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"Es geht um individuelle Verantwortung"

Roland Jahn im Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" vom 8. Oktober 2014

Roland Jahn wurde in der DDR wegen seiner Kritik am System bespitzelt, inhaftiert und später zwangsausgebürgert. Seit Januar 2011 ist er Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen. Ein Gespräch mit der Tagesszeitung "Die Welt" über den Begriff Unrechtsstaat, individuelle Verantwortung und die Vorwürfe seines Vaters.

Herr Jahn, war die DDR ein Unrechtsstaat?

Roland Jahn: Da gibt es keinen Zweifel. Die DDR war schon in ihrer Verfasstheit ein Unrechtsstaat. In der Verfassung wurde festgelegt, dass nur eine Partei eine führende Rolle hat, die es zu verteidigen gilt. Dazu hat diese dann die staatlichen Institutionen genutzt.

Warum tun sich viele Menschen mit diesem Bekenntnis so schwer?

Jahn: Das liegt auch an den Wortführern dieser Diskussion. Die SED-Funktionäre von damals nehmen im Nachhinein ein ganzes Volk in Haftung, wenn sie von "der ostdeutschen Biografie" sprechen und damit ein gemeinsames Gefühl suggerieren. Aber "die" Ostdeutschen gibt es nicht. Zwischen der Biografie eines SED-Funktionärs und eines Pfarrers gibt es große Unterschiede.

Worum geht es eigentlich?

Jahn: Es geht um das Verhältnis, das Menschen zum Unrechtsstaat hatten. Damit wollen sich viele nicht auseinandersetzen, aus Angst oder Verdrängung. Als ich als Journalist kurz nach dem Mauerfall erstmals mit der Kamera wieder in der DDR war, habe ich einen Gefängnisdirektor nach politischen Häftlingen befragt und der sagte: "Ich war doch nur für Ordnung und Sauberkeit zuständig."

Aber es gab ja auch welche, die ein normales, unauffälliges Leben geführt haben.

Jahn: Man muss klar unterscheiden zwischen einem Staat und einer Gesellschaft. Die Menschen in der DDR haben versucht, im Unrechtssystem zurechtzukommen. Sie haben Biografien, denen ich hohen Respekt zolle, gerade, weil es ein Unrechtssystem war. Sie mussten darin einen Weg für sich finden. In der Diskussion wird jetzt suggeriert, dass eine Kritik an diesem System auch eine Kritik an ihren Biografien ist. Das ist es nicht. Aber wir haben bis jetzt keine offene Diskussion darüber, in welchem Verhältnis die Menschen zu diesem Staat gestanden haben.

Was wäre für eine solche Diskussion notwendig?

Jahn: Ein Bekenntnis zur Biografie. Und zu dem, wie man in der DDR gelebt hat. Ein Rechtsanwalt kann sich fragen, warum er damals nicht erkannt hat, dass das ganze Justizsystem ein Schauspiel war. Warum hat er nicht aufbegehrt gegen Strafgesetze, die schon im Wortlaut deutlich machen, dass die Meinungsfreiheit unterdrückt wird? Warum ist nicht aufbegehrt worden gegen Mauer und Schießbefehl? Wer dieses Verhältnis für sich nicht geklärt hat, wird weiter versuchen , den Begriff Unrechtsstaat abzulehnen.

Wird der Begriff auch als Kampfbegriff benutzt?

Jahn: Nein. Das ist ein klarer, sachlicher Begriff, den man auch im Duden nachlesen kann. Und er ist wichtig für die Aufarbeitung. Wer den Begriff ablehnt, verhöhnt die Opfer. "Diktatur" ist dafür kein Ersatz. Weil dieser Begriff bereits in der DDR benutzt wurde, auch als "Diktatur des Proletariats". Er wird daher nicht mehr als das wahrgenommen, was er eigentlich bedeutet. Das Wort "Unrechtsstaat" verwende ich bewusst in der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit.

Einige wenden ein, es habe zwar Unrecht in der DDR gegeben, aber nur in bestimmten Bereichen.

Jahn: Es gab ein Ministerium für Staatssicherheit, Grenztruppen und einen Schießbefehl, es gab die Volkspolizei. Sie alle hatten den Auftrag, die Macht der Partei abzusichern, durch systematische Unterdrückung von Menschenrechten. Das ist ein Unrechtsstaat. Er drückt sich aus in den vielen Toten an der Grenze, den vielen politischen Häftlingen und den Problemen, die jene bekamen, die nicht auf Linie der Partei waren. Es wurde in diesen Fällen auch ins Arbeitsrecht eingegriffen, und in die Bildung, um Menschen auszugrenzen. Aber natürlich muss man sehen, dass diejenigen, die sich nicht mit der Partei anlegten, das Rechtssystem der DDR durchaus als rechtmäßig erleben konnten. Natürlich konnte man sich zum Beispiel scheiden lassen in der DDR, und das war dann
rechtskräftig.

