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"Hinter jeder Akte steht ein Schicksal"

Fast auf den Tag genau vor 20 Jahren nahmen die ersten Bürger Einsicht in ihre Stasi-Akten. Roland Jahn war damals schon ausgebürgert. Als vermutlich letzter Leiter der Stasi- Unterlagenbehörde will er das Erbe der Staatssicherheit für die Gesellschaft nutzbar machen. Ein Interview mit den Stuttgarter Nachrichten vom 28. Januar 2012

Herr Jahn, wie ist das Verhältnis Ihrer Behörde zu den Menschen in der früheren DDR? Werden Sie als derjenige empfunden, der "uns immer noch Stasi und DDR-Unrecht vorhält"? Sie sind also eher der Bürgerbeauftragte für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit als der Stasi-Unterlagenbeauftragte?

Roland Jahn: Wir sind Dienstleister der Gesellschaft. Für mich ist wichtig, vom Bürger zu erfahren, was er braucht und wie wir Aufarbeitung organisieren müssen, damit die Vergangenheit auch für die jungen Generationen sinnlich erfahrbar wird und zur Lebenshilfe wird.

Also weg von den Stasi-Akten?

Roland Jahn: Nein. Wir sollten die Millionen von Stasi-Akten nutzen, um deutlich zu machen, wie der Überwachungsstaat funktioniert hat. Hinter jeder Akte steht ein Schicksal. Das kann man zum Beispiel in einem Film erzählen. Wir haben dem Filmprojekt "Es ist nicht vorbei" Unterlagen über den Stasi-Frauenknast Hoheneck zur Verfügung gestellt. Sechs Millionen Zuschauer sahen, wie im Spielfilm eine Frau einen heutigen Professor überführen konnte, der sie damals als Stasi-Arzt verraten hatte. In der Dokumentation "Kurzer Prozess" spielte ein acht mal acht Zentimeter großer Zettel aus dem Stasi-Archiv eine zentrale Rolle. Er war für die Stasi das Beweisstück, dass acht Jugendliche im Sommerurlaub 1961, wenige Tage nach dem Mauerbau, den Kapitän eines Ausflugsschiffs auf der Ostsee angeblich nötigen wollten, nach Bornholm durchzubrennen. Die jungen Leute schrieben auf diesen Zettel aus reinem Übermut "Wir wollen nach Bornholm" und unterschrieben mit Neptun. Dafür wurden sie bis zu acht Jahre ins Gefängnis gesteckt.

Wie steht es um die Aufarbeitung im Umfeld: Fragen junge Leute ihre Angehörigen, Nachbarn oder Lehrer, ob die bei der Stasi waren?

Roland Jahn: Meine Erfahrung ist: Die Jungen wollen erst einmal wissen und verdammen nicht gleich - konkret in den Familien wollen sie von ihren Eltern wissen: Warst du etwa auch dabei? Warst du angepasst? Oder in der Opposition? Sie wollen einen Umgang mit der Vergangenheit herausfordern. Manche sagen, es sei ein Hauch von 68 dabei, weil auch die Jugend 1968 ihre Eltern oder Lehrer, die Teil des NS-Systems waren, herausfordern und sie nach ihrer Rolle befragen wollten.

Verläuft das heute ähnlich fordernd und konfrontativ wie 1968 in Westdeutschland?

Roland Jahn: Das Naziunrecht ist etwas Einmaliges. Die 68er Bewegung war so konfrontativ, weil die NS-Zeit angesichts der Brutalität des Unrechts der Nazis sehr heftige Gegenreaktionen provozierte. Wir liegen mit der SED-Aufarbeitung im Vergleich der Epochen quasi im Jahr 1967: Zweiundzwanzig Jahre nach Akteneinsicht und Aufarbeitung von Staatssicherheit haben wir heute, im Gegensatz zu damals, aber durchaus ein Klima der Aufklärung. Wenn es uns gelingt, nun noch stärker die persönliche Verantwortung zu benennen und jene herauszufordern, die mitgemacht und die Unterdrückung der Menschen angeleitet haben, kann es auch zum Dialog mit den Verantwortlichen kommen. Meine Aufgabe ist es, Vorsorge zu betreiben, damit es nicht zu einer neuen Art 68 kommt - weder in den Familien noch in der Gesellschaft.

Geht es dabei nur um Staatssicherheit?

Roland Jahn: Wir sollten uns nicht allein auf die Geheimpolizei fixieren; das lenkt von den Hauptverantwortlichen, der SED-Führung, ab. Es gibt Defizite, weil auch in Schulen zu wenig DDR-Geschichte unterrichtet wird und zu wenig Aufarbeitung durch Aufklärung geschieht.

Sie werden angefeindet, weil Sie 45 Mitarbeiter Ihrer Behörde wegen deren Stasi-Vergangenheit versetzen lassen, obwohl sie wegen ihrer Kenntnisse dort beschäftigt wurden . . .

Roland Jahn: . . . man kann darüber unterschiedlicher Meinung sein, ob es richtig war, sie hier einzustellen. Entscheidend ist: Wir müssen das Problem lösen. Ich nehme Rücksicht auf Menschen, die unter der Stasi gelitten haben und heute in dieser sensiblen Behörde nicht auf frühere Stasi-Leute treffen wollen. Es soll damit aber keiner bestraft werden, daher eine Versetzung auf gleichwertige Stellen.

Wie wird der Charakter der Behörde in den nächsten 20 Jahren sein?

Roland Jahn: Wir stehen als Dienstleister zur Verfügung, solange wir gebraucht werden. Dazu gehören die Akteneinsicht für Bürger, Medien und Wissenschaftler und die Überprüfung im Öffentlichen Dienst. Mir ist es wichtig, dass wir einen Gewinn daraus schöpfen, uns mit dieser Vergangenheit zu beschäftigen. Zum Wohle der Demokratie.

Sie haben als ausgewiesener DDR-Oppositioneller nach der Wende als Journalist über Rechtsextremismus in den neuen Ländern berichtet. Hat die DDR-Sozialisation den Rechtsextremismus bis hin zur Thüringer Neonazizelle NSU befördert?

Roland Jahn: Es gibt keine einfachen Wahrheiten, und auch der Werdegang der drei Neonazis aus Thüringen ist sicher vorwiegend in deren persönlichem Umfeld aufzuklären. Wir werden die Wahrheit über die NSU nicht herausfinden, wenn wir da verallgemeinern. Aber bei den jungen Glatzen, die ich damals als Journalist getroffen hatte, hat das Verhalten der Eltern in der DDR schon befördert, dass sie rechtsradikale Sprüche klopften. Sie haben mir mehrfach gesagt: "Wir stehen konsequent zu unserer radikalen Meinung. Wir sind nicht wie unsere Eltern, die sich angepasst und untergeordnet haben." Sie fühlten sich wie die Aufrechten und waren stolz darauf, Widerspruch anzumelden. Doch darauf kann man nicht stolz sein. Der Widerspruchsgeist von Neonazis steht gegen alles, wofür die Demokratie steht: Menschenrechte, Toleranz und Respekt.

Das Interview führte Claudia Lepping