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"Rache war nie mein Sinnen"

In der Berliner Tageszeitung 'Neues Deutschland' vom 19. Mai begründet Roland Jahn, warum er sich frühere MfS-Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde schwer vorstellen kann und was aus seiner Sicht zur Versöhnung fehlt: "Ich wünsche mir, dass sie eine offene Auseinandersetzung über ihre eigene Perspektive in der Gesellschaft leisten. Wer redet denn darüber? Wer bekennt sich denn? Die offene Auseinandersetzung über die eigene Rolle von Menschen, die in diesem Unterdrückungsapparat tätig waren, findet nicht statt".

Sie wollen 47 ehemalige MfS-Mitarbeiter aus der BStU-Behörde entfernen. Bitte erläutern Sie das Problem.

Roland Jahn: Ich bin per Gesetz beauftragt, die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten. Mein Bestreben ist es, Versöhnung in dieser Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei müssen die Menschen, die von dem Wirken der Staatssicherheit besonders betroffen waren, mitgenommen werden. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten damit, dass ehemalige hauptamtliche Mitarbeiter des MfS bei uns arbeiten. Ich muss ihre Empfindungen ernst nehmen. Nur so gibt es eine Chance, ein Klima der Versöhnung zu schaffen.

Wäre es zur Versöhnung nicht hilfreich, wenn Sie beide Gruppen an einen Tisch brächten?

Jahn: Selbstverständlich. Ich war kürzlich mit Menschen zusammen, die in Bautzen und anderswo lange im Gefängnis gelitten haben. Dort sagte eine Frau: Herr Jahn, bringen Sie doch mal die ehemaligen Mitarbeiter zu einem Gespräch mit. Die sollen uns zuhören, damit sie unsere Erlebnisse nachvollziehen können. Wer früher bei der Staatssicherheit war, soll eine zweite Chance bekommen, aber er soll auf die Empfindungen der Opfer Rücksicht nehmen. Menschen wie diese Frau haben Angst, am Empfang unserer Behörde jemand zu treffen, der früher für die Staatssicherheit gearbeitet hat. Das wühlt sie auf, das verletzt sie.

Sie könnten den Betreffenden in Ihrer Behörde einen anderen Arbeitsplatz als den Empfang anbieten.

Jahn: Wir sind ein öffentlicher Dienst. Wir haben Kundenkontakt. Wir können die Betreffenden nicht verstecken, das wäre unwürdig. Zudem: Sie haben Arbeitsverträge nicht mit dem BStU, sondern mit der Bundesrepublik Deutschland. Da ist es doch nichts Schlimmes, wenn sie sich woanders im öffentlichen Dienst einbringen, nur nicht gerade in unserer speziellen Behörde. Dann hätten wir eine Lösung für die Empfindungen der Opfer und gleichzeitig einen respektvollen Umgang mit den früheren hauptamtlichen Stasimitarbeitern. Darum geht es mir ja auch: Ich habe Respekt davor, dass sie sich in den letzten 20 Jahren mit ihrer Leistung in unsere Behörde eingebracht haben.

Sie erheben ausdrücklich keinen Vorwurf, dass die früheren MfS-Mitarbeiter die Aufklärungsarbeit verschleppen, gar den Zwecken der Behörde entgegenarbeiten?

Jahn: Ich kann keine konkreten Vorwürfe machen.

Die Betreffenden sollen also einsehen, dass sie schlicht den falschen Arbeitsplatz haben?

Jahn: Das ist mir zu überspitzt formuliert. Es geht darum, ein Zeichen zu setzen, dass man die Empfindungen der Opfer ernst nimmt.

Der Beiratsvorsitzende Ihrer Behörde, Richard Schröder, schrieb Ihnen in einem Brief, Sie schadeten mit dieser Haltung der Aufklärung, man dürfe nicht unter anderem Vorzeichen seinen Gegnern ähnlich werden.

Jahn: Man muss die vom »Spiegel« wiedergegebenen Zitate im Zusammenhang sehen. Auch Richard Schröder möchte, dass das Problem gelöst wird. Und nicht ich habe dieses Problem in die Behörde gebracht. Im Gegenteil: Ich arbeite daran, dass ein altes Problem gelöst wird.

Sie sagen, Richard Schröder sei entgegen den zitierten Passagen seines Briefes dafür, dass die früheren MfS-Mitarbeiter alle aus der Behörde versetzt werden?

Jahn: Da müssten wir konkret über den Brief oder Sie mit Richard Schröder reden.

Bitte, Sie dürfen über den Brief reden.

Jahn: Das möchte ich nicht, es ist ein Brief an mich und die Beiratsmitglieder. Wichtig ist: Ich bin mir mit Richard Schröder einig, dass hier ein Problem existiert, das für die Behörde belastend ist, und dass es wünschenswert ist, dass die Mitarbeiter in anderen Behörden arbeiten.

