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"Nicht immer Ost-West-Gegensätze projizieren"

Passauer Neue Presse: Wie haben Sie persönlich den 3. Oktober 1990 erlebt?

Roland Jahn: Ich war damals als Journalist beim Sender Freies Berlin. Wir haben natürlich den Tag der Deutschen Einheit journalistisch begleitet. Es herrschte eine große Euphorie. Der 3. Oktober war ein zufälliges Datum. Die entscheidenden Tage für die deutsche Einheit waren der 9. Oktober mit der Demonstration in Leipzig und natürlich der 9. November, als das in Beton gegossene Unrecht, die Berliner Mauer, zu Fall gebracht wurde. Auch der 17. Juni und das Gedenken an den Arbeiteraufstand in der früheren DDR macht uns immer wieder deutlich, dass Freiheit und Einheit nicht selbstverständlich sind und es viele Opfer auf dem Weg dahin gab. Wir sollten Opposition und Widerstand mehr würdigen, die Freiheit und Einheit in Deutschland möglich gemacht haben.

Für Sie sei der 3. Oktober der Tag der Auflösung ihrer inneren Zerrissenheit, haben Sie einmal erklärt …

Jahn: Für mich persönlich war die staatliche Einheit etwas, mit dem ich eine Art Erlösung von meiner persönlichen Zerrissenheit zwischen Ost und West gefunden habe. Schon in der DDR habe ich von der freien selbstbestimmten Gesellschaft geträumt. 1983 bin ich zwangsausgebürgert worden, weil mich die DDR als politisch aktiven Bürgerrechtler loswerden wollte. Von da an stand ich immer vor der Frage, was bin ich denn? Ostler oder Westler? Ich war Deutscher und habe die Einheit schon in West-Berlin gelebt und an sie geglaubt. Später war dann klar, dass die Friedliche Revolution in der DDR irgendwann zur Deutschen Einheit führen wird.

Ist denn inzwischen 30 Jahre nach dem Mauerfall und 29 Jahre nach der Einheit zusammengewachsen, was zusammengehört, wie es Willy Brandt einst vorausgesagt hatte?

Jahn: Es kommt auf jeden Einzelnen an, dass er die Deutsche Einheit lebt. Mir werden immer viel zu sehr die Gegensätze zwischen Ost und West betont und Gräben aufgerissen. Entscheidend ist, dass man Respekt vor den Biografien hat, besonders vor denen, die sie es geschafft haben, diese Diktatur zu überwinden. Wichtig ist, dass dies gegenseitig zwischen Ost und West geschieht.

Wie steht es um die Einheit?

Jahn: Wir haben heute alle Chancen, die Deutsche Einheit zu leben. Das, was es heute an Problemen gibt, hat oft nichts mit Ost und West zu tun. Da geht es um soziale Fragen, um Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen den verschiedenen Regionen. Wir sollten die Probleme gesamtdeutsch angehen und nicht immer wieder Ost-West-Gegensätze projizieren.

Wie ist es zu erklären, dass die AfD im Osten so stark ist?

Jahn: Das sollte wissenschaftlich untersucht werden und lässt sich nicht mit wenigen Worten und einfachen Erklärungen beantworten.

Der ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann sagt, die Ostdeutschen verdankenden Westdeutschen gar nichts.

Jahn: Ich halte nicht viel von solchen pauschalen Aussagen. Es gab weder die Ostdeutschen noch die Westdeutschen. Es gab sehr unterschiedliche Lebenswege. Es war eine Minderheit, die Revolution gemacht hat. Ich wünsche mir, dass sich diejenigen, die in der DDR die Verantwortung für diese Diktatur und das Unrecht getragen haben, bei den Revolutionären dafür bedanken, dass sie heute auch die Freiheit und die Grundrechte, die Vorzüge der Demokratie genießen können. Heute sollten diejenigen gewürdigt werden, die ihren Kopf hingehalten haben.

Interview: Andreas Herholz