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"Kein Amt für die absolute Wahrheit"

Die OZ sprach mit dem Chef der Stasi-Unterlagenbehörde Roland Jahn über Rechtsstaat und Brechstange, über Schuld, Verstrickung und Sühne sowie die Zukunft der "Jahn-Behörde"

Herr Jahn, machen Sie jetzt Urlaub von den Stasi-Akten, von der Vergangenheit?

Jahn: Ich habe zwar vor, ein paar Tage an der Ostsee entlang zu radeln, doch mein Thema, die Aufklärung der Stasi-Vergangenheit, wird mich nicht ganz loslassen. Ich mache es ja auch gerne, es ist eben nicht einfach nur ein Job.

Die Stasi hat Ihnen schlimm mitgespielt, sie wurden observiert, verhaftet, verurteilt und schließlich gewaltsam in den Westen verfrachtet.. Hat Sie das neue Amt verändert ?

Jahn: Vielleicht bin ich noch etwas gelassener geworden. Ein Amt wahrzunehmen hat eine andere öffentliche Wirkung. Gleichzeitig arbeite ich ja mit vielen Menschen zusammen daran, die DDR-Diktatur aufzuarbeiten. Das ist eine gute Erfahrung.

Die Beschäftigung von ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in der Behörde sei ein Schlag ins Gesicht der Opfer, haben Sie zur Amtseinführung gesagt. Nun sind diese Mitarbeiter, die seit 20 Jahren in Diensten des Bundes stehen, immer noch da. Haben Sie den Mund zu voll genommen?

Jahn: Rechtstaatliche Lösungen brauchen Zeit. Ich möchte die Versetzung dieser Mitarbeiter in andere Bundesbehörden nicht mit der Brechstange, sondern mit Respekt vor den Menschen bewerkstelligen.

War es ein Fehler Ihres Vorvorgängers Joachim Gauck, ehemalige Stasi-Leute überhaupt einzustellen?

Jahn: Das Problem gibt es seit 20 Jahren. Ich hätte die Entscheidung seinerzeit so nicht getroffen. Die Empfindungen der Opfer wurden zu wenig berücksichtigt.

Was ist die seit 20 Jahren bestehende Stasi-Unterlagenbehörde, inzwischen Jahn-Behörde, für Sie, eine Apotheke gegen das Vergessen, eine Behörde der Spaltung in Opfer und Täter?

Jahn: Wir sind ein Dienstleister für die Aufklärung darüber wie die SED-Diktatur funktioniert hat, wie die Geheimpolizei der SED tätig war. Das hilft Opfern, die gelitten haben und es hilft jüngeren Generationen zu verstehen, weil sie nicht wissen können, was die DDR war.

Aber zeigen die Akten nicht immer nur die Welt aus der Sicht der Stasi?

Jahn: Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist nicht das Amt für die absolute Wahrheit, sondern wir können helfen aufzuklären, wie hat Unterdrückung IM SED-Staat funktioniert, welche Strukturen gab es, Menschen zu beeinflussen, gefügig zu machen. Wir stellen dazu Akten bereit, die natürlich in der Sichtweise der Stasi verfasst wurden. Deshalb ist es so wichtig, dass zur Aufarbeitung der Geschichte auch Zeitzeugen gehört werden, dass die damaligen Umstände angeschaut werden.

Gerade mal ein bis zwei Prozent der ehemaligen DDR-Bürger waren hauptamtliche oder inoffzielle Mitarbeiter der Stasi. In der medialen Widerspiegelung erscheint es oft so, der ganze Osten sei ein Stasispitzel-Land gewesen.

Jahn: Die Fixierung vieler Medien auf den Verrat Einzelner, auf ganz Persönliches, auf einige Prominente ist zwar verständlich, doch eine solche Verkürzung ist zum Verständnis des Gesamt-Phänomens Staatssicherheit in der DDR nur wenig hilfreich. Wir wollen tiefer schürfen, Strukturen aufdecken.

Der schlimmste Mann IM ganzen Land das ist der Denunziant.

Jahn: Mir reichen platte Beschreibungen nicht aus. Wir müssen viel genauer hinschauen, warum wurde jemand zum Spitzel. Hat er aus Überzeugung andere verraten oder wurde er erpresst dazu, hatte er finanzielle Interessen oder steckte er in einer schweren Zwangssituation. Die Akten geben auch Auskunft über die jeweiligen Umstände.

Das klingt sehr milde. Wollen Sie die Stasi verniedlichen?

