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"Es ist nicht ausreichend, sich auf die Stasi zu konzentrieren ..."

Am 2. Oktober 1990, dem letzten Tag des Bestehens der DDR, wählte die Volkskammer den damaligen Abgeordneten Joachim Gauck zum Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. Am darauffolgenden Tag wurde er als Sonderbeauftragter der Bundesregierung in dieser Funktion bestätigt.

Mit Inkrafttreten des Stasi-Unterlagengesetzes am 29. Dezember 1991 änderte sich seine Amtsbezeichnung in "Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik". Aufgrund des sperrigen Titels wurde die Dienststelle des Bundesbeauftragten gemeinhin nach ihrem jeweiligen Leiter bzw. ihrer Leiterin als Gauck-, Birthler- und Jahn-Behörde bezeichnet.

Seit März 2011 hat Roland Jahn das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen inne. Nach der gesetzlich möglichen einmaligen Wiederwahl im Juni 2016 endet die zweite Amtszeit des ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers im kommenden Jahr. Nach dem Willen des Deutschen Bundestages wird das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen weiterentwickelt zu einem Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur. Um den Bestand der Stasi-Unterlagen dauerhaft zu sichern, hat das Parlament beschlossen, sie in das Bundesarchiv zu überführen.

Gegenüber "Erinnern!" zieht Roland Jahn zum bisherigen Umgang mit den Stasi-Akten Bilanz und äußert sich über deren künftige Unterbringung

Kai Langer: Herr Jahn, am 3. Oktober 2020 begehen wir den 30. Jahrestag der deutschen Einheit. Im Kontext dieses Datums steht auch die Erinnerung an die Entmachtung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Nachdem Sie 1983 einen oppositionellen Friedenskreis in Jena mitgegründet hatten, waren Sie noch im selben Jahr ausgebürgert worden. Wie haben Sie zunächst vom Westen aus den Zusammenbruch der SED-Diktatur und ihres Sicherheitsapparates erlebt?

Roland Jahn: Ich habe zu dieser Zeit als Journalist in West-Berlin für die ARD gearbeitet. Insofern war ich an dem Thema sehr nah dran. Bis zum Mauerfall haben wir mit unserer Berichterstattung die Entwicklung vom Westen aus begleitet – mit  Hilfe von Videoaufnahmen, die Oppositionelle in der DDR gemacht haben und die dann zu uns geschmuggelt wurden. Und ab dem 9. November 1989 war unser Team dann auch direkt in der DDR unterwegs und bei den wichtigsten Ereignissen dabei: Am Runden Tisch, bei den Besetzungen der Stasi-Dienststellen in den Bezirken, bei der Erstürmung der Zentrale in Berlin und beim ersten Gang des Bürger-Komitees in das zentrale Archiv der Stasi.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie erstmals die geheimen Aufzeichnungen der Staatssicherheit über sich lasen? Wie sind Sie in der Folgezeit jenen Menschen begegnet, die konspirativ Informationen über Sie gesammelt und an das MfS weitergeleitet haben?

Jahn: Beim diesem ersten Gang haben wir beschlossen, dass wir meine Akte ziehen, um das System zu verstehen. Ich war als Journalist dabei und habe mein Einverständnis gegeben. Bei diesem ersten Blick in meine Stasi-Akten war ich schon erschrocken, weil, das was man ahnte, stand dann schwarz auf weiß auf dem Papier. Sogar mein Leben in West-Berlin hatten sie unter Beobachtung genommen, inklusive einer Skizze meiner Kreuzberger Wohnung. Es ist so ein merkwürdiges Gefühl aus Irrsinn und Schaudern. Wir hofften ja, dass wir im Westen frei sind, unbeobachtet zu reden und zu handeln.

Ende kommenden Jahres jährt sich ein weiteres historisches Datum zum 30. Mal: Am 29. Dezember 1991 trat das vom Bundestag verabschiedete Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft. Im Vorfeld hatte es nicht an Stimmen gemangelt, die vor einer Öffnung des MfS-Archivs warnten. Die von manchen gefürchteten Racheakte an ehemaligen Zuträgern des Staatssicherheitsdienstes blieben aber glücklicherweise aus. Andere Kritiker monieren jedoch, die enge Fokussierung auf die Staatssicherheit hätte dazu geführt, das Agieren der Staatspartei aus dem Blick zu verlieren. Wie stehen Sie zu diesem Vorwurf?

Jahn: Die Stasi war "Schild und Schwert der Partei", der SED. Die hat dann, umbenannt in PDS, viel dafür getan, allein der Stasi die Schuld für das begangene Unrecht zu geben. Die Öffnung der Akten hat dann natürlich auch weiter in der öffentlichen Diskussion dazu beigetragen, die Stasi zu einem überragenden Thema werden zu lassen. Aber man kann nach drei Jahrzehnten sagen, es ist nicht ausreichend, sich auf die Stasi zu konzentrieren. Es gilt die Herrschaftsmechanismen der SED-Diktatur insgesamt zu betrachten. Auch dafür können die Akten der Stasi einen wesentlichen Beitrag leisten. Diese Öffnung des Archivs der Geheimpolizei in einer Diktatur war damals ein weltweit erstmaliger Akt. Wir verdanken sie den mutigen Bürgerinnen und Bürgern, die die Stasi-Dienststellen besetzt und die Akten gesichert haben. Das Stasi-Unterlagen-Archiv hat einen besonderen Charakter und einen hohen Symbolwert, den gilt es zu bewahren.

Worin sehen Sie die Bedeutung des Stasi-Unterlagengesetzes im Hinblick auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur?

