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"Vergebung kann man nicht verordnen"

Roland Jahn im Interview mit dem Luxemburger Wort, erschienen am 21. Februar 2015

Auf Einladung der parlamentarischen Geheimdienstkontrollkommission war der Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Roland Jahn, diese Woche in Luxemburg. Im Gespräch mit der Journalistin Joelle Merges vom Luxemburger Wort blickt er auf den Fall der Berliner Mauer vor 25 Jahren zurück und erzählt von den Lehren, die aus der Vergangenheit zu ziehen sind.

Herr Jahn, als Bundespräsident Joachim Gauck vor einigen Monaten in Luxemburg war, wurde er von Schülern gefragt, wieso die Revolution in der DDR damals friedlich gelang, während sie andernorts, etwa beim Arabischen Frühling, häufig in Gewalt mündet. Was ist Ihre Erklärung?

Jahn: Die Bürgerbewegung ist von vorneherein mit der Losung "keine Gewalt" angetreten; in einer Situation, in der die DDR als System sich bereits im politischen und wirtschaftlichen Zerfallsprozess befand. Dieses System hat lange Jahre funktioniert, obwohl viele dagegen waren. Aber die Menschen haben sich innerhalb des Systems angepasst, unter Bedingungen, die durch Schießbefehl und sowjetische Militärpräsenz grob umrissen sind. Es kamen dann viele Faktoren zusammen, die diese Revolution begünstigt haben: Da waren die politischen Rahmenbedingungen mit den Entwicklungen in der Sowjetunion; die Menschen hatten nicht mehr die Angst wie noch 1953 oder 1968, dass sowjetische Panzer alles niederwalzen. Es gab in Osteuropa eine Bewegung wie Solidarnosc, die Hoffnung auf Veränderung ausstrahlte. Es gab die Ausreisebewegung über Ungarn in Richtung Westen, die ein Ausbluten der DDR bedeutet hat. Fast jede ostdeutsche Familie war davon betroffen, so dass auch die Parteifunktionäre den Glauben an das System verloren. Dieser Zerfallsprozess hat sich dermaßen fortgesetzt, dass der Staat am Ende wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Die Proteste auf der Straße waren dann der Punkt, der das Kartenhaus zusammenstürzen ließ. Dass so viele Menschen auf die Straße gingen, hat mit den bereits erwähnten Faktoren zu tun. Die Menschen hatten die Angst überwunden.

Sie werfen häufig die Frage auf, wieso das Regime sich so lange halten konnte. Wegen der Angst?

Jahn: Die Angst hat die Menschen lange Jahre beherrscht, sie mussten sich dieser Angst zuerst bewusst werden und sie dann überwinden. Das hatten sie im Herbst 1989 geschafft, weil viele Faktoren dies möglich gemacht haben. Aber es gehörte auch Mut dazu, genau zu diesem Zeitpunkt auf die Straße zu gehen und damit wieder anderen Mut zu machen, die die Angst noch nicht überwunden hatten.

25 Jahre nach der Besetzung der Stasi-Zentrale in Berlin: Worin besteht die Arbeit Ihrer Behörde heute?

Jahn: Hat sich die Aufgabe gewandelt im Lauf der Zeit? Das Stasi-Unterlagenarchiv ist entstanden aus der Friedlichen Revolution. Erstmals auf der Welt wurden die Akten einer Geheimpolizei gesichert und der Gesellschaft zur Verfügung gestellt. Die Menschen wollten die Aktenvernichtung stoppen, sie wollten dafür Sorge tragen, dass die Dokumente des begangenen Unrechts erhalten bleiben und die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden. Und sie wollten Aufklärung über das Unrecht. Das ist gelungen, indem ein Stasi-Unterlagen-Gesetz geschaffen wurde, das die Grundlage unserer Arbeit ist. Bislang wurden über drei Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt; auch jetzt erfolgen noch pro Monat über 5.000 Anträge. Der Bedarf nach persönlicher Akteneinsicht ist also nach wie vor da, wenn auch nicht mehr ganz so groß wie in der Anfangszeit.

Wer sind die Menschen, die heute einen Antrag stellen?

