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"Niemand soll auf ewig verdammt sein"

Der Fall der "Berliner Zeitung" wirft Fragen nach dem Umgang mit Stasi-Belastung auf. Der Bundesbeauftragte Roland Jahn rät Betroffenen, Verantwortung zu übernehmen.

30 Jahre nach dem Mauerfall ist ein prominenter Verantwortungsträger als Stasi-Spitzel enttarnt worden: Der neue Verleger der "Berliner Zeitung", Holger Friedrich, war 1988 bis 1989 Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Geheimpolizei – während seiner Militärzeit bei der NVA. Wie er sagt, verpflichtete er sich unter Druck – um einer Strafe wegen versuchter Republikflucht zu entkommen.

Wie es zu solchen Fällen kommen konnte und wie die Gesellschaft damit umgehen sollte, erklärt der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn. Er plädiert für eine differenzierte Betrachtung jedes Falles. Jahn wirbt dafür, mittels Stasi-Akten mehr Transparenz zu schaffen und die Funktionsweise des DDR-Repressionssystems weiter offenzulegen. Und er warnt: Keiner dürfe aus der Verantwortung für sein Handeln  entlassen werden.

ZEIT ONLINE: Herr Jahn, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer kommt heraus, dass der neue Eigentümer einer bedeutenden Tageszeitung sich als inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Stasi verpflichtet hatte, als Spitzel also. Was löst das bei Ihnen aus?

Roland Jahn: Der Fall zeigt, wie wichtig es ist, dass wir die Funktionsweise des DDR-Regimes verstehen lernen können. Deshalb ist es gut, dass wir Transparenz schaffen, indem wir die Stasi-Unterlagen weiter offen halten. Sie werden auch weiter zugänglich sein, wenn wir sie ab 2021 dem Bundesarchiv zuordnen.

Wie wurde man denn zum Stasi-IM?

Jahn: Die Stasi nutzte da sehr unterschiedliche Wege. Manche IMs lieferten Informationen, weil sie zutiefst vom SED-Staat überzeugt waren. Andere taten das für Geld. Oder wieder andere, weil sie in einer Zwangssituation waren, die Stasi sie unter Druck setzte. Beim Rekrutieren von IMs hat die Stasi immer bei der individuellen Situation des Menschen angesetzt, um sie für sich zu gewinnen. Sie hat sogar Jugendliche angeworben und als IM verpflichtet. So wie jede Anwerbung ein Einzelfall war, müssen wir auch die Fälle der IMs heute einzeln betrachten. Wichtig ist dabei, auch die Akten als Quellen zu hinterfragen und den Papieren nicht blind zu vertrauen.

Wie stark war denn das DDR-Militär durch die Stasi durchsetzt?

Jahn: Die Staatssicherheit war in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR unterwegs. Insofern auch in der Nationalen Volksarmee. Es gab in der NVA Verbindungsoffiziere, die den Direktkontakt zur Stasi hatten, aber auch IMs, die Informationen aus ihrem persönlichen Umfeld zulieferten. Das hatte System.

Warum nehmen heute Menschen Einsicht in ihre Stasi-Unterlagen, andere nicht? Gibt es neben dem Interesse an den Akten auch Ängste und das Bedürfnis, die Vergangenheit ruhen zu lassen?

Jahn: Die Gründe sind vielfältig. Dazu laufen derzeit Forschungsprojekte, etwa an der Technischen Universität Dresden. Festhalten können wir: Mehr als zwei Millionen Menschen haben bisher in die Unterlagen  geschaut, die die Stasi zu ihnen angelegt hatte. Das zeigt, wie groß der Bedarf war und ist. Hinzu kommen die vielen Anträge von Forschern und Medien, die nach der Verantwortung fragen und die Mechanismen der DDR-Geheimpolizei ergründen wollen, die dem DDR-Regime die Macht sicherte.

Warum machen Menschen ein Geheimnis aus ihrer Stasi-Vergangenheit und riskieren, öffentlich enttarnt zu werden?

Jahn: Das ist eine Frage des individuellen Umgangs damit. Die Vergangenheit hat aber gezeigt, dass Menschen, die sich öffentlich zu ihrer Stasi-Mitarbeit bekannt haben, großer Respekt für diese Offenheit entgegengebracht wurde. Die Öffentlichkeit kann dann mit diesem Bekenntnis zur Biografie besser verstehen, wie das DDR-System funktioniert hat.

Wie soll die Gesellschaft mit Stasi-belasteten Menschen umgehen?

Jahn: Immer wichtiger wird jetzt die Frage: Wie haben Stasi-Mitarbeiter in den vergangenen 30 Jahren ihre Vergangenheit aufgearbeitet? Persönliche Aufarbeitung, das Bekenntnis zur eigenen Stasi-Tätigkeit muss nicht immer öffentlich geschehen. Es kann auch im Gespräch mit den Bespitzelten geschehen, die letztlich die Opfer waren, auf die das SED-Regime und die Stasi Druck ausgeübt haben.
Wichtig ist: Niemand soll auf ewig verdammt sein. Auch wer sich mit der Stasi eingelassen hatte, soll heute eine Chance bekommen. Nach den Jahrzehnten, die vergangen sind, sollen diese Menschen auch Teil dieser demokratischen Gesellschaft sein dürfen. Aber keiner darf aus der Verantwortung für sein Handeln entlassen werden.

 

Das Interview führte Tilmann Steffen.