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"Sind die Demos heute wie die von 1989, Herr Jahn?"

Herr Jahn, wir befinden uns hier in der einstigen Stasi- Zentrale in Berlin- Lichtenberg. Hinter uns das Gebäude mit dem Büro von Erich Mielke. Sie sind 1983 als oppositioneller Geist gewaltsam aus der DDR geworfen worden. Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf, wenn wir hier stehen?

Roland Jahn: Wenn man hier am Ort der Schreibtischtäter ist, dann ist diese beklemmende Atmosphäre noch immer sehr lebendig. Hier sind die menschenverachtenden Befehle unterschrieben worden. Wenn ich am Schreibtisch von Mielke stehe, dann sehe ich ihn förmlich vor mir, wie er damals persönlich meine Ausbürgerung angeordnet und das entsprechende Dokument abgezeichnet hat. So habe ich es in meinen Stasi- Akten lesen können. Bei mir läuft ein Film ab: Wie meine Eltern unter meiner Ausbürgerung gelitten haben, wie man mich meiner Heimat beraubt hat. Aber es kommt auch dieser Gedanke hoch: Es ist vorbei!

Ist es auch ein Gefühl der Genugtuung?

Jahn: Es ist die Freude, dass Menschen es geschafft haben, diese Diktatur zu überwinden. Das ist auch die Botschaft, die täglich hier von diesem Ort ausgeht. Dass Menschen es in einer friedlichen Revolution geschafft haben, das Schwert und Schild der Partei zu zerbrechen, die Staatssicherheit aufzulösen und ihre Akten zugänglich zu machen. Eine Kraftquelle, die wir uns immer wieder bewusst machen sollten.

"Jammern die Ostdeutschen zu viel?" Das war vor einigen Wochen in SUPERillu die Überschrift über meinem Interview mit Wolfgang Thierse. Diese Zuspitzung regte viele Leser auf. Meine Frage: Machen es sich die Ostdeutschen nicht doch zu bequem, wenn sie bald 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer über Brüche in ihrer Biografie und ungleiche Chancen klagen?

Jahn: Mir gefällt die Pauschalisierung nicht. Es gibt für mich nicht "die" Ostdeutschen, denn zwischen einem SED-Funktionär und politischen Oppositionellen - und den Millionen Biografien dazwischen - gibt es große Unterschiede. Was mir wichtig ist, ist, dass wir Respekt vor den Biografien der Menschen haben, die in der DDR gelebt haben. Das muss die Grundlage für die Gespräche von heute sein. Und Menschen, die es nach der Revolution nicht geschafft haben, die Freiheit, die unsere demokratische Gesellschaft bietet, zu nutzen, sollte man dazu ermutigen! Wer in der Diktatur gelebt hat, der braucht auch Unterstützung und Zuspruch. Die Achtung vor ihren Lebenswegen ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass die Menschen diese Kraft entwickeln können.

Ostdeutsche müssen Demokratie noch lernen, hieß es recht provokativ in dem Interview. Wie sehen Sie das?

Jahn: Ich denke, dass Demokratie ja nichts Festes, Statisches ist, sondern ein Prozess, der permanent gestaltet werden muss. Deshalb sind wir alle in Deutschland gefordert, diese Demokratie weiterzuentwickeln. Ja, Demokratie hat zwar ihre Schwächen, aber sie zeichnet sich auch durch ihre Korrekturfähigkeit aus.

Dennoch: Gibt es - auch fast 30 Jahre nach dem Ende des Sozialismus - nicht doch einen Nachholbedarf der ostdeutschen Gesellschaft bei demokratischen Prozessen?

Jahn: Das kommt immer auf den einzelnen Menschen an. Noch mal: Es gibt nicht die Ostdeutschen. Manche haben sicher ein Demokratiedefizit, das gibt es auch anderswo. Wenn ich gewisse Parolen auf ostdeutschen Straßen höre, dann bin ich schon erschrocken, dass der Geist der friedlichen Revolution von 1989, das Einsetzen für Menschenrechte, auf der Strecke geblieben scheint. Da höre ich oft ein Lobpreisen von Diktatur, und in dieser Hinsicht sollte man schon verstärkt daran erinnern, was Diktatur eigentlich bedeutet.

Manche verbreiten die These, mit den Aufmärschen von heute müsse die Revolution von 1989 vollendet werden. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen den Demonstrationen von damals und heute?

Jahn: Es gilt zu respektieren, wenn das Demonstrationsrecht wahrgenommen wird. Es ist wichtig, dass sich die Menschen artikulieren, auch auf der Straße. Aber es gilt auch: Wenn jemand zur Gewalt aufruft oder rassistische Positionen verbreitet, dann ist dies nicht mit den Werten der friedlichen Revolution vereinbar, in der es um Freiheit und Bürgerrechte ging. Damals wie heute: Was zählt, sind die Menschenrechte, über den Rest kann man sich streiten.