Jahn: Es sind Menschen, die älter geworden sind, die sich im Rentenalter Zeit nehmen, ihr Schicksal zu ordnen, die sich in der Anfangsphase nicht trauten, weil sie Angst hatten, dass die Informationen sie zu sehr aufwühlen. Heute sind sie da gelassener, abgeklärter. Manche wollen auch in die Akten schauen, weil ihre Kinder oder Enkelkinder sie nach der Zeit damals befragen. Ein Blick in die Akten hilft, sich zu erinnern. Wichtig ist dabei der Dialog zwischen den Generationen, der in einer ganz besonderen Art stattfindet, weil die Kinder, die oft nach dem Ende der DDR geboren sind, das Alter erreicht haben, in dem sie Fragen stellen. Das merke ich besonders bei Besuchen an Schulen, wo ich oft stellvertretend die Fragen gestellt bekomme, die sich an die ältere Generation richten.

Das Interesse der Jüngeren an der DDR ist also durchaus vorhanden?

Jahn: Das Interesse an der DDR ist natürlich bei den Zeitzeugen von damals da, auch aus emotionaler Betroffenheit heraus; neu ist das Interesse der jüngeren Generation, die zunehmend Fragen stellt an ihre Eltern und Großeltern. Die Stasi-Akten helfen, Antworten zu bekommen: Wie hat die Stasi gearbeitet, wie waren die Herrschaftsmechanismen der DDR, wie war dieses Land organisiert und was gab es auch Schönes in diesem Land? Die Jugendlichen wollen sich ihr eigenes Bild machen. Unsere Aufgabe ist es, den Jugendlichen Informationen zur Verfügung zu stellen, damit sie gute Fragen stellen können.

Die Meldungen, wonach viele Jugendliche nicht mehr wissen, wer Honecker war, stimmen also nicht?

Jahn: Doch, auch das stimmt, aber genauso gibt es die Jungen, die neugierig sind und es wissen wollen. Man sollte sich nicht über unwissende Jugendliche aufregen; wir sind aufgefordert, ihnen Angebote zu machen, damit sie in der Lage sind, Antworten auf ihre Fragen zu finden.

Sie empfangen auch Besucher aus Diktaturen, die sich über den Umgang mit dem Erbe einer Geheimpolizei informieren. Was sagen Sie Ihren Gästen?

Jahn: Wir empfangen sehr viele Besucher am historischen Ort des Stasi-Archivs, wo die Akten gesammelt wurden, wo also der Ort der Schreibtischtäter war, die das Unrecht organisiert haben. Die Gäste wollen im Detail wissen, wie die Diktatur funktioniert hat, aber auch, wie sie überwunden wurde. Wir berichten dann von unserer Erfahrung mit der Offenlegung der Akten; wir sagen ihnen nicht, wie sie es machen sollen. Das müssen sie für sich entscheiden, wie sie mit den Bedingungen in ihren Ländern umgehen. Ich gebe den Besuchern immer die Empfehlung mit auf den Weg, die Akten zu sichern. Wenn man die Spuren nicht sichert, wird man nicht aufklären können. Das ist wie bei jedem Kriminalfall. Spurensicherung ist Grundlage für Aufklärung. Und Aufklärung ist Grundlage für Demokratie. Es ist wichtig, Archive zu nutzen.

War es 1990 selbstverständlich, dass die Akten erhalten und zugänglich gemacht werden?

Jahn: Nein, es gab lange Diskussionen. Viele Menschen wollten die Akten vernichten; in der Bundesrepublik waren etwa Bundeskanzler Kohl und Innenminister Schäuble gegen die Nutzung der Akten. Sie enthielten menschenrechtswidrig gesammelte Informationen, die auch dazu geeignet waren, Zwietracht zu säen. Deswegen war es wichtig, sie mit einer konkreten Zielsetzung zu bewahren und zu nutzen. Im September 1990 haben Bürgerrechtler mit der Besetzung des Archivs dafür gesorgt, dass in den Einigungsvertrag ein Passus aufgenommen wurde, der die Sicherung des Archivs und die Öffnung der Akten gewährleistet. Das war sozusagen die Geburtsstunde des Stasi-Unterlagen-Archivs, das Joachim Gauck dann mit einem kleinen Stab aufgebaut und über zehn Jahre geleitet hat, und das wir bis heute nutzen. Erst nach einem intensiven Prozess wurden also die Voraussetzungen zur Nutzung geschaffen. Es hat gut ein Jahr gedauert, bis ein Gesetz verabschiedet wurde, das die rechtliche Grundlage zur Aktennutzung legte; das einerseits Transparenz über das Funktionieren des Staatsapparats schafft, andererseits aber die Grundrechte der Menschen und ihre Persönlichkeitsrechte schützt. Das ist konsequent rechtsstaatlich geregelt, denn in diesen Unterlagen ist ja vielfach der Eingriff in die Grundrechte von Menschen dokumentiert. Das durfte nicht fortgesetzt werden.

