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"Freiheit muss man sich nehmen"

Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen spricht sich im Gespräch mit der WELT am SONNTAG gegen Überheblichkeit im Umgang mit DDR-Biografien aus und reflektiert über eine "Schieflage" in der bisherigen Schwerpunktsetzung der Stasi-Unterlagen-Behörde: "Nur wenn wir auch die tägliche Anpassung und Unterwerfung betrachten, können wir die Diktatur wirklich verstehen".

Welt am Sonntag: Sollten wir unser Gespräch nach dem Motto „Journalisten fragen - Journalist antwortet“ führen?

Roland Jahn: Ich war mehr als 20 Jahre lang Journalist, also Aufklärer. Jetzt bin ich weiter Aufklärer, aber in einer anderen Funktion.

Fällt die Umstellung schwer?

Jahn: Überhaupt nicht. Ich bin gewohnt, neue Herausforderungen anzunehmen, und mir macht meine Aufgabe jeden Tag richtig Spaß. Ich habe meine Bereitschaft, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen zu werden, keine Sekunde bereut.

Welche journalistischen Tugenden befähigen für das Amt?

Jahn: Das Hinterfragen ist ganz wichtig. Bereit zu sein, Vorurteile wegzurecherchieren, undogmatisch an Themen heranzugehen.

Und welche Eigenschaften eines Journalisten sind eher kontraproduktiv?

Jahn: Bis jetzt ist mir da kein Punkt aufgefallen. Nehmen Sie etwa den Umgang mit einem ja wirklich nicht kleinen Apparat mit 1650 Mitarbeitern, der natürlich seine Eigenheiten hat. Ich habe schon in der ARD gelernt, Bürokratie kann sowohl hilfreich sein bei der Organisation von Arbeit, kann aber auch behindern. Das heißt, einzuschreiten, wo der Apparat behindert, und ihn fördern, wo er die Arbeit voranbringt.

Wo liegt der Schwerpunkt Ihrer Arbeit? Sehen Sie sich als Behördenleiter, Aufklärer des SED-Regimes oder als Anwalt der Opfer?

Jahn: Man kann das ja gar nicht trennen. Richtschnur meiner Tätigkeit ist ein Gesetz, das Stasiunterlagen-Gesetz. Ganz wichtig ist, dass die Opfer ihre Akten einsehen können, damit sie ihre Würde zurück bekommen können, die ihnen die Stasi durch den Eingriff in ihr Leben geraubt hat. Ich sehe die Stasiunterlagen-Behörde als einen Dienstleister für die Gesellschaft, damit Aufklärung stattfinden kann.

Bei Ihrem Amtseid haben Sie verzichtet auf die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe“. Warum?

Jahn: Ich bin zwar getauft und auch christlich erzogen, aber ich fühle mich nicht als gläubiger Christ.

Besteht vielleicht der nachhaltigste Triumph der SED in der radikalen Zerstörung christlicher Werte? Heute bezeichnen sich 70 Prozent der Ostdeutschen als konfessionslos, in Westdeutschland sind es lediglich 19 Prozent.

Jahn: Von einem „Triumph der SED“ würde ich in keinem Fall sprechen! Das DDR-Regime ist jämmerlich zugrunde gegangen, das ist historische Tatsache. Freiheit gilt auch für die Religion. Die Menschen haben die Freiheit, ihrem Glauben nachzugehen – oder eben nicht.

Aber Sie gehörten doch zur Jungen Gemeinde in Jena ...

Jahn: Mitglied war ich nicht. Ich habe mich im Umfeld der Jungen Gemeinde bewegt. In der DDR bot die Kirche jenen Menschen einen Freiraum, die den Staat kritisch betrachtet haben. Dort wurden Kritiker der DDR aufgenommen, es gab die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden - unabhängig davon, ob wir nun Christen waren oder nicht.

Jena war lange das Zentrum der Opposition gegen die SED. Wie hat Sie das beeinflusst?

Jahn: Vieles, was ich als Journalist getan habe und jetzt als Bundesbeauftragter tue, baut auf meiner Biografie auf. Meine Prägung in Jena mündete in dem Gedanken: Freiheit muss man sich nehmen! Wir haben nicht gewartet auf bessere Zeiten, sondern gesagt: Wir wollen selbstbestimmt leben! Das ist ein Motiv meines Lebens: Freiheit muss man sich nehmen.

Warum war eigentlich gerade in Jena der Protest so ausgeprägt, in diesem Universitätsstädtchen mit hunderttausend Einwohnern, eingebettet in Thüringer Berge?