Und wenn bei solchen Demos der Ruf von 1989 erschallt: "Wir sind das Volk"?

Jahn: Zum Volk gehören alle. Und ich finde, dass jeder durchaus das Recht hat zu sagen, ich bin Teil des Volkes. Und so sehe ich diesen Satz. Aber niemand hat den Alleinvertretungsanspruch zu sagen: Wir sind das Volk - und ihr nicht!

Eine Leserin meint, unsere Presse liefere nur Mainstream und keine halbwegs objektive Berichterstattung. Das steckt ja auch in den Schlagworten von "Lügenpresse" oder "Lückenpresse". Sie sind als junger Mann in der DDR gegen Pressezensur auf die Straße gegangen, haben nach der Ausbürgerung selbst als Journalist gearbeitet. Wie sehen Sie diesen Vorwurf?

Jahn: Dieser Begriff geht an der Sache vorbei. Es ist wichtig, dass wir die Presse kritisch betrachten, dass wir genau hinschauen: Wo haben Journalisten sauber gearbeitet. Dass die journalistischen Grundregeln beachtet werden, dass die verschiedenen Positionen auch in der Berichterstattung deutlich gemacht werden und Fakten überprüfbar sind. Hier ist die Gesellschaft auch gefordert, die Qualität des Journalismus sicherzustellen. Presse muss kritisch hinterfragt werden. Aber wir brauchen keine Beschimpfungen und keine Polarisierung, sondern eine Auseinandersetzung, die an der Sache orientiert ist.

Und wie bewerten Sie die Qualität der heutigen Medien?

Jahn: Auch hier kann ich nur sagen: keine Pauschalisierung! Natürlich gibt es Darstellungen, die an den Fakten vorbeigehen oder in denen manches ausgeblendet wird. Das Ringen um die Beschreibung der Realität ist ein ständiger Prozess, zu dem alle ihren Teil beitragen können. Insofern begrüsse ich die Diskussion. Und es ist ein gutes Beispiel, dass Menschen etwa Leserbriefe schreiben, die auch wahrgenommen werden, wie es SUPERillu hier mit diesem Interview zeigt.

Viele unserer Leser waren auch nicht mit der These aus dem Thierse-Interview einverstanden, dass man in der DDR für sich entscheiden konnte, ob man Stasi-Spitzel werden wollte oder nicht. Was sagen die Akten dazu?

Jahn: Die Stasi-Akten sagen uns, wie das System funktioniert hat und wer welche Verantwortung trug, wenn Unrecht geschehen ist. Die Stasi-Akten zeigen uns aber auch den Freiheitswillen von Menschen, die Nein gesagt und es geschafft haben, sich zu verweigern. Aber auch da gibt es nicht nur Schwarz-Weiß. Mit den Akten können wir auch differenzieren und dafür sorgen, dass Menschen nicht abgestempelt werden, wenn sie sich zum Beispiel als inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet haben. Das Kürzel IM wird oft dazu gebraucht, um Menschen quasi runterzuputzen und als Schweinehunde zu bezeichnen. Da kann ich nur sagen: Wichtig ist, dass wir genau hinschauen, wie und warum sie sich auf den Pakt mit der Stasi eingelassen haben. Und wichtig ist auch, dass wir in einen Dialog mit diesen Menschen treten und nicht nur das von der Stasi beschriebene Papier als Grundlage nehmen.

Damals Nein zu sagen, da gehörte doch Mut dazu?

Jahn: Es gehörte schon eine gewisse Kraft dazu, Nein zu sagen. Wenn man alleine stand, war das ungeheuer schwierig. Menschen, die gute Freunde hatten, denen sie sich anvertrauen konnten, die haben eher eine Chance gehabt, da rauszukommen. Aber keiner sollte sich heute anmaßen zu sagen, er hätte sich damals heldenhaft verhalten. Eine alleinerziehende Mutter, der man drohte, die Kinder wegzunehmen, die hatte doch kaum eine Chance sich zu verweigern. Deshalb Vorsicht vor einfachen Beurteilungen!

Die AfD ruft auf einer Internet-Plattform dazu auf, Lehrer zu benennen, die sich im Unterricht gegen die AfD äußern. Eine Art neue Stasi?

Jahn: Es erschreckt mich, dass hier zu Praktiken aufgerufen wird, von denen ich dachte, dass sie längst vorbei seien! Natürlich ist es wichtig, dass wir in unseren Schulen Neutralität bewahren, was die Parteipolitik betrifft. Es ist aber nicht die Aufgabe einer einzelnen Partei, dafür zu sorgen, weil damit genau die Gefahr besteht, dass das instrumentalisiert wird.