Verstehen Sie Menschen, die heute sagen, jetzt ist aber auch mal gut mit der Vergangenheitsbewältigung?

Jahn: Jeder hat das Recht zu sagen, ich will davon nichts wissen, das kann ich im Einzelfalle verstehen. Aber die Gesellschaft hat eine Verantwortung zur Aufklärung, sie hat die Verpflichtung, jedem die Möglichkeit zu geben, sich zu informieren, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und es gilt immer auch noch, Konflikte aus der Vergangenheit aufzuarbeiten. Für viele Menschen ist es nach wie vor wichtig, die Konflikte von damals zu bereinigen. Sowohl die Aufarbeitung wie auch die Aufklärung sind noch im Gange.

Sie bedauern gelegentlich, dass sich die Aufarbeitung vor allem auf die Stasi fixiert; die Frage aber, wie das SED-System an sich funktioniert hat, sei bislang wenig untersucht. Woran liegt's?

Jahn: Das liegt an der Gesellschaft insgesamt, die zunächst das Geheime, das Verborgene, das was unter der Decke war, offen legen wollte. Und das war die Stasi und ihre inoffiziellen Mitarbeiter. Auch die Medien interessieren sich ja zunächst einmal dafür, Enthüllungen auf den Tisch zu legen. Natürlich spielt dabei auch das uralte Thema des Verrats eine Rolle, der als etwas ganz besonders Perfides wahrgenommen wird. Für viele war aber auch die Fixierung auf die Staatssicherheit eine Entlastung; sie mussten sich nicht selbst fragen, was habe ich mit dem Unrechtssystem zu tun gehabt. Es war die frohe Botschaft, andere – die Mitarbeiter der Stasi – sind daran schuld. Die Frage nach der individuellen Verantwortung trat damit in den Hintergrund. Es war immer wieder die Verantwortung der Stasi-Mitarbeiter, die im Mittelpunkt stand. Aber die Diktatur in der DDR war keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur, in der viele mitgemacht haben. Nur wenn die individuelle Verantwortung der einzelnen Menschen, gerade auch derjenigen, die nicht für die Stasi gearbeitet haben, stärker in den Mittelpunkt rückt, werden wir besser verstehen, wie dieses System funktioniert hat.

Das heißt, dieses Verstehen ist noch nicht vonstattengegangen?

Jahn: Wir sind mitten drin. Wir haben die Chance, nicht mit Schuldvorwürfen in die Gespräche zu gehen, sondern die Menschen dafür zu gewinnen, offen über die Vergangenheit zu reden.

Ihr jüngstes Buch heißt "Wir Angepassten", was für Sie kein Schimpfwort ist.

Jahn: Jeder hat das Recht, sich anzupassen, keiner ist verpflichtet, sich gegen die Diktatur aufzulehnen, jeder soll für sich den Weg finden, wie er in der Diktatur überlebt. Ich wollte die Menschen einladen zu erzählen, warum sie sich auf das System eingelassen haben, wie sie täglich, wie ich auch, hin- und hergerissen waren zwischen Anpassung und Widerspruch. Viele Menschen hatten gute Gründe, sich gegen den Widerspruch zu entscheiden, weil sie zum Beispiel Nachteile für sich persönlich, aber auch für die eigene Familie befürchten mussten. Das muss man berücksichtigen, man kann nicht einen absoluten Maßstab erheben, wie man sich in einer Diktatur zu verhalten hat. Es ist wichtig, jeden Einzelfall genau zu betrachten.

Verstehen Sie die Menschen in Ostdeutschland, die Die Linke wählen?

Jahn: Das ist Freiheit und Demokratie, dass Menschen frei entscheiden, wen sie wählen. Das muss man respektieren. Ich denke aber, dass die Opfer des SED-Regimes es oft als Verletzung empfinden. Die Linkspartei hat nicht glaubhaft ihre Vergangenheit als SED-Nachfolgepartei aufgearbeitet; deshalb ist es nachvollziehbar, dass die Opfer einen linken Ministerpräsidenten als Hohn empfinden. Die Linke ist daher weiter gefordert, auf die Opfer zuzugehen, denn Vergebung kann man nicht verordnen, es muss ein glaubhafter
Prozess sein.

Wieso ist es so schwierig für viele Ostdeutsche, zuzugeben, dass die DDR ein Unrechtsstaat war?

