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"Rückgabe gestohlenen Lebens"

Roland Jahn im Interview mit mitmischen.de, dem Jugendportals des Deutschen Bundestages, vom 12. August 2015

War es die richtige Entscheidung, den Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen einzurichten?

Jahn: Ja, das war es. 1990 gab es unterschiedliche Auffassungen darüber, was mit den Stasi-Akten passieren sollte. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) wollte sie wegschließen, die DDR-Bürgerrechtler erzwangen hingegen die Öffnung der Archive. Das hat auch große internationale Anerkennung gefunden. Es war erstmalig in der Welt, dass die Akten einer Geheimpolizei, des Unterdrückungsapparates, nicht beseitigt oder verschlossen, sondern systematisch zugänglich gemacht wurden. Viele Gäste aus dem Ausland besuchen uns, etwa aus dem arabischen Raum, weil sie sich über unsere Arbeit informieren wollen.

Warum ist die Arbeit der Stasi-Unterlagen-Behörde wichtig?

Jahn: Für viele Menschen war der Zugang zu den Stasi-Unterlagen und ihren Daten so etwas wie die Rückgabe von gestohlenem Leben. Viele Millionen Bürger nahmen und nehmen Einsicht in ihre Akten, viele Journalisten und Forscher schauen hinein und klären über die SED-Diktatur und die Staatssicherheit auf. So erfährt man viel über das System als Ganzes: Wie die Stasi zum Beispiel das Telefonabhören organisiert oder die Fälschung der Kommunalwahlen in der DDR abgesichert hat, aber auch wie sie Menschen wegen ihrer Haltung eingesperrt hat.

Wie viele Akten sind es denn überhaupt?

Jahn: Wir haben es hier mit Hinterlassenschaften von 111 Kilometern Akten zu tun. Derzeit bekommen wir noch monatlich über 5000 Anträge zur persönlichen Akteneinsicht.

Sie waren Mitbegründer der oppositionellen Friedensgemeinschaft Jena und wurden 1983 aus der DDR zwangsausgebürgert. Haben Sie Ihre eigene Akte gelesen?

Jahn: Ja, ich habe sehr viel darüber erfahren, wie die Stasi meine Familie unter Druck gesetzt hat. Ich habe viel über meine Studienzeit lesen können, zum Beispiel, dass mein Seminarleiter inoffizieller Mitarbeiter der Stasi war. Seine Mitschrift eines Seminars hat dazu geführt, dass ich von der Uni geflogen bin.

Sind Sie noch wütend?

Jahn: Ich bin kein Mensch, der nachtragend ist, das hilft ja nicht. Mein Umgang mit der Vergangenheit besteht darin, dass ich versuche aufzuklären. Aufzuklären über die Mechanismen des Staates und warum Menschen so gehandelt haben, wie sie es taten. Ich möchte dazu beitragen, dass auch kommende Generationen daraus lernen können.

Nicht wenige fordern, endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und sich zu versöhnen. Was meinen Sie?

Jahn: Ich denke, die Aufarbeitung ist wichtig – nicht nur fixiert auf die Staatssicherheit. Wir sollten das System, die SED-Diktatur und die DDR insgesamt betrachten, mit allen Herrschaftsmechanismen, die dort gewirkt haben. Denn sie haben es erst möglich gemacht, dass diese Diktatur so lange existieren konnte. Ich glaube, Offenheit ist hier ganz, ganz wichtig.

Ist das, was die Stasi mit den Leuten in der DDR gemacht hat, so ähnlich wie das, was der amerikanische Geheimdienst NSA jetzt mit uns macht?

Jahn: Abhören ist Abhören. Aber was ist der Auftrag? Die Staatssicherheit hatte den Auftrag, die Diktatur einer Partei zu sichern, auch durch Menschenrechtsverletzungen. Geheimdienste in einer Demokratie haben eigentlich die Aufgabe, Menschenrechte und die Demokratie zu schützen. Wenn sie über die Stränge schlagen, dann sind alle herausgefordert, die Instrumente der Demokratie zu nutzen, um das abzustellen. Im Zweifel kann das Parlament einen Geheimdienst bei uns abschaffen. Das alles ging in der DDR nicht.

Wir geben heute freiwillig sehr viele persönliche Informationen preis. Wir veröffentlichen den Aufenthaltsort oder Bilder von uns im Internet. Sind Sie bedingt durch die Ihre eigene Geschichte und Ihre Arbeit in der BStU vorsichtiger im Umgang mit dem Internet und Social Media?

Jahn: Nicht deswegen unbedingt, aber ich bin mir schon bewusst, dass man in einer digitalen Welt viele Informationen über sich preisgibt und ich bin tatsächlich vorsichtig. So richtig behagt es mir nicht, dass ich darüber nicht wirklich die Kontrolle habe. Social Media sind privat nicht mein Ding, das ist aber vielleicht auch eine Frage von Alter und Mentalität. Ich will gar nicht immer von allen überall gesehen und gefunden werden. Das Internet nutze ich natürlich schon täglich, das gehört zur Arbeit einfach dazu.

Das Interview führte Aline Abboud