Jahn: In den 70er-Jahren wollte die SED den VEB Carl Zeiss auf „Weltniveau“ bringen. Deshalb sind tausende Lehrlinge nach Jena geholt worden, aus der ganzen DDR. Darunter auch viele, die ein selbstbestimmtes Leben führen wollten. Im Talkessel haben wir uns gefunden: die Kinder der „Zeissianer“ und der Uni-Professoren, Studenten, Lehrlinge. So entstand eine ganz besondere Szene, die aber überschaubar blieb, weil die Stadt eben doch vergleichsweise klein war. Man kannte sich, man begehrte gemeinsam auf. Wenn zum Beispiel am 1. Mai tausende Einwohner an der SED-Kreisleitung vorbeimarschierten und jubelten, wanderten wir, rund hundert Langhaarige, über die Jenaer Berge. Die Stasi witterte gleich Konterrevolution.

Empfinden Sie Regionalstolz?

Jahn: Ja, natürlich! Wir in Jena haben ja viel an Repression erfahren, und wir sind stolz darauf, was aus unserer Opposition geworden ist: ein freies, geeinigtes Land.

Das SED-Regime hat Sie sicher zu Recht als „Staatsfeind“ eingestuft. Umso mehr verwundert ein Satz, den Sie vor einem Jahr in ihrer Heimatstadt gesagt haben: „Auch ich habe diese Diktatur zeitweise gestützt.“

Jahn: Das war am 17. Juni 2010. In Jena wurde ein Denkmal für politisch Verfolgte eingeweiht. Ich sollte die Festrede halten. Erst sehr spät ist mir aufgefallen, dass auch mein Name auf dem Denkmal steht. Das war mir fast etwas peinlich. Was sagt man bei einer solchen Gelegenheit? Ich wollte nicht als „Held“ der DDR-Opposition erscheinen. Auch in meinem Leben gab es Brüche. Sich dazu zu bekennen, ist zentral für die Aufarbeitung von Diktatur-Erfahrungen. Man sollte nicht so tun, als ob man schon immer gegen alles war. Zwar steht in meinem Zeugnis aus der 8. Klasse: „Roland neigt dazu, in Opposition zu treten.“ Aber auch ich bin lange in den Bahnen der DDR gelaufen, so sehr ich später anerkannter Gegner der SED-Diktatur war.

Nach Ihrer Ausbürgerung sind Sie ins eingemauerte West-Berlin gezogen. Warum nicht ins schöne Bayern?

Jahn: Nach meinem Rauswurf aus der DDR 1983 habe ich mich im Westen nach einer Stadt umgeschaut, die wie Jena ist: Tübingen, Heidelberg, Freiburg. Aber Heimat hat immer mit Menschen zu tun. Und die meisten Jenaer, die aus der DDR herausgekommen sind, durch Ausreise oder Flucht, lebten in West-Berlin. So fand ich ein neues Zuhause. Der zweite Grund war, dass ich von hier aus meine Arbeit fortsetzen konnte. Mein Ziel war weiterzumachen - so lange, bis die Mauer fällt. Als ich nach meiner unfreiwilligen Ausbürgerung meine Mutter in Jena anrief und sie mir sagte, man habe ihr den Sohn „gestohlen“, da habe ich begriffen, dass meine Freiheit im Westen nur eine halbe Freiheit ist, solange die Mauer steht.

Deshalb West-Berlin ...

Jahn: ... genau. Hier konnte ich ein Kuriersystem in beide Richtungen aufbauen. Hier unterstützten mich die Medien, der Sender Freies Berlin zum Beispiel, der meine Themen aufnahm.

Als die SED glaubte, Sie endlich vom Hals zu haben, verfasste der spätere Stasi-Oberstleutnant Bernd Hopfer einen „Abschlussbericht“. Eben dieser Offizier hat nach 1990 in der Stasiunterlagen-Behörde gearbeitet, in der Grundsatzabteilung, bis er 2007 in Pension ging. Hat Sie das irritiert?

Jahn: Ich habe es verwundert zur Kenntnis genommen. Ich bin diesem Mann immer sehr freundlich begegnet, aber ich habe auch öffentlich gesagt, dass ich das nicht akzeptabel finde. Für mich war und ist das eine Frage der Glaubwürdigkeit. Persönlich konnte ich damit relativ locker umgehen, denn die Stasi hat mein Leben nicht zerstört, wie das bei anderen Menschen der Fall ist.

