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"Es wird immer Menschen geben, die Mauern einreißen"

Der Beauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, erzählt im Interview, warum die Öffnung der Akten wichtig war und ist. Zudem nimmt er Stellung zur Linkspartei und erklärt, weshalb der Freiheitswille der Menschen nicht auf Dauer zu unterdrücken ist.

Herr Jahn, für viele Menschen - gerade in der alten Bundesrepublik - gibt es 25 Jahre nach der Wiedervereinigung eine einfache Gleichung: DDR ist Stasi. Wie erklären Sie sich diese Dominanz der Stasi im öffentlichen Bewusstsein?

Roland Jahn: Die Menschen haben ein großes Interesse an dem Thema, weil sie erfahren wollen: Was hat stattgefunden im Geheimen? Es übt eine gewisse Faszination aus, die Dinge aus dem Dunklen ans Licht zu ziehen. Und es geht um die Fragen: Wie gehen Menschen miteinander um? Warum sind sie bereit, ihre Mitmenschen zu verraten? Das Bedürfnis, das zu wissen, hat dazu geführt, dass das Thema Stasi auf großes Interesse gestoßen ist. Wichtig ist es, den Fokus nicht allein auf die Staatssicherheit zu legen.

Damals sorgte vor allem die Enttarnung prominenter Inoffizieller Mitarbeiter für dicke Schlagzeilen, während die eigentlichen Stasi-Methoden der Repression und Unterdrückung eher im Hintergrund blieben. Hat sich dieser Blick in der Zwischenzeit geändert?

Jahn: Ja. Wir haben viele Erkenntnisse gewonnen, wie dieser Apparat funktioniert hat. Vor allem aber ist deutlich geworden, dass es kein anonymer Apparat war, sondern konkret handelnde Menschen, die auch Verantwortung für ihr Tun tragen.

Die SED hat im Wendejahr 1989/90 ihre Verantwortung für die menschenverachtenden Gräueltaten in der DDR auf die Stasi abgeschoben und sich auf diese Weise reingewaschen. Wie konnte diese Taktik aufgehen?

Jahn: Das ist ein Phänomen, das nur schwer zu verstehen ist. Der SED und ihren Nachfolgern, der PDS und der Linkspartei, ist es gelungen, dass manch ehemaliger DDR-Bürger die berechtigte Kritik am System in der DDR auf sich und sein Leben bezieht. Gleichzeitig hat sich die Partei zur Interessenvertreterin der Ostdeutschen aufgespielt. Dabei vertritt die Linkspartei nur eine Minderheit der Menschen im Osten. Wichtig ist aus meiner Sicht, dass man sehr wohl das System kritisiert und die DDR als das benennt, was sie war, nämlich ein Unrechtsstaat, und doch Respekt hat vor der Würde und den Biografien der Menschen. Sie konnten es sich nicht aussuchen, in welchem Teil Deutschlands sie leben durften. Sie haben versucht, mit den Verhältnissen zurechtzukommen und das Beste daraus zu machen.

Das ist die alte Frage nach dem richtigen Leben im falschen Leben...

Jahn: Vor dieser alten Frage steht jeder Einzelne. Jeder muss für sich beantworten, wie er sich in dem Zwangssystem einer Diktatur verhält, wie viel Anpassung, wie viel Widerspruch er leistet.

Haben Sie Verständnis für die sogenannte Ostalgie der DDR-Bürger?

Jahn: Wenn sich die Menschen an schöne Zeiten zurückerinnern, die sie in diesem Land erlebt haben, an die Jugend, an die erste Liebe, dann hat das nichts mit Nostalgie mit dem DDR-System zu tun, sondern ist etwas ganz Normales. Ich weiß genau, was ich an Negativem in der DDR erlebt habe. Und trotzdem erinnere ich mich gerne an meine Zeit in der DDR zurück. Da gab es viele schöne Erlebnisse. Es war schön, nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates.

Auch nach einem Vierteljahrhundert ist die Zahl der Anträge auf Akteneinsicht sehr hoch. Wie erklären Sie sich dieses anhaltende Interesse an den Stasi-Akten?

Jahn: Es geht um unsere gemeinsame Geschichte. Die Menschen setzen sich mit ihrer Biografie auseinander, gleichzeitig findet ein Dialog mit der nächsten Generation statt. Junge Menschen, die die DDR nicht mehr erlebt haben, stellen ihren Eltern und Großeltern Fragen, wollen wissen, wie das Leben im geteilten Deutschland war. Und bei dieser Beschäftigung mit der eigenen Biografie hilft der Blick in die Stasi-Akten.

