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"Je besser wir Diktatur begreifen, desto besser können wir Demokratie gestalten"

Ein Interview von Regierung-Online mit Roland Jahn 50 Jahre nach dem Mauerbau in Berlin. Das Gespräch erschien am 1. Juni 2011 im Magazin für Soziales und Familie auf www.bundesregierung.de

Herr Jahn, 50 Jahre Mauerbau: Spielte die Mauer in Ihrem Denken eine Rolle, als Sie anfingen, gegen das SED-Regime zu rebellieren?

Roland Jahn: Sie spielte eine Rolle. Wenn ich als Jugendlicher nach Ostberlin fuhr, ab Schönefeld immer an der Mauer entlang, sah ich auf der anderen Seite die Hochhäuser. Der Westen so nah und doch so fern. Da entstand die Sehnsucht: Ich will wissen, was dahinter ist, wie die Menschen dort leben.

Was ja aber nicht möglich war.

Roland Jahn: Deshalb habe ich gesagt: Das kann kein Dauerzustand sein, das muss sich ändern. Wir hatten in Jena immer eine Hoffnung: Uns irgendwann zum 1. Mai in Paris unterm Eiffelturm treffen zu können. Am 1. Mai gingen wir, die oppositionelle Szene in Jena, immer demonstrativ wandern, während andere an der Parteileitung vorbeizogen und ihre Huldigungen abgaben. Wir gingen wandern und sagten: Irgendwann treffen wir uns in Paris. Das war die Sehnsucht nach Ferne, die Sehnsucht nach – ja, der offenen Welt.

Haben Sie sich in der Zwischenzeit mal in Paris getroffen?

Roland Jahn: Mit Einzelnen, ja. Und ich habe in Paris unterm Eiffelturm meinen 50. Geburtstag gefeiert. Zwei Millionen Franzosen waren da, weil (lacht) ich am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, Geburtstag habe. Das, was die Franzosen mit ihrer Revolution, mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erreicht haben, das war ein Traum, der mich stets begleitet hat. Und als ich das erlebte, war das ein irres Gefühl. Für eine Sekunde dachte ich, die zwei Millionen seien alle wegen mir da, um sich mit mir zu freuen.

Ohne Mauer hätte das SED-Regime Sie gar nicht gewaltsam rausschmeißen können – hätte das nämlich gar keinen Sinn gemacht. Kann man sagen, die Mauer hat Sie geprägt?

Roland Jahn: Ja. Einmal, weil ich diese Sehnsucht hatte, sie zu überwinden und immer wieder gesagt habe: Die Mauer muss weg. Andere haben gesagt: Wir können sowieso nichts machen, wir richten uns in den Verhältnissen ein. Ich habe entgegnet: Auch wenn es unwahrscheinlich scheint, man darf nie aufgeben. Als ich dann gewaltsam in Knebelketten aus meiner Heimat abtransportiert worden bin, sah ich plötzlich, wie die Mauer ja von der anderen Seite für mich wieder da war. Ich war jetzt im Westen – scheinbar in der Freiheit. Aber es war nur eine halbe Freiheit. Ich wusste: Solange diese Mauer steht, ist es nur die halbe Freiheit. Weil ich meine Mutter am Telefon im Ohr hatte. Sie weinte und sagte: Man hat uns unseren Sohn gestohlen. Das heißt, die Mauer stand zwischen unserer Familie.

Jahrelang haben Sie ihre Freude in Jena und andernorts vom Westen aus – über die Mauer hinweg – unterstützt. Jürgen Fuchs, der das ebenfalls getan hat, hat von Versuchen der Stasi berichtet, ihn in West-Berlin mundtot zu machen. Erging Ihnen das ähnlich?

Roland Jahn: Ich spürte die Stasi in West-Berlin, ich sah sie, wie sie mich beobachtete. Ich hatte das Gefühl, sie sind nah dran, aber ich wollte mich nicht verrückt machen lassen. Ich wusste, die Stasi kann ungehindert nach West-Berlin. Es gab keine Kontrollen für die Stasi. West-Berlin lag mitten in der DDR. Richtig bewusstgeworden ist mir das erst, als ich in meine Stasi-Akte schaute. Da war das, was ich verdrängt hatte, ganz konkret da. Ich sah die Skizze meiner Wohnung in West-Berlin, ich sah die Zeichnungen des Umfeldes. Ich sah Beschreibungen des Schulweges meiner Tochter. Ich sah die Maßnahmenpläne zur Verwanzung West-Berliner Kneipen. Ich sah die Spitzelberichte aus West-Berliner Kneipen. Das war schon erschreckend, das ging unter die Haut.

Was andere heute unter den Teppich zu kehren versuchen, das holen Sie darunter hervor. Warum?

