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"Sicht der SED-Opfer ist bislang zu kurz gekommen"

Herr Jahn, sie waren ein guter Freund von Jürgen Fuchs. Am 11. November wurde er im Thüringer Landtag geehrt. Was bedeutet Ihnen diese Ehrung?

Jahn: Jürgen Fuchs war eine große Hilfe für die Menschen, denen in der DDR Gefängnis drohte oder die schon im Gefängnis waren. Sein Buch über die Haft war eine Art Überlebenshilfe, weil er damit - auch mir - wertvolle Tipps geben konnte, wie man den ausgeklügelten Verhörmethoden der Stasi begegnen konnte. Durch den Kontakt mit ihm wusste ich, wie die Stasi arbeitet. Darüber hinaus hat Jürgen Fuchs dafür gesorgt, dass Informationen über die DDR in Funk und Fernsehen in Westdeutschland kamen. Als ich selbst in West-Berlin als Journalist tätig war, haben wir diese Arbeit gemeinsam gemacht.

Was kann man und sollte man heute aus dem Lebensweg von Jürgen Fuchs für die Zukunft mitnehmen?

Jahn: Jürgen Fuchs war jemand, der nie aufgegeben hat. Er hat das Unrecht immer beim Namen genannt.

Sie sind jetzt einige Monate im Amt des Beauftragten für die Stasi-Unterlagen. Gab es für Sie in dieser Zeit unerwartete Probleme?

Jahn: Nein. Ich konnte gut aufbauen auf der Arbeit meiner Vorgänger. Die Behörde ist eine Erfolgsgeschichte mit einer hohen nationalen und internationalen Anerkennung. Hier gilt es weiterzumachen und Kontinuität zu entwickeln. Der Wunsch der Bürger nach Akteneinsicht hat nicht nachgelassen. Im vergangenen Jahr sind fast 90.000 Anträge bei uns eingegangen. Auch das Interesse von Forschung und Medien reißt nicht ab.

Womit erklären Sie sich das ungebrochene Interesse 21 Jahre nach der Einheit?

Jahn: Die Antragszahlen liegen derzeit über den Prognosen. Aus den Gesprächen mit den Nutzern bekommen wir schon mit, warum die Menschen sich jetzt entschließen, ihre Akten zu lesen.

Warum?

Jahn: Viele sind erst jetzt bereit, sich auf eine solche Akteneinsicht einzulassen, weil sie genügenden Abstand zu der Zeit gewonnen haben, weil sie auch sozial stabilisiert sind. Und auch viele junge Menschen, die erst nach dem Ende der DDR geboren sind, haben Interesse an Informationen über das Land ihrer Eltern und Großeltern.

Was meinen Sie mit sozialer Stabilisierung?

Jahn: Ich meine damit die Bereitschaft, jetzt in die Akten zu schauen, egal, was sie an Erkenntnissen erwartet, ich meine die Stabilität und Besonnenheit der Menschen, heute besser mit der Tatsache umgehen zu können, dass sie beispielsweise ein enger Freund verraten und bespitzelt hat.

Womit erklären Sie sich das Interesse der jungen Generation?

Jahn: Bei den jungen Menschen geht es eher um grundsätzliche Fragestellungen. Sie beschäftigt die Frage des Funktionierens einer Diktatur, weil sie aus dem Wissen über die Unfreiheit Rückschlüsse auf die Bewahrung der Freiheit ziehen wollen, sie wollen beispielsweise viel über Datenmissbrauch wissen.

Viele Politiker wünschen sich, dass an den Schulen viel und intensiver über die DDR-Vergangenheit gearbeitet wird. Was kann man verbessern?

Jahn: Natürlich ist das auch mein Wunsch. Aber hier sind alle gefragt, auch die Bundesländer, in deren Kompetenz ja die Bildung liegt. Wir bieten als Behörde eine Vielzahl an Informationsmaterial an. Und dann kommt es natürlich auf die Lehrer an, wie und in welchem Umfang sie das angebotene Material einsetzen. Aber am beeindruckendsten sind für junge Menschen natürlich Zeitzeugenberichte. Auch da sind wir behilflich.

Haben Sie auch den Eindruck, dass viele ältere Lehrer das Thema DDR im Unterricht scheuen, weil sie kritische Fragen ihrer Schüler fürchten?

Jahn: Darüber gibt es keine qualifizierten Studien. Es sind immer nur Einzelfall-Wahrnehmungen.

Ich würde gerne auf das Thema Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes kommen. In einem Interview mit unserer Zeitung hat Thüringens SPD-Landeschef Christoph Matschie erklärt, 21 Jahre nach der Einheit sei es für ihn unverständlich, dass man den Kreis der zu Überprüfenden noch einmal ausweiten müsste.

Jahn: Der Bundesrat hat so entschieden, weil er den Bedarf an Überprüfungen gesehen hat. Das Land Brandenburg hatte ausdrücklich angemeldet, dass man dort bestimmte leitende Positionen im Polizeibereich überprüfen will. Das war bisher nicht möglich. Ich halte es für wichtig, dass diesen Bedürfnissen der Arbeitgeber im öffentlichen Dienst entsprochen wird. Transparenz schafft Vertrauen in den öffentlichen Dienst.

Brandenburg hat im Gegensatz zu Thüringen aber auch einen Nachholbedarf beim Thema Überprüfungen.

Jahn: Thüringen muss nicht überprüfen, Thüringen kann überprüfen. Das Gesetz hat nur die Möglichkeit zur Überprüfung festgeschrieben, keine Regelüberprüfung.