Wer Recht bekam oder nicht, entschied am Ende also die Partei.

Jahn: Ja. Der Staat hat die Rechtsnorm dort verletzt, wo sie ihm gegen den Strich ging. Ich bin während der U-Haft aus meinem Betrieb geworfen worden, obwohl das rechtlich nicht zulässig war. Man machte mir einen Schauprozess. Hinterher sagte ein Stasi-Mann zu mir: "Sehen Sie, es kommt nicht darauf an, wer das Recht hat, sondern wer die Macht hat. Und das sind wir, im Interesse der Arbeiterklasse." Das sind die Sätze, an die ich mich erinnere. Das ist der Willkürstaat. Es gibt dafür Tausende von Beispielen.

Kommt Ihnen nach Ihren Erlebnissen nicht die Galle hoch, wenn mancher den Unrechtsstaat bestreitet?

Jahn: Nein, ich bin ein Mensch, der an Erkenntnisprozesse glaubt. Jeder, der sich an dieser Diskussion beteiligt, stellt ein Zeugnis für sich selbst, für sein eigenes Verhältnis zu diesem Staat aus. Was mich stört, ist, dass die, die dort Unrecht erlebt haben, mit solchen Diskussionen im Nachhinein noch einmal geschlagen werden.

Warum?

Jahn: Weil man ihnen nicht zugesteht, dass sie keine Chance hatten, für ihre Rechte den Staat zu nutzen. Wie viele Bittsteller gab es, die in Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden versuchten, Recht zu bekommen. Am Ende hat der Staat sogar noch zugeschlagen, wenn ihm die Eingabe nicht gefallen hat.

Gab es ein richtiges Leben im falschen?

Jahn: Selbstverständlich. Auch in einem Unrechtsstaat scheint die Sonne. Auch dort gilt die Straßenverkehrsordnung. Aber selbst die kann außer Kraft gesetzt werden, wenn sie den Interessen der Partei schadete.

Wo sind die roten Linien für dieses richtige Leben?

Jahn: Diese Diskussion müssen wir endlich führen. Es geht um Aufklärung, nicht um Abrechnung. Es geht nicht um Schuldzuweisung, sondern um individuelle Verantwortung. Jeder muss erst einmal für sich klären: Wo habe ich diesen Staat möglicherweise gestützt und warum? Das habe ich mich auch selbst gefragt. Wenn ich im Grundwehrdienst meine Übungen bei der Polizei gemacht habe, dann war ich Stütze des Staates und Teil dieses Unrechts. Genau da fängt es dann an, weh zu tun. Aber nach 25 Jahren muss diese Diskussion endlich einmal in einer neuen Qualität geführt werden.

Kritiker sagen: Nach 25 Jahren müsse man mit der Vergangenheit endlich einmal abschließen.

Jahn: Wir haben bis heute nicht begriffen, warum die DDR so lange funktioniert hat. Um das zu verstehen, ist die individuelle Auseinandersetzung damit notwendig.

In Ihrem neuen Buch "Wir Angepassten" klären Sie Ihr eigenes Verhältnis. Sie beschreiben darin, dass Sie sich schuldig fühlten, durch Ihre Kritik am System auch die Eltern in Schwierigkeiten gebracht zu haben.

Jahn: Das war ja das Dilemma. Dass die Folgen des eigenen Handelns andere in Schwierigkeiten gebracht haben. Deshalb haben sich auch viele angepasst. Manchmal mache ich mir Vorwürfe, dass ich auf andere zu wenig Rücksicht genommen habe.

Auch Ihr Vater hat Ihnen Vorwürfe gemacht.

Jahn: Ja, aber wir haben uns am Ende ausgesöhnt. Es war die Erkenntnis einer Auseinandersetzung mit unserem Verhältnis zu diesem Staat. Wir haben begriffen, dass es das Unrechtssystem war, welches uns in Situationen gezwungen hat, in denen jede Entscheidung Verletzungen zur Folge hatte. Die jetzige Diskussion ist eine Chance: Wer jetzt sein Verhältnis zur DDR klärt, der kann es seinen Kindern und Enkeln auch besser erklären.

In Thüringen wird vielleicht erstmals ein Politiker der Linkspartei Ministerpräsident. Für Sie eine erschreckende Vorstellung?

Jahn: Was mir Sorge macht, ist, dass viele Opfer des SED Regimes sich dabei verletzt fühlen. Weil sie bis heute nicht gespürt haben, dass es durch diese Partei eine Aufarbeitung gegeben hat, die den Opfern gerecht wird.

Das Interview führte Miriam Hollstein