Roland Jahn: Für mich es eine innere Haltung, aufzuklären. Ich will, dass die Gesellschaft weiß: Freie Information ist eine Grundsäule unserer Demokratie. Und deswegen sage ich: Wir müssen alles wissen, auch die dunkleren Kapitel unserer Geschichte, um auch differenziert bewerten zu können. Aufklärung ist die Grundlage dafür, dass wir auch Biografien differenziert bewerten können. Wer auf Aufklärung verzichtet, der verzichtet auf die Chance, dass Gesellschaft befriedet wird.

Es gibt Gegenstimmen, die sagen, das trägt nicht zur Befriedung bei, sondern hält die Gesellschaft immer in einer gewissen Unruhe und schafft Unfrieden.

Roland Jahn: Wer etwas unter den Teppich kehrt, der schafft vielleicht für eine kurze Zeit Ruhe, aber es kommt immer wieder hoch. Und deswegen bin ich der Meinung, dass man gleich alles offenlegen soll, damit jeder die Chance hat, sich eine Meinung zu bilden. Etwas unter den Teppich kehren, heißt auch immer: Es gibt Herrschaftswissen, es gibt Leute, die Bescheid wissen und damit arbeiten können. Etwas rauszuholen, aufzuklären, heißt: Alle können teilnehmen. Freie Meinungsbildung – das ist Demokratie.

Ist die Wahl zum Stasi-Beauftragten für Sie so etwas wie eine Bestätigung für ihr jahrelanges Engagement?

Roland Jahn: Einen Hauch Anerkennung spüre ich schon. Anerkennung für den Weg, den ich gegangen bin, nämlich aufzuklären, 30 Jahre als Journalist über Missstände zu berichten. Dieser Weg war mir wichtig. In meiner neuen Funktion kann ich ihn fortsetzen.

Was macht die Jahn-Behörde anders als die Birthler-Behörde?

Roland Jahn: Schwer zu sagen, ich habe ja gerade erst angefangen. Eins ist sicher: Dass diese Behörde über 20 Jahre eine erfolgreiche Arbeit gemacht hat, international anerkannt ist, ein Vorbild ist – in Osteuropa, aber jetzt auch im arabischen Raum. Auf diese Vorbildwirkung können alle stolz sein – stolz darauf, dass wir es in Deutschland geschafft haben, einen Weg zu finden, rechtsstaatlich mit dem Erbe einer Diktatur umzugehen und auszugleichen, so dass nicht Mord und Totschlag herrschen, sondern das Offenlegen der Akten ein Gewinn ist. Das ist eine große Leistung, die in der Welt einmalig ist.

Mir ist wichtig, auch neue Themen zu setzen. Es ist mir wichtig, dass wir begreifen: Wie hat Diktatur funktioniert und wie hat das System der Angst, das die Staatssicherheit erzeugt hat, funktioniert? Warum haben sich Menschen an diese Diktatur angepasst? Das ist eine ganz wichtige Frage, weil wir dadurch auch etwas für hier und heute lernen. Mit der Frage, wann passe ich mich an oder wann widerspreche ich, können wir jedem Einzelnen auch eine Art Lebenshilfe geben. Und mein Leitsatz lautet: Je besser wir Diktatur begreifen, desto besser können wir Demokratie gestalten. Gerade junge Menschen wollen sich nicht nur mit dem Blick zurück beschäftigen. Wir müssen ihnen ein Angebot machen, dass sie das Gefühl haben: Das hat etwas mit mir zu tun, wenn ich mich damit beschäftige. Das ist eine neue Herausforderung, umso weiter diese Zeit zurückliegt.

Wann hat Ihre Behörde ihre Aufgabe erfüllt?

Roland Jahn: Wir sind Dienstleister der Gesellschaft. Sie muss entscheiden, ob sie diese Dienstleistung haben will. Eins ist sicher: Die Aufklärung wird nie zu Ende sein. Deshalb müssen die Akten immer zur Verfügung stehen, es muss immer ein freier Zugang möglich sein. Bildung und Forschung kann es nie genug geben. Die Art und Weise, wie diese Aufklärung erfolgt, gilt es so zu organisieren, dass sie der Gesellschaft am besten nützt. Es ist dann egal, was draußen auf dem Türschild steht. Wichtig ist, dass Aufklärung stattfindet.

Immer noch stellen Bürgerinnen und Bürger Anträge auf Einsicht in diese Akten. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sie das erst jetzt – über 20 Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung – tun?

Roland Jahn: Es ist eine sehr emotionale Angelegenheit, in seine Akte zu schauen. Viele hatten Angst davor, dass sie damit nicht zurechtkommen. Der zeitliche Abstand ist oft eine Hilfe. Und zunehmend stellen auch die Kinder Fragen – ihren Eltern, Großeltern und auch Lehrern: Wie war das damals? Die Akten, sie sind ein wichtiger Denkanstoß – zur Erinnerung und gegen das Vergessen.