20 Jahre lang war es kein Problem, warum jetzt?

Jahn: Ich hatte eigentlich gedacht, dass auch im »Neuen Deutschland« angekommen ist, dass es ein Problem ist, über das schon 20 Jahre lang diskutiert wird. Noch zwei Wochen, bevor Frau Birthler das Amt verließ, waren die Schlagzeilen wieder in der ganzen Stadt auf Plakaten zu lesen: »Stasi in der Stasibehörde«. Auch meine Amtsvorgängerin hat immer von einer schweren Hypothek gesprochen. Ich bin ein besonnener Mensch, der Klarheit in diese Thematik zu bringen versucht.

Wie haben die betreffenden Mitarbeiter in Ihrer Behörde auf Ihre Überlegungen reagiert?

Jahn: Ich habe die Abteilungsleiter gebeten, alle anzusprechen, dass sie zu mir kommen können, einzeln oder mit ihren gewerkschaftlichen Interessenvertretungen, das ist zumeist die Gewerkschaft der Polizei. Unsere Gespräche waren von gegenseitigem Respekt getragen. Und ich habe noch mal deutlich gesagt: »Wenn ich Sie sehe, jeden Tag, wie freundlich wir miteinander umgehen, wenn ich sehe, was Sie hier an guter Arbeit leisten, dann möchte ich manchmal sagen, eigentlich wären das doch beste Voraussetzungen, mit Ihnen weiterzuarbeiten.« Und wenn ich dann am nächsten Tag in Hoheneck, beim Bautzen-Forum oder in Hohenschönhausen bin, dann schaue ich in die Augen der Menschen, die jahrelang gelitten haben und die zu mir sagen: »Herr Jahn, es schmerzt uns, wenn wir zu Ihnen ins Haus kommen, wir haben Angst, ehemalige Stasi-Mitarbeiter bei Ihnen zu treffen« – dann weiß ich, wir brauchen eine Lösung des Problems.

Sie streben eine Versetzung in andere Bundeseinrichtungen an. Warum wäre es vertretbarer, wenn ein ehemaliger MfS-Mitarbeiter etwa beim Verfassungsschutz oder beim Bundesnachrichtendienst für die Demokratie spitzelt, statt in einer Behörde zu arbeiten, die Spitzeleien aufdecken soll?

Jahn: So sehe ich die Fragestellung nicht. Es geht um weniger sensible Behörden.

Welche Bundeseinrichtungen schweben Ihnen denn vor?

Jahn: Das kann ich noch nicht konkret benennen. Diese Leute sollen nicht irgendwohin abgeschoben werden, sondern dort arbeiten, wo Bedarf ist, sie sich mit ihren Fähigkeiten einbringen können und sie auch gesellschaftliche Anerkennung erhalten. Ich werde mich vor jeden Mitarbeiter, der früher bei der Stasi war, dann in unserer Behörde gearbeitet hat und schließlich woanders im öffentlichen Dienst weiterarbeitet, stellen und sagen: Das ist ein Zeichen, das den Weg der Versöhnung möglich macht.

Früher für das MfS gearbeitet zu haben, dann in einer Behörde, die dessen Tätigkeit aufklären soll, kennzeichnet eine gebrochene Biografie. Um es bespielhaft zu fragen: Ein früherer Bundeswehroffizier, der sich in einer Friedensorganisation engagiert; ein früherer Angestellter eines Chemieunternehmens, der auf Biobauer umschult; ein technischer Leiter einer Erdölfirma mit havarierter Ölplattform, der fortan als Katastrophenhelfer tätig ist – was können Sie mehr an Umdenken verlangen?

Jahn: Diese Vergleiche hinken. Nach dieser Logik hätten wir die Stasi-Aufarbeitung gleich von der Stasi machen lassen können. Was dabei herausgekommen wäre, haben wir bei der Selbstauflösung der Hauptverwaltung Aufklärung gesehen. Die Akten wurden vernichtet. Aufarbeitung muss glaubwürdig geschehen, nicht einfach so durch ehemalige Stasi-Mitarbeiter ...

Könnten Wolfgang Templin oder – würde er noch leben – Robert Havemann beim BStU beschäftigt sein?

Jahn: Selbstverständlich.

Beide waren eine Zeit lang Inoffizielle Mitarbeiter des MfS.

Jahn: Und haben das glaubwürdig aufgearbeitet. Ich stehe für eine differenzierte Bewertung von DDR-Biografien, mit klaren Kriterien. Ein solches ist die hauptamtliche Tätigkeit für das MfS. Ein Inoffizieller Mitarbeiter ist etwas anderes. Jemand, der beim Wachregiment Feliks Dzierzynski seinen Wehrdienst abgeleistet hat, ist wieder etwas anderes. Hauptamtliche Tätigkeit im Ministerium für Staatssicherheit bedeutet, jemand hat es zu seinem Beruf gemacht, sich am Unterdrückungsapparat der Diktatur in der DDR zu beteiligen. Es war jemand, der eine bewusste Entscheidung getroffen hat, diesen Unterdrückungsapparat mit am Funktionieren zu halten, der die Privilegien dieser Gruppe für sich in Anspruch genommen hat.