Zweites Argument von Matschie: 21 Jahre nach der Einheit müssen wir mehr darauf gucken, was die Betroffenen in diesen zwei Jahrzehnten für den Aufbau der Gesellschaft getan haben, wie sie sich engagiert haben. Klingt doch überzeugend?

Jahn: Christoph Matschie hat vollkommen Recht: Natürlich muss man schauen, was die Menschen nach 1989 gemacht haben, wie sie sich in die Gesellschaft eingebracht haben. Aber dazu gehört genauso die Frage, wie sie mit ihrer Vergangenheit umgegangen sind. Jemand, der 20 Jahre seinen Arbeitgeber angelogen hat und über seine Stasi- Vergangenheit getäuscht hat, hat Vertrauen zerstört und ist noch nicht angekommen in der demokratischen Gesellschaft. Deshalb zieht dieses Argument von Christoph Matschie im Hinblick auf die Gesetzesnovelle nicht.

Wenn wir das richtig verstehen: Wer zu seiner Vergangenheit steht und sich engagiert, wer zeigt, dass man sich ändern kann, ist anders zu bewerten als jemand, der sich 20 Jahre noch immer versteckt hat.

Jahn: Richtig. Jeder soll eine Chance haben. Aber jeder soll auch die Möglichkeit nutzen, das, was er früher gemacht hat, in Frage zu stellen und zu bereuen. Dann ist auch ein Weg in dieser Gesellschaft möglich. Aber bei jemandem, der 20 Jahre gelogen hat, stellt sich schon die Frage, ob der noch im öffentlichen Dienst weiterarbeiten sollte.

Welche Rolle spielen in diesem Prozess die Opfer?

Jahn: Es ist wichtig, dass die Opfer ernst genommen werden. Sie müssen einbezogen werden, wenn man einen Prozess einleiten will, der ein Klima der Versöhnung schafft. Versöhnung kann nicht verordnet werden. Auf dem Weg dorthin müssen alle mitgenommen werden.

Christoph Matschie ist auch der Auffassung, dass die Entfernung der noch 45 Stasi-Mitarbeiter aus Ihrer Behörde gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoße. Ein schwerer Vorwurf.

Jahn: Ich habe das Gesetz nicht gemacht. Der Deutsche Bundestag hat das Gesetz beschlossen.

...aber auf Ihre Anregung.

Jahn: Der Bundestag hat das Gesetz beschlossen. Es sind ausführliche rechtliche Bewertungen von Parlament und Regierung vorgenommen worden. Die Ergebnisse waren stets positiv.

Die Enthaltung Thüringens im Bundesrat zu dem Gesetz hat zu Irritationen geführt, weil der Freistaat bislang in Sachen SED-Aufarbeitung und Opferentschädigung eine Vorreiterrolle gespielt hat. Steht diese jetzt auf dem Spiel?

Jahn: Es wäre die Fortsetzung einer guten Tradition, wenn Thüringen beim Thema Aufarbeitung weiter vorne dran bleiben würde. Ich erinnere nur daran, dass die erste Stasi-Bezirksstelle, die 1989 besetzt wurde, die in Erfurt war.

Sie sind ja auch ein Anwalt für die Stasi-Opfer. Müsste hier noch mehr getan werden?

Jahn: Die Sicht der Opfer ist in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen. Einige Studien aus der jüngsten Zeit zeigen deutlich, dass die Verletzungen der Opfer noch nicht geheilt sind. Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden. Das hat auch gerade erst der eindrucksvolle ARD-Film über das Schicksal der Frauen von Hoheneck, dem größten Frauengefängnis der DDR, gezeigt.

Was muss denn konkret noch getan werden?

Jahn: Es ist schon viel getan worden, aber noch nicht genug. Oft sind es gerade symbolische Dinge, die den Opfern weiterhelfen und ihnen das Gefühl geben, dass ihre Leiden Anerkennung und Respekt finden. Ich erinnere an den Besuch von Bundespräsident Christian Wulff in Hoheneck und sein Treffen mit früheren Inhaftierten. Man sollte auch darüber nachdenken, ob man nicht die Urkunden zur Rehabilitation von SED-Opfern in einem Festakt verleiht statt sie einfach nur mit der Post den Betroffenen zuzuschicken.

Die ersten Monate Ihrer Amtszeit sind in der öffentlichen Wahrnehmung von der Problematik der 45 Stasi-Mitarbeiter in Ihrer Behörde überschattet worden. Welches sind die wichtigsten Ziele, die Sie jetzt in Ihrer Behörde umsetzen wollen?

Jahn: Wir sind zunächst einmal ein Dienstleister für die Gesellschaft. Die Wartezeiten auf Akteneinsicht sind viel zu lang, die müssen verkürzt werden. Die Personalkapazitäten, um dieses Ziel zu erreichen, müssen geschaffen werden. Wichtig für unsere Arbeit ist auch, neue Wege zu finden, um noch stärker an die junge Generation heranzukommen.

Wie wollen Sie das machen?

Jahn: Es geht darum, authentische Orte zu schaffen, an denen junge Menschen authentisch erfahren können, was Stasi bedeutet hat. Dazu gehört, dass wir unser Dokumentationszentrum in der Stasi-Zentrale in Berlin ausbauen und dort eine neue Ausstellung schaffen. Auch müssen wir unsere Präsenz im Internet ausbauen, um auch dort das Thema Stasi zu debattieren und Archivmaterial zugänglich zu machen. Wichtig ist für mich auch die regionale bürgernahe Aufarbeitung des Themas. Das gilt auch für die Arbeit in Thüringen.

Das Interview führten Hartmut Kaczmarek und Elmar Otto