In der Stasi-Unterlagen-Behörde sind 47 Ex-Stasi-Mitarbeiter beschäftigt. In der Rede zur Amtseinführung haben Sie das als „Schlag ins Gesicht der Opfer“ kritisiert. Ging da der Journalist in Ihnen durch?

Jahn: Das war ja kein Zitat von mir! Stasi-Geschädigte haben mir das gesagt, in der Zeit zwischen meiner Wahl und meinem Amtsantritt, als ich einige Opferverbände aufgesucht habe. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, das Problem öffentlich zu benennen: Ehemalige hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter in der Stasiunterlagen-Behörde beschädigen deren Glaubwürdigkeit.

Für den SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz enthielt Ihr Vorstoß „zu viel Eifer“.

Jahn: Herr Wiefelspütz hat das Recht, seine Meinung zu äußern. Wer allerdings meine bisherige Arbeit kennt, der weiß, dass ich für Differenzierung stehe. Nicht anders halte ich das jetzt als Bundesbeauftragter. Für mich zählen Sachlichkeit, Besonnenheit und Rechtsstaatlichkeit.

Wiefelspütz hat sich inzwischen wieder beruhigt. Die „Süddeutsche Zeitung“ hingegen kritisiert Sie scharf, weil Sie Mitarbeiter mit Stasi-Hintergrund in andere Behörden abschieben wollen. „Pardon wird nicht gegeben!“ sei wohl ihr Motto, kritisieren die Kollegen.

Jahn: Mein Ziel ist Versöhnung. Aber erst einmal müssen die Wunden der Opfer heilen können. Das heißt, die Täter müssen sich zu ihrer Verantwortung bekennen und glaubhaft bereuen. Auch die Menschen, die bis 1990 bei der Stasi tätig waren, haben eine zweite Chance verdient. Sie sollen sich einbringen können in die demokratische Gesellschaft – aber nicht in dieser Behörde.

Haben Sie Zusagen von Kulturstaatsminister Bernd Neumann?

Jahn: Zunächst habe ich das Problem offen benannt, die Politik noch mal wachgerüttelt. Es gibt jetzt konkrete Bemühungen, eine Lösung zu finden. Ich habe eine soziale Verantwortung auch diesen Mitarbeitern gegenüber. Wir sind hier auf einem guten Weg.

Auch nach zwei Jahrzehnten hat die Behörde immer noch einen Großteil der unzerstört überlieferten Stasi-Akten nicht archivarisch erschlossen. Das ist keine Glanzleistung.

Jahn: Unsere Ressourcen sind begrenzt. Wir müssen alles tun, um diese Bestände nach bestmöglichen archivwissenschaftlichen Kriterien zu erschließen. Dabei wollen wir stärker auf die Bedürfnisse der Nutzer eingehen.

Was heißt das konkret?

Jahn: Nehmen Sie die Findhilfsmittel. Zu vielen der Verzeichnisse hat bisher kein normaler Nutzer Zugang. Warum sollen auswärtige Historiker nicht gemeinsam mit unseren Archivaren recherchieren?

Spielen die Stasi-Akten bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur vielleicht eine zu große Rolle? So sehen das jedenfalls viele ehemalige DDR-Bürger.

Jahn: Die Stasi-Akten spielen keine zu große Rolle. Aber ich kann die Einschätzung verstehen: Die Konzentration auf die Staatssicherheit ist oft zu groß. Denn dadurch tritt der eigentliche Auftraggeber in den Hintergrund, die SED. Hier ist ohne Zweifel eine Schieflage eingetreten. Im übrigen sollte der Alltag stärker in den Blick der Aufarbeitung genommen werden, denn nur wenn wir auch die tägliche Anpassung und Unterwerfung betrachten, können wir die Diktatur wirklich verstehen.

Wie oft haben Sie als Journalist Anträge zur Herausgabe von Stasi-Akten gestellt?

Jahn: Ich habe es nicht gezählt. Auf jeden Fall sehr viele.

Von der ARD haben Sie sich nur beurlauben lassen. Kehrt Roland Jahn nach fünf Jahren in den Journalismus zurück?

Jahn: Ich bin für fünf Jahre gewählt, das ist jetzt meine Perspektive. Die Beurlaubung bei der ARD gibt mir Freiheit. Ich muss und werde nicht am Amt des Bundesbeauftragten kleben. Meine Aufgabe ist zeitlich befristet, und ich möchte sie so gut wie möglich erfüllen.

Das Gespräch führten Sven Felix Müller und Uwe Müller