Jahn: Keineswegs. Jeder, der den Pakt mit der Stasi einging, hat mehr oder weniger Schuld auf sich geladen. Aber ich möchte auch, dass man sich jeden Fall genau ansieht, nicht alle über einen Leisten schlägt. IM ist nicht gleich IM. Ich plädiere deshalb für eine differenzierte Betrachtung. Wir drücken keinen IM-Stempel auf die Stirn.

Haben IM, die auf Sie angesetzt waren, das Gespräch mit Ihnen gesucht?

Jahn: Ja, und ich habe einer Freundin aus der Oppositionsszene, die mich verraten hat, vergeben können. Sie hat mit mir gesprochen und hat sich mit ihrem Verrat auseinandergesetzt. Aber leider sind das Einzelfälle. Der Großteil der Täter und Spitzel schweigt, sucht das Gespräch nicht, lügt oder taucht einfach ab. Ich würde mich freuen, wenn andere kämen und mit mir sprechen würden.

Was hat die Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes gebracht, wonach Überprüfungen für den öffentlichen Dienst bis 2019 und für einen erweiterten Personenkreis vorgenommen werden können?

Jahn: Die Zeit der umfangreichen Überprüfungen im öffentlichen Dienst ist lange vorbei. Dennoch ist es gut, dass Behörden weiterhin die Möglichkeit haben, ihre leitenden Mitarbeiter, wenn sie es notwendig finden, zu überprüfen. Letztendlich geht es heute darum, eine möglicherweise 20 Jahre lang verschwiegene Stasi-Mitarbeit aufzudecken. Lügen sollte nicht belohnt werden. Die Anfragen kommen zur Zeit vor allem aus dem Land Brandenburg.

Hätte die Behörde ohne neue Überprüfungen nicht genug zu tun?

Jahn: Der Schwerpunkt der Arbeit ist die persönliche Akteneinsicht und die Nutzung durch Forschung und Medien. Der Bundestag hat die Überprüfungen ermöglicht, aber das ist nur ein verschwindend kleiner Teil unserer Arbeit..

Was wäre eigentlich passiert, wenn die Akten für immer verschlossen worden wären, wenn es ein Freudenfeuer aus den Akten gegeben hätte, wie es Friedrich Schorlemmer einmal forderte?

Jahn: Das wäre viel Spekulation. Aber ganz sicher ist, dann hätte es eine wichtige Stütze der Aufklärung nicht gegeben. Aufklärung ist eine wichtige Säule der Demokratie, eine Grundlage, dafür, die Gesellschaft gerecht zu gestalten. Wären die Akten verbrannt worden, hätte das Geheimwissen der Stasi noch heute Macht verliehen. Das Gift der Stasi wäre noch wirksam. Und vielen Opfer wäre nicht Genugtuung widerfahren, sie wären nicht rehabilitiert worden, sie hätten keine Hilfen in Anspruch nehmen können. Es gebe oft keine Belege über erfahrenes Unrecht. 20 Jahre Stasi-Unterlagenbehörde ist dagegen eine Erfolgsgeschichte.

Machen Sie aber nicht bald das Licht aus, wenn Ihre Behörde dem Bundesarchiv Koblenz unterstellt werden sollte?

Jahn: Das sind rein organisatorische Fragen. Entscheidend ist, dass die Akten der Behörde hier in den neuen Ländern, in den Regionen der Aufklärung zur Verfügung stehen.

Heißt das, die Außenstellen in den ehemaligen Bezirksstädten bleiben alle bestehen, es werden keine geschlossen?

Jahn: Nur so viel, es gibt ein großes Interesse daran, dass weiter Aufklärung in den Regionen stattfindet. Der Zugang zu den Akten muss weiter unkompliziert möglich sein, wir brauchen auch weiterhin authentische Orte, an denen man erkennen kann, wie Unterdrückung stattfand. Das heißt, dass wir unsere begrenzten Mittel gut einsetzen müssen.

Sind Sie als Jenaer klammheimlich froh, dass in den Zeitungen immer von der Zwickauer Neonazi-Terrorzelle die Rede, das Trio stammt allerdings aus Jena?

Jahn: Ich bin Lokalpatriot und mir tut es weh, dass diese Menschen ausgerechnet aus Jena kommen. Wir, die gesamte Gesellschaft müssen uns fragen, was falsch gelaufen ist. Einfache Antworten gibt es darauf nicht.

Auch die Stasi verfolgte Neo-Nazis in der DDR.

Jahn: Sie versuchte das Problem totzuschweigen bzw. als Phänomen darzustellen, das aus dem Westen kam, um es zu bagatellisieren. In der Zeit nach der Wende dann habe ich beobachtet, dass die. Angepasstheit der Eltern in der DDR das rechtsextremistische Denken der Kinder befördert hat