In der DDR waren Lehrer ideologisch gleichgeschaltet. Wie politisch dürfen Lehrer heute sein?

Jahn: Lehrer sollten die Schüler befähigen, teilzuhaben an unserem gesellschaftlichen Diskurs. Sie sollten den Schülern unsere Geschichte und unsere demokratischen Institutionen nahebringen. Und sie sollten die Grundlagen und Werte unserer Gesellschaft vermitteln. Insofern können sie in diesem Sinne also durchaus politisch sein. Es ist aber nicht angebracht, dass ein Lehrer parteipolitisch agiert.

Eine SUPERillu-Leserin schrieb, Rechtsradikalismus habe sich in Ostdeutschland erst nach der Wende ausgebreitet, geschürt von Funktionären rechter Parteien aus dem Westen. Gab es in der DDR keine Rechtsradikalen?

Jahn: Dokumente aus dem Stasi- Unterlagen-Archiv zeigen, dass es Rechtsradikalismus auch in der DDR gab. SED-Staatsführung und Stasi haben immer versucht, das unter der Decke zu halten oder wenigstens den Eindruck zu erwecken, dass solche Entwicklungen aus dem Westen gesteuert seien.

Mehrere Leser beklagen, dass AfD-Wähler pauschal als rechtsradikal hingestellt werden. Wie sehen Sie die AfD?

Jahn: Es ist nicht zu akzeptieren, wenn Ereignisse aus unserer Geschichte,wie der Nationalsozialismus und der Holocaust, verharmlost werden. Und das passiert mir bei der AfD schon zu oft! Es muss ein Konsens unserer demokratischen Gesellschaft sein, dass wir totalitäre Systeme ablehnen. Auf der anderen Seite ist es aber wichtig, dass die AfD-Wähler als Teil unserer demokratischen Gesellschaft akzeptiert werden.

AfD-Chef Alexander Gauland vergleicht Bundeskanzlerin Angela Merkel mit SED-Chef Erich Honecker und bezeichnet die Berliner Bundesregierung abfällig als "Regime"? Wie empfinden Sie persönlich solche Sprüche?

Jahn: Dieses Vokabular ist nicht hilfreich, weil solche Gleichsetzungen dazu führen, dass man nicht mehr in der Sache streitet. Sie zeigen, dass der Andersdenkende missachtet wird. Das gehört einfach nicht in unsere politische Kultur.

Vor diesem Hintergrund gefragt: Ist unsere Demokratie heute in Gefahr?

Jahn: Ich denke, dass unsere Demokratie stark genug ist, diese polemischen Diskussionen zu ertragen. Die Kraft unserer Gesellschaft sind rechtsstaatliche Regeln, die durch unsere Werte von Freiheit und Menschenrechten bestimmt werden.

Es ist Ihr großes Anliegen, das Gelände des einstigen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg weiter in einen "Campus für Demokratie" umzubauen. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Jahn: Mir ist es wichtig, dass wir uns nicht am Leid der Vergangenheit festhalten, sondern nach vorne schauen und die Erfahrungen der Diktatur nutzen, um das eigene Leben heute zu gestalten. So ist es eine große Chance – gerade hier in der einstigen Stasi-Zentrale, gerade auch für junge Menschen –, sich mit Fragen auseinanderzusetzen, die in der Vergangenheit eine Rolle spielten und auch für Gegenwart und Zukunft wichtig sind, wie das Thema Presse- und Meinungsfreiheit oder auch Datenmissbrauch. Mein Leitgedanke ist: Je besser wir Diktatur begreifen, desto besser können wir Demokratie gestalten! Hierher, in die ehemalige Stasi-Zentrale, kommen auch Gruppen aus vielen Ländern, für die dieser Campus für Demokratie ein Hoffnungssignal ist, dass man Diktatur und totalitäre Systeme überwinden kann. Ich denke, das ist gerade jetzt, in dieser Zeit mit den besorgniserregenden, autoritären Entwicklungen in vielen Ländern der Welt, von großer Bedeutung.

Ihr "Campus für Demokratie" richtet sich vor allem auch an Menschen Jahrgang 1989 und jünger. Können diese jungen Leute mit der bewegenden Geschichte der friedlichen Revolution von 1989 überhaupt noch etwas anfangen?

Jahn: Ich denke, sehr wohl. Es sind besonders diese jungen Menschen, die "Enkelgeneration", die die nötige Distanz haben, um herausfordernde Fragen zu stellen. Diese Generation ist es auch, in der man kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West in Deutschland wahrnimmt- ob einer nun aus Brandenburg oder aus Bayern kommt.

Das Interview führte Jochen Wolff.