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"Es war nicht jeden Tag Terror"

Wiesbadener Kurier: Ist die Deutsche Einheit jetzt Geschichte, Herr Jahn?

Roland Jahn: Die Deutsche Einheit ist die Gegenwart. Sie wird gelebt.

Was bedeutet es konkret, dass das Bundesarchiv ab Sommer 2021 das Sagen hat?

Jahn: Es geht nicht um das Sagen, es geht darum, dass die Weichen gestellt worden sind, den Gesamtbestand der Stasi-Unterlagen dauerhaft zu sichern. Durch die Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv und bald als Stasi-Unterlagen-Archiv unter dessen Dach gibt es die Möglichkeit, die Ressourcen zu bündeln und Projekte wie das Archivzentrum in Berlin voranzutreiben. Dort werden Unterlagen der Stasi, der SED und anderer Ministerien der DDR zusammengetragen und für die Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden.

Was haben die Opfer der Stasi-Verfolgung davon?

Jahn: Ein Vorteil ist, dass Menschen auch in den Außenstellen des Bundesarchivs in Freiburg, Bayreuth und Ludwigsburg dann Unterlagen einsehen können. Das ist auch ein Beitrag zur gesamtdeutschen Einheit. Denn in den 40 Jahren der Existenz der DDR haben etwa vier Millionen Menschen das Land in Richtung Bundesrepublik verlassen.

Was muss noch erschließen werden? Was ist mit den Schnipseln in den 15000 Säcken?

Jahn: Wir setzen auf den Fortschritt. Bisher können wir mit digitaler Hilfe einzelne Dokumente zusammensetzen, aber es gibt kein massentaugliches, automatisiertes Verfahren. Außerdem hat die Stasi die Hälfte der 111 Kilometer Akten ungeordnet hinterlassen. Wir haben Fortschritte gemacht, es wartet aber noch Erschließungsarbeit auf uns.

Kommen noch Nutzer?

Jahn: Viele, die jetzt in Rente gehen, viele Ältere wollen mithilfe der Akten ihr Leben sortieren auch im Dialog mit Kindern und Enkeln. Wir erhalten jeden Monat 3000 Anträge zur persönlichen Akten-Einsicht, zusätzlich die Anfragen von Wissenschaftlern und Journalisten.

Wie gehen Sie mit dem „historischen Analphabetismus“ um?

Jahn: Es ist unsere Aufgabe, die jungen Menschen dafür zu interessieren. Keiner ist dazu verpflichtet, sich mit Geschichte zu beschäftigen. Wir müssen unsere Erkenntnisse so vermitteln, dass sie für Junge interessant sind. Da ist wichtig, die Grundsatzfragen zu behandeln. Werte wie Freiheit und Menschenrechte, Fragen des Rechtsstaates und der Demokratie.

Wie können Sie als betroffener Zeitzeuge helfen?

Jahn: Es geht darum, zu vermitteln, wie Menschen eine Gesellschaft erlebt haben, in der der Einzelne nichts zählt. Aus der eigenen Erinnerung zu vermitteln, wie das System auf den Einzelnen im Alltag gewirkt hat und wie man sich zwischen Anpassung und Widerspruch durchschlängelte, das sind wichtige Geschichten, die man als Zeitzeuge glaubhaft erzählen kann. Es war nicht jeden Tag Terror, auch in der Diktatur scheint die Sonne.

Was denken Sie über die anhaltende Kritik an der Einheit?

Jahn: Hinterher ist man immer klüger. Aber vielleicht sollte man auch das in den Blick nehmen, was geleistet wurde. Zum Beispiel, welche unglaublichen Leistungen die erste frei gewählte Volkskammer der DDR 1990 vollbracht hat, wie viele Gesetze dort verabschiedet worden sind, was alles auf den Weg gebracht, wie der Einheitsvertrag vorbereitet wurde. Da ist Enormes geschafft worden. Deshalb kann man über das, was nicht optimal gelaufen ist, heute lächeln und sagen „bei der nächsten Deutschen Einheit machen wir es besser“

Das Interview führte Stefan Schröder.