Stellt die junge Generation, die nach der Wende geboren wurde, andere Fragen als diejenigen, die die DDR noch erlebt haben?

Jahn: Die Jugendlichen setzen ihr eigenes Leben in Bezug zu dem, was ihre Eltern und Großeltern in der Vergangenheit erlebt haben. Fragen wie: Ordne ich mich unter?, Passe ich mich an?, Leiste ich Widerstand?, bewegen auch die jungen Menschen von heute, erst recht aktuelle Fragen wie Datensicherheit im Internet oder Menschenrechtsverletzungen. Da kann die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte helfen, die Sinne zu schärfen.

Die Stasi-Unterlagenbehörde hat von Anfang an auch auf die wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit gesetzt. Was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Erkenntnis dieser Arbeit nach 25 Jahren?

Jahn: Vor allem, dass es richtig war, die geheimen Akten zu öffnen, um sie für die Erforschung und Aufarbeitung der Herrschaftsmechanismen zu nutzen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es 1989/90 die Debatte gab, ob man die Akten vernichtet, für 30 Jahre wegsperrt oder öffnet. Die Entscheidung, derartige Akten erstmals in der Welt öffentlich zugänglich zu machen, hat dazu geführt, dass das Gift der Stasi nicht mehr weiterwirken konnte. Und sie hat weltweit Beachtung gefunden. Viele kommen und informieren sich, wie wir mit diesen Akten umgehen und welche Erkenntnisse wir gewinnen.

25 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die führenden Repräsentanten des Staates, der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin, ehemalige DDR-Bürger aus dem Dunstkreis der evangelischen Kirche - Joachim Gauck war Pastor, ebenso der Vater von Angela Merkel. Ist das Zufall - oder am Ende doch der Sieg der Zivilgesellschaft über die staatliche Repression?

Jahn: Hier sind zwei Menschen ihren Weg gegangen, die die neuen Freiheiten genutzt haben. Es war der Geist der friedlichen Revolution in der DDR, der es möglich machte, dass sie diesen Weg gehen konnten. Der Mauerfall war kein Zufall, war auch kein Geschenk der damaligen Bundesregierung, sondern etwas, das die Menschen selber errungen haben, weil sie ihr Schicksal in die Hand genommen haben.

Die DDR begründete die Aktivitäten der Stasi mit dem Kampf gegen den Klassenfeind, heute wird die Verschärfung der Sicherheitsgesetze mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet, auch westliche Geheimdienste überwachen ihre Bürger und wollen wissen, wer mit wem wie lange telefoniert. Warum misstrauen Staaten generell ihren Bürgern?

Jahn: So pauschal will ich das nicht gelten lassen. Wir haben eine Demokratie, in der die Arbeit der Nachrichtendienste gesetzlich klar geregelt ist. Der Auftrag ist, Freiheit und Demokratie zu schützen, auch mit Hilfe nachrichtendienstlicher Methoden. Diese Arbeit ist nicht gleichzusetzen mit dem, was die Stasi als Geheimpolizei zum Machterhalt der SED getan hat.

Sehen Sie die Gefahr, dass in der Abwägung zwischen Sicherheit und Freiheit die Freiheit immer den Kürzeren zieht?

Jahn: Wie viel Freiheit darf ich einschränken, um Freiheit zu schützen? Das ist ein ständiges Abwägen. Daher lehrt uns die Geschichte, wie wichtig eine strenge demokratische Kontrolle von Nachrichtendiensten ist.

Der ganze Aufwand der Stasi hat der DDR am Ende nichts genutzt. Ist dies, auch mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsbewegung, die Lehre der Geschichte, dass es Kräfte geben kann, die stärker sind als der ganze Apparat eines Staates?

Jahn: Auf Dauer ist der Freiheitswille der Menschen nicht zu unterdrücken, nicht mit Gesetzen, nicht mit Mauern. Es wird immer Menschen geben, die es schaffen, diese Mauern einzureißen. Das ist ja das ermutigende Signal der friedlichen Revolution: Diktatur ist überwindbar, Gesellschaft ist veränderbar. Nichts geht über die Menschenrechte. Wenn diese nicht gewährleistet sind, werden Menschen dagegen aufbegehren und danach streben, ihre Rechte wahrnehmen zu können.

Macht dies die hohe Attraktivität Deutschlands aus?

Jahn: Wir haben hier ein sicheres Fundament. Das war nicht immer so. Unser Grundgesetz garantiert: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Danach sehnen sich viele Menschen auf der Welt.

Das Interview führte Martin Ferber