kommen.

Heute beantragen immer noch über 5000 Menschen monatlich Einsicht in ihre Stasi- Akte. Haben Sie Erkenntnisse über deren Motive?

Jahn: Die sind sehr unterschiedlich. Manche sagen, am Anfang hatte ich Scheu, in die Akte zu schauen, weil ich Angst hatte, Dinge zu erfahren, die mich seelisch belasten. Andere möchten jetzt als Rentner das Geschehene einordnen, weil sie von Kindern und Enkeln zum Leben in der DDR gefragt werden.

Ist das vielleicht auch eine Art von Emanzipation von der Diktatur?

Jahn: Ja, natürlich. Der Staat hat durch die Stasi manchmal tief in das Leben der Familien eingegriffen und es beeinflusst. Die Akteneinsicht ist also eine Wiederaneignung der eigenen Biographie, eine Rückgewinnung von Selbstbestimmung.

Die DDR ist seit einem Vierteljahrhundert Geschichte. Hat sie nicht dennoch Spuren im heutigen gesellschaftlichen Geschehen der neuen Bundesländer hinterlassen, wenn wir uns etwa das Pegida-Phänomen oder die Ausschreitungen gegen Asylbewerberheime anschauen?

Jahn: Natürlich spielt für unser heutiges Zusammenleben die Geschichte vorher eine große Rolle, weil sich Prägungen über mehrere Generationen hinweg erstrecken. Die Erfahrung von Demokratie und Toleranz Andersartigen gegenüber hat im Osten eine kürzere Wegstrecke erlebt. Aber man sollte vorsichtig sein mit einfachen Urteilen. Gerade die jungen Menschen, die jetzt als Rechtsradikale durchs Land ziehen, haben die DDR nie erlebt oder nur indirekt durch die Eltern. Einfache Antworten gibt es hier nicht.

Die Öffnung der Stasi-Akten war 1990 heftig umstritten. Wie fällt die Bilanz nach 25 Jahren aus?

Jahn: Mit der Öffnung der Akten ist dafür gesorgt worden, dass das Gift der Stasi nicht weiterwirken konnte. Es ist in der Öffentlichkeit. Zudem sagen uns die Akten einiges über das Funktionieren und die Mechanismen einer Diktatur. Dieses Wissen können wir kommenden Generationen an die Hand geben, wenn es gilt, Demokratie zu verteidigen. Dass unser Weg erfolgreich war, zeigt auch das große Interesse des Auslands. In den letzten zwei Jahren hatten wir Gäste aus über 40 Ländern. Sie wollten sich informieren, darüber, wie es dazu kam, die Akten zu öffnen, wie die Diktatur abgeschüttelt wurde und wie es dann zur Wiedervereinigung kam.

Das Interview führte von Wolfgang Blieffert.