Jahn: Die Linke hat es geschickt vermocht, den Menschen im Osten das Gefühl zu geben, dass der Begriff "Unrechtsstaat" ihre Lebensleistung in Misskredit zieht. Das ist aber nicht der Fall. Viele Menschen haben versucht, unter den Bedingungen der Diktatur zurechtzukommen, jeden Tag arbeiten zu gehen, jeden Tag etwas zu schaffen, was ihnen etwas wert war. Sie haben nicht daran gedacht, dass das auch für eine Ideologie ausgenutzt werden kann. Meine eigenen Eltern waren nicht in der Partei, trotzdem haben sie täglich im sozialistischen Wettbewerb der Betriebe mitgewirkt, weil sie auch eine Achtung vor sich selbst haben wollten. Die Leistung solcher Menschen muss man respektieren, und trotzdem muss sich jeder die Frage stellen, wie habe ich den Unrechtsstaat mit meinem Verhalten gestützt?

Was geht Ihnen als Bürgerrechtler und Verwalter von Millionen von Stasi-Akten durch den Kopf, wenn Sie von der Sammelwut amerikanischer Geheimdienste lesen? Sie verwehren sich gegen eine Gleichsetzung von Stasi und NSA.

Jahn: Der Blick auf die Vergangenheit gibt uns die Chance, unsere Sinne zu schärfen, um mögliche Grundrechtsverletzungen hier und heute zu erkennen. Die Geheimpolizei der DDR hatte als Ziel, die Macht einer Partei zu sichern mit gezielten Menschenrechtsverletzungen. Die Geheimdienste einer Demokratie sollen die Menschenrechte schützen. Die Instrumente der Demokratie müssen sicherstellen, dass die Geheimdienste sich nicht verselbstständigen und dass eine demokratische Kontrolle garantiert ist. Wenn die Geheimdienste außer Kontrolle geraten, dann ist die Demokratie in Gefahr.

Verfügen die Parlamente über genügend Mittel, um diese Kontrolle wahrzunehmen?

Jahn: Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das nicht der Fall ist. Deswegen sind die Gesellschaften aufgefordert, dieses Problem zu lösen. Es ist ein Prüfstein für unsere Demokratie, ob wir die Probleme in den Griff bekommen oder nicht. Im Zweifelsfall gäbe es die Möglichkeit, die Nachrichtendienste einfach abzuschaffen, indem man ihnen die gesetzliche Grundlage entzieht und keine finanziellen Mittel mehr zur Verfügung stellt. Das muss sich jede Demokratie aber genau überlegen, denn Geheimdienste sind zu ihrem Schutz da, und niemand will wehrlos sein. Entscheidend ist aber, dass sichergestellt ist, dass die Geheimdienste uns schützen und nicht gefährden.

25 Jahre nach dem Mauerfall gehen in Ostdeutschland wieder Menschen auf die Straße mit dem Anspruch "Wir sind das Volk". Wie erklären Sie das Phänomen Pegida, die Angst vor Überfremdung in Teilen Deutschlands, in denen es kaum Ausländer gibt?

Jahn: Für das Demonstrationsrecht haben die Menschen ja damals gekämpft, für die Freiheit, jede Meinung zu äußern. Mir ist wichtig, dass auch die Grundrechte jener geachtet werden, gegen die da demonstriert wird, also das Recht auf Religionsfreiheit oder das Recht auf Asyl. Das scheint bei den Forderungen nicht immer der Fall zu sein. Aus meiner Sicht wirkt da teilweise die fehlende Weltoffenheit der ehemaligen DDR nach, die in den Elternhäusern auch an die jüngere Generation überliefert wurde. Die Erfahrung von damals war ja auch, dass man damit etwas bewirken kann. Wichtig ist jedoch, dass die Gesellschaft sich diesem Phänomen stellt und den Dialog sucht.

Ist 25 Jahre nach der Einheit zusammengewachsen, was zusammengehört?

Jahn: Wenn ich erlebe, dass die Studenten in meiner Heimatstadt Jena nicht mehr sagen, sie kommen aus dem Osten oder Westen, sondern aus Brandenburg oder Bayern, dann sehe ich, dass die Einheit gelebt wird. Das stimmt mich optimistisch. Natürlich sind 40 Jahre gelebte Trennung nach wie vor Teil der Biografien der Menschen. Das soll auch nicht geleugnet werden. Mein Motto ist, aus dem Negativen das Positive ziehen. Gerade die Erfahrung aus der Diktatur sollte man nutzen, indem man sie positiv ummünzt als Kraftquelle für hier und heute. Dieses Signal, das vom Mauerfall ausging, das Unmögliche möglich zu machen, wenn die Menschen es anpacken, wirkt über Generationen hinaus.