Das ist jetzt eher eine pauschale als eine differenzierte Bewertung konkreter Biografien. Muss man MfS-Hauptamtlichen nicht auch eine eigene Perspektive auf deren Tätigkeit zugestehen? Deren Selbstverständnis war nicht, einem menschenverachtenden Unterdrückungsapparat zu dienen.

Jahn: Ich wünsche mir, dass sie eine offene Auseinandersetzung über ihre eigene Perspektive in der Gesellschaft leisten. Wer redet denn darüber? Wer bekennt sich denn? Die offene Auseinandersetzung über die eigene Rolle von Menschen, die in diesem Unterdrückungsapparat tätig waren, findet nicht statt, es sei denn als Rechtfertigung. Sie verstanden sich als Schild und Schwert der Partei, welches Menschen verletzt hat. Zu sagen, ich habe nur Schmiere gestanden, geht nicht. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte insgesamt betrachtet, da sehe ich eine zu starke Fixierung auf die Staatssicherheit.

Hat die BStU-Behörde ihren Anteil daran, dass diese Diskussion so einseitig gelenkt war?

Jahn: Wir alle haben einen Anteil daran. Wir müssen mehr den Alltag betrachten. Wir müssen den Zusammenhang von SED und MfS klarer beleuchten, ebenso die Zusammenarbeit von Stasi und Rat des Bezirkes, Rat des Kreises, Rat der Stadt. Wie hat das alles funktioniert? Ich stehe für eine Aufarbeitung, die Mechanismen aufzuzeigen versucht. Warum lässt sich jemand als Inoffizieller Mitarbeiter verpflichten? Welchen Zwängen war er ausgesetzt? Wir sind nicht die Richter, wir leisten Aufklärung.

Sie wurden jahrlang vom MfS beobachtet, bearbeitet, schließlich verhaftet und später abgeschoben. Lässt sich eine solche Behörde da unvoreingenommen leiten?

Jahn: Ich war immer ein Mensch, der sich das Lachen nicht nehmen ließ. Auch im Gefängnis war ich nicht verbissen und verbittert, sondern ich habe gesagt: Meine Lebenslust darf ich mir nicht stehlen lassen. Ich habe meine Gegenüber nie gehasst. Rache war nie mein Sinnen. Ich saß im Gefängnis, weil ich eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaft wollte. Das habe ich nicht aufgegeben.

Die Leute, die Sie verhörten, waren auch der Meinung, für eine gerechte und menschenwürdige Gesellschaft einzutreten. War das ein Widerspruch, über den man während der Verhöre diskutiert hat?

Jahn: Ich habe mit meinen Vernehmern nicht diskutiert. Ich habe geschwiegen, weil ich wusste, dass sie alles gegen mich benutzen. Ich führe Diskussionen, auch mit politischen Gegnern, in der Öffentlichkeit, sie wollten sie mit mir im Knast führen. Das habe ich abgelehnt.

Was war das Schlimmste für Sie in Ihrer sechsmonatigen Haftzeit?

Jahn: Dass nichts berechenbar war. Die DDR war ein Unrechtsstaat, und ein Unrechtsstaat hat keine Regeln, die allgemeingültig und berechenbar sind. Ein Unrechtsstaat entscheidet von Staats wegen, ob jemand weggefangen wird oder nicht. Wenn der Querulant aus dem Wege geschafft werden musste, dann wurde das getan. Und so hat man das bei mir gemacht. Mein Vernehmer sagte: Ob Sie Ihre Tochter zur Schuleinführung sehen – meine Tochter war damals drei Jahre alt –, dahinter steht ein großes Fragezeichen. So wurde mit dem Zeitfaktor gespielt, so sollten Menschen kaputt gespielt werden. Und viele waren daran beteiligt, dass der Apparat Staatssicherheit funktionierte.

In einem Rundfunk-Interview sagten Sie jüngst: »Den Zeitpunkt der Versöhnung können eigentlich nur die Opfer bestimmen.« Frage an das Opfer Roland Jahn: Wann halten Sie den Zeitpunkt der Versöhnung für gekommen?

Jahn: Ich persönlich sehe mich nicht unbedingt als Opfer. Es ist eine sehr persönliche Sache, wem und wann man vergibt. Versöhnung lässt sich nicht verordnen. Aber es kann das Klima für viele persönliche Versöhnungen geschaffen werden. Wenn etwa mein Vernehmer zu mir käme und wir würden über alles reden, gäbe es die Chance, dass ich an irgendeinem Punkt sagen könnte: Ich vergebe. Bislang ist noch keiner auf mich zugekommen.

Das Gespräch führten Fabian Lambeck und Jürgen Reents