Jahn: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist die Grundlage, auf der die Gesellschaft diese Unterlagen nach rechtsstaatlichen Regeln nutzen kann. Damit ist es gelungen, Transparenz des staatlichen Handelns herzustellen, insbesondere der Geheimpolizei, der Stasi, und gleichzeitig den Datenschutz, den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, die durch die Stasi verfolgt worden sind, zu gewährleisten. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz ist zum internationalen Vorbild geworden. In vielen Ländern der Welt hat man ähnliche Regelungen geschaffen und ist an einem Erfahrungsaustausch mit uns interessiert.

Obwohl der deutsche Umgang mit den Akten des DDR-Geheimdienstes in vielen Ländern, die diktatorisch regiert wurden, als beispielhaft gilt, soll Ihre Behörde in naher Zukunft abgewickelt werden. Halten Sie das das wirklich für nötig und richtig?

Jahn: Es ist nötig, die Errungenschaft der Nutzung der Stasi-Unterlagen für die Zukunft zu sichern. Zukünftige Generationen sollen sich ebenso ein Bild machen können von den Mechanismen einer Diktatur und auch den Opfern der Diktatur Respekt erweisen können. All das dient der Stärkung der Demokratie. Deshalb wird das Stasi-Unterlagen-Archiv Teil des Gedächtnisses der Nation. Damit werden die Stasi-Unterlagen per Gesetz zu "Archivgut des Bundes", das heißt per Definition in ihrem Gesamtbestand zu Unterlagen von bleibendem Wert erklärt und somit dauerhaft gesichert. Zudem müssen wir uns auch den Herausforderungen der Digitalisierung stellen, und dafür wollen wir Kompetenz, Technik und Ressourcen bündeln. In der ehemaligen Stasi-Zentrale wird eine Archiv-Zentrum geschaffen, in dem die Stasi-Unterlagen und andere DDR-Unterlagen wie z.B. die Haftakten der Opfer, im Bundesarchiv an einem Ort zugänglich sein werden.

Ihre Behörde versteht sich nicht zuletzt als eine Institution zur Erforschung und Aufarbeitung der Strukturen und des Wirkens des MfS. Mit diesem Profil war sie nicht zuletzt für die Bildungsarbeit in Gedenkstätten von großer Bedeutung. Wie soll die nun entstehende Lücke Ihrer Meinung nach gefüllt werden?

Jahn: Wir werden weiter, so wie bislang, ein wichtiger Dienstleister für Forschungs- und Bildungseinrichtungen und insbesondere für Gedenkstätten sein. Unsere eigenen Bildungs- und Informationsangebote konzentrieren sich ja auf die Vermittlung des besonderen Charakters der Stasi-Unterlagen als Hinterlassenschaft einer Geheimpolizei. Diese Vermittlung geschieht insbesondere an den historischen Orten, in Medien und im Internet. Damit wollen wir die Gesellschaft anregen, diese Akten zu nutzen. Unsere Aufgabe ist es, sie also bestmöglich zur Verfügung zu stellen. Daran arbeiten wir, auch befördert durch die neuen Strukturen.

Im Rahmen eines offiziellen Besuchstermins in Halle im Jahre 2017 haben Sie sich dafür ausgesprochen, die in unserem Bundesland überlieferten Stasi-Akten auf dem Gelände der heutigen Justizvollzugsanstalt Halle I unterzubringen. Zu diesem Vorschlag hat sich Ministerpräsident Rainer Haseloff auch zustimmend geäußert. Warum halten Sie den "Roten Ochsen" für einen geeigneten Aktenstandort?

Jahn: Zum Zukunftskonzept gehört auch die Verankerung der regionalen Stasi-Unterlagen in den ostdeutschen Ländern. Dort sind sie von der Stasi angelegt und in der Friedlichen Revolution erobert worden, dort sollen sie auch weiter bleiben. Für diese dauerhafte Aufbewahrung in den Ländern ist es angebracht, die Stasi-Unterlagen in Zukunft an jeweils einem Landesstandort zu bündeln und so besser Investitionen in archivgerechte Lagerung zu ermöglichen. Weitere wichtige Kriterien dabei sind die Nutzung der historischen Orte und die Einbindung in die Gedenkstättenlandschaft. Dafür bietet sich in Sachsen-Anhalt das Gelände rund um die Gedenkstätte "Roter Ochse" in Halle an. Die Akten und der Gefängnisort stehen in unmittelbarem Zusammenhang, so kann die Zusammenarbeit zwischen Gedenkstätte und Archiv ganz praktisch gestaltet werden. Wir können vor Ort ganz konkret aufzeigen, dass nicht nur Informationen gesammelt wurden, sondern dadurch auch Menschen im Gefängnis landeten. 

Richten wir den Blick in die nähere Zukunft: Was wird eigentlich aus dem Amt des Bundesbeauftragten nach Ihrem Ausscheiden im kommenden Jahr?

Jahn: Der Bundestag entwickelt das Amt des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen weiter zu einem Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur. Das heißt aus dem Beauftragten für die Akten wird der Beauftragte für die Menschen. Für mich ist dabei wichtig, dass dieser Beauftragte nicht auf das Thema Stasi fixiert ist, sondern sich um alle Opfer der SED-Diktatur kümmert.

Welche persönlichen Pläne haben Sie für die "Zeit danach"?

Jahn: Es ist an der Zeit, dass ein Generationswechsel erfolgt. Für mich ganz persönlich heißt das, mit 68 Jahren, die Lebenszeit zu nutzen, und beispielweise ohne vorgegebene Begrenzung auf Reisen zu gehen.

Die Fragen stellte Kai Langer, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt.